In der Ukraine herrscht Krieg. Doch in Deutschland ist der Friede in aller Munde. Aber was bedeutet das eigentlich? Welche Motive haben die Friedensstifter? Zeit, genau hinzuschauen.

Eines der größten und zugleich dunkelsten Geheimnisse der Menschheit ist der Glaube, man könne aus dem Koran, der Bibel, dem Tanach, den Lehren des Siddharta Gautama oder des Bab Antworten auf aktuelle politische oder gesellschaftliche Fragen bekommen. Was das bedeutet, das erleben Menschen tagtäglich, die beispielsweise unter der Herrschaft von Islamisten leben, die ihre Herrschaft und die Unterdrückung der Frau mit bestimmten Suren des Koran legitimieren. Und wie heftig schütteln wir alle berechtigterweise mit dem Kopf, wenn bestimmte amerikanische Politiker ihre reaktionäre Politik mit Versen aus dem Alten Testament begründen. Aber in Deutschland – das denken Sie vielleicht gerade –, in Deutschland gibt es so etwas natürlich nicht. Sind Sie sicher?

VERGEBEN, BETEN, LIEBEN

Zur Zeit vergeht mal wieder kaum ein Tag, am dem die Medien einer bestimmten protestantischen Theologin aus Niedersachsen das Mikrophon nicht hinhalten, damit sie ihre Forderung wiederholen kann, es dürften keine Waffen an die Ukraine geliefert werden, weil dies den Krieg nur verlängere. Stattdessen müsse man in Verhandlungen einen für alle „gesichtswahrenden“ Kompromiss finden. Interessanterweise begründet sie ihre Haltung auch mit der Bergpredigt aus dem Matthäus-Evangelium. Doch niemand, einfach niemand stellte bislang die Plausibilität dieses Argumentationsmusters in Frage. Vielleicht denkt man: Je älter der Käse, desto glaubwürdiger muss er sein.

Tatsächlich ist die Theologin nicht die erste und die einzige, die derart argumentiert. Schon bei der westdeutschen Friedensbewegung Anfang der achtziger Jahre bildete die Bergpredigt ein spirituelles wie politisches Fundament für die Ablehnung der NATO-Nachrüstung. Der Überlieferung nach hatte Jesus gesagt: „Selig die Friedensstifter! Sie werden Kinder Gottes genannt werden.“ „Leistet dem Bösen keinen Widerstand, sondern wenn dich jemand auf die rechte Wange schlägt, so halte ihm auch die andere hin.“ „Liebt eure Feinde, und betet für die, die euch verfolgen!“

Bücher, die sich auf diese Botschaften beriefen und daraus einen Imperativ für ein pazifistisches Deutschland zogen, wurden Bestseller. Man wundert sich heute noch bzw. wieder, denn Jesus entwirft in seiner Vision ein Reich, das einfach nicht von dieser Welt ist, wenn er fordert: „Seid also vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist.“ Wie soll das funktionieren? Der theologische, vor allem protestantische Friedensbegriff ist ein menschenunmöglicher, ein eschatologischer. In diesem Reich mögen die Wölfe bei den Lämmern ruhen. Aber das hat mit Politik, mit unserer Lebenswelt, mit der Realität nichts, aber auch gar nichts zu tun. 

Für all das Vergeben, Beten und Lieben muss man nämlich zuallererst – überleben. Und man will ja nicht nur selbst überleben, es soll ja auch die Familie leben, der Nachbar, das Volk. Für das Vergeben, das Beten und Lieben braucht es Frieden. Und der muss erkämpft werden. Sonst herrschen das Böse und der Tod. Zu dieser Reihenfolge gibt es keine Alternative. Das müsste man erkennen können. Es sei denn, man hat einen Balken im Auge. 

Und es hat außerdem Chuzpe: Während man in den achtziger Jahren wenigstens noch die eigenen westdeutschen Wangen dem Warschauer Pakt hinhalten musste, wenn man Jesu Pfad folgen wollte, verlangt man es heute bloß von den Ukrainern: Sie sollen sich selig fühlen, wenn sie die Waffen niederlegen und keinen Widerstand gegen die massakrierenden, marodierenden und folternden Wagner-Söldner leisten; sie sollen ihren Feind lieben, der ihnen die Kinder tötet oder verschleppt und russifiziert. Währenddessen hält man selbst bundesweit seine protestantischen Friedenskonferenzen ab und bricht im Stuhlkreis eine Lanze für die eigene Gewaltlosigkeit.

