Der 2007 verstorbene amerikanische Philosoph Richard Rorty preist das emanzipatorische Potential des Pragmatismus: Sein posthum erschienenes Buch ist ein Ideengeber auch für heute.

Das Wort Pragmatismus hat im Deutschen nicht unbedingt den besten Klang; es evoziert etwas Kühles, Kalkulierendes, vor allem aber „Prinzipienloses“. Nicht ganz unschuldig daran ist indessen auch jene Heerschar selbsternannter „Pragmatiker“, die in arroganten Talkshow-Auftritten seit Jahr und Tag Menschenrechte und Moral als eine Art „Gedöns“ abtut, das in der „Realpolitik“ nichts zu suchen habe.

Wie aber geht Philosophie mit Pragmatismus um? In den Vereinigten Staaten existiert seit langem eine geisteswissenschaftliche Strömung, die sich auf diesen bezieht. Ihre „Urväter“ waren William James (1842-1910; sein jüngerer Bruder war der Romancier Henry James) sowie John Dewey (1859-1952). Beide sollte man sich jedoch nicht etwa als Zyniker, sondern als illusionslose Menschenfreunde vorstellen, die – „ganz pragmatisch“ – nach den (Alltags-)Konsequenzen des Denkens fragten und dieses vor allem im Zusammenhang sahen mit einer Humanisierung des Einzelnen und der Gesellschaft.

Auf der Suche nach einer „zweiten Aufklärung“

Vor allem auf diese zwei leider in Deutschland kaum bekannten Denker bezieht sich der 2007 verstorbene, auch diesseits des Atlantik berühmte Philosoph Richard Rorty. Bekennender Pragmatist aus dem Geist sozialer und ethischer Verantwortlichkeit auch er, hatte er im Jahre 1997 eine vielbeachtete Vortragsreihe an der Universität Girona gehalten, die nun endlich auch in deutscher Übersetzung als Buch vorliegt: „Pragmatismus als Antiautoritarismus“.

Welchen Autoritäten aber sollte sich ein solcherart als emanzipatorisch verstandener Pragmatismus verweigern? Vor allem jenen, sagt Rorty und führt diesen Gedanken in Variationen immer wieder faszinierend neu aus, welche die Aufklärung quasi „übriggelassen“ hat. Nachdem Kirche und Gott ihre dominierende Rolle verloren hatten, sei, so Rorty, stattdessen ein „moralisches Gesetz“ à la Kant zum Unhinterfragbaren geworden, flankiert von Begriffen wie „Vernunft“ und „Wirklichkeit“: „Das setzt die Existenz von etwas Nichtrelationalem voraus, von etwas, das weder den Wechselfällen der Zeit und der Geschichte ausgesetzt ist noch von sich ändernden menschlichen Interessen berührt wird… Ich möchte deshalb darauf dringen, dass es nötig sein wird, den Liberalismus der Aufklärung vom Rationalismus der Aufklärung zu trennen.“

Was jedoch das pure Gegenteil abstrakter Begriffshuberei ist, denn: „Die Philosophen wollen schon seit langem Begriffe verstehen, doch eigentlich kommt es darauf an, sie so zu verändern, dass sie unseren Zwecken besser dienen.“

Konkrete Empathie statt Essentialismus

In sympathischer Robustheit macht Richard Rorty alsdann deutlich, was denn „unsere Zwecke“ seien: Das konkrete, unermüdliche Hinarbeiten auf eine sozial gerechtere und inklusivere Gesellschaft, in der es nicht um „die Höhe oder Tiefe von Metaphern“ geht, sondern um eine Ausweitung humaner Vorstellungskraft. Anstatt sich den Kopf über das vermeintlich unwandelbare innere Wesen des „Wahren, Guten oder Richtigen“ zu vergrübeln, sollte die intellektuelle Energie besser dafür genutzt werden, politische und ökonomische Strukturen menschenfreundlicher zu gestalten und dem Gift der Exklusion etwas entgegen zu setzen: Ob in ethnisch geteilten bosnischen Dörfern, in einem von Weißen und Afroamerikanern bevölkerten Städtchen in Alabama oder in Bezug auf das Verhältnis zwischen Hetero- und Homosexuellen.

Geht es wirklich so ganz ohne Universalismus?

Da jedoch Menschenschinder, Diktatoren und Rassisten ebenfalls – und aus ihrer Machtperspektive durchaus zurecht – die Behauptung aufstellen könnten, im Sinne der „Vernunft“ zu agieren, solle man sich hier gar nicht erst auf haarspalterische Debatten über das „Allgemeine“ oder das „eigentliche Wesen des Menschen“ einlassen, ja noch nicht einmal auf die Jürgen Habermas‘sche Utopie des „herrschaftsfreien Kommunizierens“, sondern: „ Ich bin, wie mir scheint, genauso provinziell und kontextgebunden wie die nationalsozialistischen Lehrer, die ihre Schüler den ‚Stürmer‘ lesen ließen. Der einzige Unterschied liegt darin, dass ich einer besseren Sache diene. Ich stamme aus einer besseren Provinz.“

So erfrischend dieser – wenn man so sagen darf – im besten Sinn erz-amerikanische Elan auch wirkt, die Frage sei dennoch erlaubt, ob solcher Verzicht auf Universalisierung wirklich in jedem Fall trägt. Ob er – in der Sprache der „Pragmatisten“ – tatsächlich stets „effizienter“ und nachhaltiger ist als der Rekurs aufs allgemeine Menschenrecht. Die Antworten – am besten im Plural – stehen dafür noch aus. Fest steht jedoch schon einmal dies: Richard Rortys posthum erschienenes Pragmatismus-Buch ist eines der großen Ideengeber und Handlungsinspirationen unserer Zeit.


Richard Rorty: Pragmatismus als Antiautoritarismus. Aus dem Englischen von Joachim Schulte. Suhrkamp Verlag, Berlin 2023, 454 S., geb., Euro 34,-