„Spiegel“-Redakteur Volker Weidermann hat ein Buch über die Münchner Räterepublik geschrieben. Hannes Stein hat es gelesen und ist begeistert.

Natürlich waren sie Spinner. Allesamt. Kurt Eisner, Gustav Landauer, Ernst Toller – alles Spinner. Aber es gab ein paar Tage in einem November vor bald hundert Jahren, da kamen diese Spinner in München an die Macht. Die Wittelsbacher flohen, Bayern wurde zum Freistaat. Und ein Jahr später riefen ausgerechnet in diesem stockkatholischen Bauernland ein paar Literaten, von denen die meisten auch noch Juden waren, die Räterepublik aus. Das Resultat war komisch, grotesk, erhaben, lächerlich, wunderbar, grauenhaft; am Schluss stand die völlig erwartbare Katastrophe, das Scheitern, das Blutbad.

Volker Weidermann, der Literaturredakteur des „Spiegel“, hat diese Geschichte so lebendig erzählt, wie ich sie noch nirgendwo, bei niemandem, gelesen habe; ich habe die 284 Seiten seines Buches auf einen Rutsch gelesen. Warum mich diese Geschichte so interessiert? Vielleicht, weil ich in München geboren bin. Keine Ahnung. (Full disclosure: Weidermanns Buch ist bei „Kiepenheuer und Witsch“ erschienen. Ich bin Autor bei „Galiani“, einem Imprint von „Kiepenheuer und Witsch“. Weidermann et moi sind einander nie begegnet. Für dieses Buch hat er aber ein Pastrami-Sandwich bei mir gut.)

Der Cicerone des Buches ist Oskar Maria Graf, dessen Buch „Wir sind Gefangene“ ich schon vor vielen Jahrzehnten, als halber Teenager, mit großer Anteilsnahme gelesen habe. Ein bayerisches Urviech, ein großer dicker Bäckerssohn in der Krachledernen, dessen Herz aber seltsamerweise immer links schlug und der – ebenso seltsam – vollkommen frei war von allem Antisemitismus. Er bewegt sich durch die Szenerie wie ein Träumer, besäuft sich, schreit revolutionäre Parolen, überlebt am Schluss mit traumwandlerischer Sicherheit auch den konterrevolutionären, den weißen Terror und hat hinterher alles, was ihm geschah, aufgeschrieben.

In respektvoller Abscheu

Zu den personae dramatis gehört auch Thomas Mann, den Weidermann mit respektvoller Abscheu betrachtet. Mir war gar nicht klar, dass er zur Zeit der Räterepublik in München war. Er hatte gerade die (reaktionären) „Betrachtungen eines Unpolitischen“ verfasst und betrachtete die Räterepublik am Anfang mit Sympathie, weil er hoffte, sie würde so etwas wie ein antiwestliches Bollwerk bilden. Als das nicht passierte, verwandelte sich seine Sympathie in Gegnerschaft. Von Volker Weidermann habe ich gelernt, den „Zauberberg“, den Thomas Mann just in jener Zeit zu schreiben begann, als einen Schlüsselroman über die Münchner Räterepublik zu lesen.

Am Rande kommt dann auch noch ein gewisser Hitler, Adolf, vor. Später hat er versucht, seine Spuren zu verwischen, in Wahrheit dürfte er zu den Sympathisanten der Räterepublik gehört haben. Völkischer Antisemit wurde er erst später, als die Räterepublik gefallen war.

Die Hauptfiguren des historischen Stücks: Kurt Eisner, der zu seinem eigenen Erstaunen plötzlich bayerischer Ministerpräsident wurde. Als ein Rechtsradikaler (der seinen Volksgenossen beweisen wollte, dass seine jüdische Mutter ihm nichts bedeutete) Eisner abknallte, machte er ihn zum Märtyrer – und die Mini-Revolution begann im vollen Ernst. Dann war da noch der grundsympathische Ernst Toller, ein Mann, der am Ende des revolutionären Abenteuers gegen seinen Willen zum Helden der roten Truppen wurde, aber eigentlich immer nur eines wollte: keine Gewalt. Und Gustav Landauer, der sanfte Anarchist und Walt-Whitman-Fan, dessen wichtigste Regierungsmaßnahmen sich darin erschöpften, dass er die Hausaufgaben abschaffte; am Ende wurde er totgeprügelt wie ein Hund. Schließlich war da noch Silvio Gesell, ein anarchistischer Ökonom, der ein Geld erfand, das, während es zirkuliert, verfault, also an Wert verliert.

Volker Weidermann hat kein rot getünchtes Propagandabuch geschrieben. Es ist klar, dass die Protagonisten der Räterepublik in Wahrheit keine Ahnung hatten, was sie da eigentlich verwirklichen wollten – ein Mangel, der in rebus politicis eher misslich ist. Und Weidermann schildert schonungslos, dass jene russischen Juden und Lenin-Freunde, die am Schluss die Macht in München übernahmen, brutale Gesellen waren. (Allerdings übertrafen die Freikorps, die dann einmarschierten und furchtbare Rache übten, sie an Brutalität locker um das Zehnfache.) Dennoch ist Volker Weidermann jenen linken Spinnern, die damals in Bayern durch einen irren historischen Zufall an die Macht gespült wurden, von Herzen zugetan. Recht so! Über Ernst Toller, der sich 1939 – einsam und verzweifelt – in einem New Yorker Hotel erhängte, schreibt Weidermann: „Er hatte an das Gute geglaubt wie verrückt. Und er hatte gegen alle Vergeblichkeit recht. Diese Geschichte ist nur falsch ausgegangen. Sie ist aber noch längst nicht zu Ende. Müdigkeit ist keine Option.“


Volker Weidermann
Träumer. Als die Dichter die Macht übernahmen
Kiepenheuer und Witsch, Köln. 288 Seiten, 22 Euro.