Es gibt eine bemerkenswerte Konstante aus den achtziger Jahren bis in die Gegenwart: Die NATO-Nachrüstung, für die sich der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt starkgemacht hatte, war vor allem eine Reaktion auf die sowjetischen SS20-Mittelstreckenraketen. Durch die Nachrüstung mit Pershing 2 und Cruise Missiles sollte ein Gleichgewicht des Schreckens erzielt werden und letztlich zu einer Abrüstung führen. (So geschah es letztlich auch.) Tatsächlich war die vorgesehene atomare Hochrüstung in Mitteleuropa und besonders in Deutschland wegen der schieren Masse und der kurzen Vorwarnzeit aber nicht ohne Risiko. Darauf wies die Friedensbewegung damals hin. Die ganze Friedensbewegung? Nein. Alte Bekannte aus dem linken Lager unternahmen alles, um zu verhindern, dass die sowjetische Aufrüstung in Appellen und Manifesten auch nur erwähnt und in die Forderungen nach Abrüstung einbezogen wurde. (Sie konnten meist überstimmt werden.) Das ähnelt doch sehr wieder dem von Sarah Wagenknecht und Alice Schwarzer angeführten Friedensmanifestkreis, der raffiniert einen Schleier um die russische Verantwortung für den Krieg in der Ukraine legt.

DAS WIESELWORT

Der Zugang zu den Herzen der fünfhunderttausend Deutschen, die die Petition von Wagenknecht und Schwarzer unterschrieben haben und Waffenlieferungen an die Ukraine ablehnen und Verhandlungen herbeisehnen, war nicht schwer zu ergattern, es brauchte nur einen simplen Schlüssel, ein Sesam-öffne-dich, ein Wort, das nichts kostet – es heißt: Frieden. Das Bekenntnis „Ich will Frieden“ kann einfach jeder unterschreiben. Mit so einem Satz ist man immer in einer Gewinner-Situation, fühlt man sich gut und besser, gehört einem der Rückhalt auch derjenigen, die sonst die Straße meiden. Allein, das Wort Frieden ist kein Zauberwort, kein Simsalabim, es hat, ausgesprochen, noch nie Frieden geschaffen. Es ist ein Wunschwort, das Voraussetzungen braucht, Bedingungen, die geschaffen werden müssen. Der Frieden des Opfers, das die Waffen einfach niederlegt, den Widerstand gegen den Aggressor aufgibt, besteht aus Tod, Freiheits- und Landverlust, ein Leben auf Knien und in Folterkellern. Wissen alle die, die nach solch einem Frieden rufen, einem bedingungslosen Frieden, was sie da fordern? Man kann sich an der Forderung, das Töten möge aufhören und Frieden einkehren, gewiss berauschen wie an einem Wein aus bester Lage. Aber in Wirklichkeit ist solch ein Frieden  auch ein Wieselwort, eine leere Schale, aus dem jeder Inhalt und jede Bedeutung herausgesaugt wurde. Ohne eine ungefähre Gleichheit bei der militärischen Stärke, ohne einen schlagkräftigen Widerstand, der Unterstützung erfährt, ohne ein Einsehen des Aggressors, das die eigenen Kosten für einen Sieg zu hoch werden – ohne all das gibt es keinen Frieden.

Aber die deutschen Friedensfreunde scheinen etwas Anderes zu wollen: Die Brigade Wagenknecht/Dagdelen/Ali et al. – reden wir nicht drumherum – will einen Frieden als Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln, nämlich neuen Spielraum und Zeit für das imperialistische Russland, sie hat viel Verständnis für den Aggressor und betreibt offen eine Entsolidarisierung mit dem Opfer – irgendwie ist da sehr viel „Sympathy for the Devil“. 

Die protestantischen Pazifisten wollen einen eschatologischen, also menschenunmöglichen Frieden, den es nur geben kann, wenn augenblicklich und dauerhaft die ganze Welt dazu bekehrt würde.

Die vielen, vielen deutschen Quietisten wollen einen Frieden, der ein schwelender Unfrieden wie das Minsker Abkommen ist (welches nur drei Tage hielt), der ihnen, das ist immerhin nachvollziehbar, die Angst etwas nimmt, um die eigene Ruhe, Behaglichkeit und Kleinkrämerei ein wenig länger genießen zu können.

Aber all das geht natürlich auf Kosten anderer, vor allem der Nachbarn in Osteuropa. Es ist verständlich, dass sie, trotz „Zeitenwende“ und Hoffnung machender Ankündigungen der Bundesregierung, gegenüber Deutschland misstrauisch bleiben. Schließlich wollte die Bundesrepublik zunächst nur mit fünf Tausend Helmen die Ukraine unterstützen. Ach ja: Denen, die heute gegen Waffenlieferungen opponieren und nach Frieden rufen, war das damals schon zu viel „Eskalation“. 

Die deutsche Friedenstaube ist ein Geier. Fast ist man geneigt zu behaupten: Wer in Deutschland Frieden sagt, der will betrügen. Die Demonstration der „Friedensfreunde“ am 25. Februar am Brandenburger Tor (in Wirklichkeit natürlich vor der US-Botschaft) lautet übrigens „Aufstand für den Frieden“.