Die vorherrschenden Ideen von Natur und Ursprünglichkeit sind ideologische Irreführungen, die bedrohten Arten wenig nutzen. Der Zoologe Werner Kunz erklärt, was stattdessen nötig wäre und warum effizienter Artenschutz scheitert – auch an Naturschutzbehörden und NGOs.

In Teil 1 dieses Interviews beschreibt Prof. Kunz, warum Naturschutz nicht automatisch gleichzusetzen ist mit Artenschutz. In Teil 2 vertieft der Biologe diese Erkenntnisse an weiteren Beispielen und beschreibt Missverständnisse in der öffentlichen Wahrnehmung zum Thema Artenschutz.

Prof. Kunz, Sie argumentieren, die Verbuschung und Verwaldung der Landschaft macht den hiesigen Vogelarten zu schaffen. Haben Sie dafür noch weitere Beispiele?

Den Vögeln fehlen geeignete Offenland-Habitate: Alle Würger, alle vier Arten, sind Vögel des Offenlandes. Der Raubwürger ist in Nordrhein-Westfalen kurz vor dem Aussterben, der Rotrückenwürger ist im westlichen Teil Deutschlands sehr selten geworden, der Schwarzstirnwürger ist in Deutschland seit 2005 vollständig ausgestorben, der Rotkopfwürger ist fast ausgestorben. Das war mal in allen Bundesländern ein häufiger Vogel. Warum? Keine Offenflächen mehr. Demgegenüber sind alle Spechte – außer dem Grauspecht, aber das ist ja ein Kahlschlag-Vogel, häufiger geworden. Die Großen Buntspechte haben Sie doch überall heute.

Ja, den habe ich hier im Garten auch.

Es gibt gute Messungen in Berlin, die Menschen dort machen aus ihren Gärten, die ehemals vor 60 Jahren zur Ernährung als Gemüsegärten oder Kartoffelgärten genutzt wurden, sie machen daraus Wälder. Daher verschwindet der Haussperling, verschwindet der Hausrotschwanz und verschwindet der Gartenrotschwanz. Der Buntspecht und der Kleiber sind heute die Gartenvögel, das sind Waldvögel. Gehen wir zu den Schmetterlingen: Es gibt in ganz Mitteleuropa nur ganz wenige endemische Tagfalterarten, und das sind die Erebien, diese Mohrenfalter zu Deutsch. Warum? Das sind Falter des Hochgebirges. Ich habe diese Erebien einmal selbst studiert, als ich mal über zweitausend Meter Höhe in Bulgarien unterwegs war. Es war ein sonniger Tag, aber es war kalt, etwa 12 Grad. Da waren die da überall. Sie sind nicht weggeflogen, denn da gibt es ja fast keine Prädatoren, so dass man die hervorragend fotografieren konnte. Da wurde mir klar: Ja, diese Falter, die konnten die Eiszeit überstehen, die brauchten nur von zweitausend Meter auf Normalnull oder 100 Meter herunter wandern. Aber alle Tagfalter des Flachlandes ohne eine einzige Ausnahme sind Einwanderer aus dem Osten und Süden. Die haben auch heute noch ihr Hauptverbreitungsgebiet außerhalb Mitteleuropas im Osten und Süden und haben in Deutschland seit der Eiszeit, also seit wenigen 1.000 Jahren, überhaupt nur ein peripheres Vorkommen. Sie leben hier in der Verschleißzone und haben ihr Kernvorkommen woanders. Und das muss der Artenschützer wissen, wenn er Naturschutz und Artenschutz betreibt: Wir müssen Vögel schützen, die hier gar nicht ursprünglich sind, die hier in der Verschleißzone leben und deren Biotop-Ansprüche wir im Osten und im Süden suchen müssen.

Gibt es eigentlich auch Arten, die vom Klimawandel profitieren? Ich sehe inzwischen jeden Sommer Taubenschwänzchen. Aus meiner Kindheit im Münsterland kenne ich diesen Schmetterling überhaupt nicht.

Sie erwähnen den Taubenschwanz, ein noch besseres Beispiel aus der Klasse der Insekten ist die Gottesanbeterin, die heute in Berlin vorkommt und früher nicht und die früher mit Sicherheit nicht übersehen worden ist. Das ist sofort klar. Die ist ein Gewinner des Klimawandels, die ist also eingewandert. Dann gibt es die berühmte Zebra-Spinne, Argiope bruennichi, und dieses Weinhähnchen, Oecanthus pellucens, eine Grillenart, und unter den Schmetterlingen zum Beispiel der Perlmutterfalter, Brenthis daphne. Diese Tierarten sind eingewandert, aber das sind die wenigen Ausnahmen. Viele Schmetterlinge hätten eine Tendenz, ein Gewinner der Klimaerwärmung zu sein, aber sie können davon in Deutschland nicht profitieren, weil die Biotope vernichtet sind. Denn wenn Sie auf den Quadratmeter Boden gehen, haben wir keine Erwärmung des Mikro-Systems, also die Klimaerwärmung hat uns wenig gebracht, und die Biotop-Vernichtung hat uns – negativ – viel gebracht.

Vielleicht können wir jetzt auf die Prädatoren zurückkommen. Ich bin selbst wie gesagt im Münsterland aufgewachsen. Da gab es Fasane immer reichlich, an Rebhühner kann ich mich nicht erinnern, aber an Fasane. Aber hier bei uns im Waldecker Land gibt es Hühnervögel nur vereinzelt. Aber wenn ich eine Stunde weiter Richtung Westfalen fahre, laufen die da am helllichten Tag auf den Wiesen rum. Dann wundere ich mich, denn wir haben hier eine abwechslungsreiche Landschaft – kleinteilig und mit vielen Hecken. 

Man kann Rebhuhn und Fasan nicht über einen Kamm scheren. Das Rebhuhn ist ein Vogel der Offenflächen, der nach der Eiszeit aus dem Osten eingewandert ist, während Fasane nicht selbst eingewandert sind. Die kommen aus Südchina und Afghanistan und Teilen des Irans und sind ausgesetzt. Der Fasan ist ein Neozoon. 

Ein Neozoon? Das war mir noch gar nicht bewusst. 

Deswegen betrachtet man die mit einem etwas anderen Auge. Sie sind nur deswegen nicht auf den Listen der Neozoen zu finden, weil die Definition des Begriffs „Neozoon“ ist: „Tiere, die nach 1492 durch Menschenhand ausgesetzt wurden oder unbewusst über Waren – über Bananenkisten und sowas – eingeführt wurden“.

Also in der Neuzeit, 1492 ist ja genau der Stichtag?

Ja, und der Fasan ist schon von den Römern hier ausgesetzt worden. Aber jetzt zum Rebhuhn: Das Rebhuhn braucht ungepflegte Unkraut-Offenflächen. Die haben wir heute kaum noch. Allenfalls noch als Schutzmaßnahme als Ackerrand- und Blühstreifen. Aber schauen Sie sich die Ackerrandstreifen an – selbst da, wo die Bauern sie schützen und wo sie noch 10 Meter breit sind: Was sind denn das? Das sind dicht bewachsenen Margeriten-Flächen, dicht bewachsene Klatschmohn-Flächen. Das ist nicht das, was die Insekten brauchen. Die Insekten brauchen karge Erdflächen, wo Hornklee, Lotus corniculatus, wächst, wo es warm wird auf der Erde, und sie brauchen nicht das, wo die wunderbaren, dichten Margeriten-Felder sind. Die Ackerrandstreifen müssen gepflegt werden. Das kann durch den Bauern erledigt werden, der hat das Know-how und der hat die Maschinen, aber er hat nicht die Ideologie in seinem Rücken. Natürlich fehlt es an Geld. Natürlich ist Deutschland dicht besiedelt, aber wir haben auch die falsche Ideologie, die gepredigt wird von oben.

Und die Prädatoren?

Noch einmal kurz zu Prädatoren: Die Wiesenbrüter, die „Big Five“, Kiebitz, Rotschenkel, Bekassine, Uferschnepfe und Brachvogel, die sind tatsächlich hauptsächlich durch Prädatoren gefährdet. Und das hat zwei Gründe: Erstens haben wir heute zu viel Prädatoren, zum Beispiel so viele Füchse wie kaum jemals zuvor. Wir hatten wenig Füchse vor 50 Jahren wegen der Tollwut. Die sind alle geschossen worden. Wenn wir heute die Schmetterlinge betrachten, dann haben wir fast überall ein Verschwinden der Arten und Individuen. Es gibt nur etwa sechs, sieben Tagfalter-Arten, die heute häufiger sind als früher. Mache ich denselben Vergleich mit Vögeln, ergibt sich ein anderes Bild: In Nordrhein-Westfalen haben wir sogar mehr Brutvogel-Arten als vor dreißig Jahren. Woher kommt dieser große Unterschied zwischen Vögeln und Schmetterlingen? Weil Vögel früher bejagt wurden. Alle Raubvögel wurden früher geschossen und das werden sie seit einigen Jahrzehnten in Deutschland nicht mehr.

Ich glaube, seit den 70er Jahren ist das verboten. 

Deswegen sind alle Arten – Habicht, Sperber, Mäusebussard – häufiger geworden. Es gibt nur eine Ausnahme: die drei Weihen-Arten, denn deren Biotope sind vernichtet worden. Die Kornweihe zum Beispiel war in der Eifel vor hundertfünfzig Jahren ein häufiger Brutvogel. Seit etwa dreißig Jahren brütet sie nur noch auf den Nordsee-Inseln in den Dünen. Was schließen Sie daraus? Früher war in der Eifel ein Biotop, das war so wie die Nordhälfte der ostfriesischen Inseln, das waren Sanddünen. Die Stadt Gangelt – das ist die Stadt, die durch den COVID-19 Ausbruch bekannt geworden ist – liegt am Rande der Teverener Heide. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Stadt von Wanderdünen bedroht. Da sind Häuser beim Sturm unter Sand verschwunden. 

Unvorstellbar!

Das ist heute für uns unvorstellbar, aber so hat früher die Landschaft ausgesehen. Und das sind alles so wichtige Kenntnisse, die ich in einem offiziellen Naturschutz-Bericht des Bundesamtes für Naturschutz, des Bundesumweltministeriums, der beiden großen Naturschutzverbände niemals finde. Also, die Vögel haben profitiert vom Schussverbot, die Schmetterlinge aber nicht vom Fangverbot. Womit die Grünen in den Achtzigerjahren eine so publikumswirksame Propaganda gemacht haben, man darf keine Schmetterlinge mehr fangen, das war unwirksam. Es gibt keinen einzigen Tagfalter in Deutschland, von dem man nachweisen kann, dass er durch den Fang reduziert wurde. Das heißt, das Jagdverbot auf Schmetterlinge hat nichts gebracht. 

Tatsächlich ist für das Verschwinden der „Big Five“ auf den Wiesen-Geländen, die Hauptursache, die Prädatoren, also im Osten Kolkraben, zum Teil auch die Greifvögel und hauptsächlich der Fuchs, und das ist nun mal so. Da müsste man tatsächlich mit der Flinte eingreifen, was natürlich unmöglich ist, denn da werden Sie öffentlich angegangen, wenn Sie dabei beobachtet werden. Außerdem wird das auch durch Propagandisten der Naturschutzverbände diffamiert, zum Beispiel mit dem Begriff „Flinten-Ökologie“. Es ist nun einmal so. Man kann sagen: „Das ist doch irgendwie natürlich.“ Das ist zweifellos logisch richtig, das zu sagen. Und: „natürlich“ klingt gut und hat einen ethischen Vorgeschmack, der positiv ist. Aber wir haben halt keine natürlichen Verhältnisse. Was nützt uns in Deutschland die Natur, wenn wir die früheren Verhältnisse nicht mehr herstellen können. Ein Beispiel: Schauen Sie heute über die Agrar- und Wiesenlandschaft – am besten von oben aus dem Flugzeug. Was Sie sehen, sind dichte grüne Getreidefelder, Rübenfelder, dichte, grüne Wiesen und dann sehen Sie auf dreißig Hektar eine ganz karge Fläche und das ist dann ein Naturschutzgebiet, wo noch die Uferschnepfe und der Kiebitz brüten. Ja verdammt noch mal, das sieht der Fuchs noch schneller als Sie! 

Ich habe mal einen Vortrag über ein Vogelschutz-Projekt im Landkreis Marburg-Biedenkopf gehört. Der NABU hat gemeinsam mit Landwirten Flächen eingezäunt gegen Waschbären und hat ausgewertet, wie erfolgreich die Kiebitze gebrütet haben. Der Schutzzaun hat den Bruterfolg nachweislich befördert. Bemerkenswert fand ich, dass Kiebitze im Mais brüten, obwohl Brache und Feuchtwiese auch verfügbar waren, dabei wird doch oft auf die Vermaisung geschimpft. 

Sie haben völlig recht. Ich habe auch Literatur über Kiebitz-Bruten im Mais, aber die Maisfelder müssen karg sein. In diesem Feld, da gehe ich jede Wette mit Ihnen ein, müssen bis zu zwei Quadratmetern Maishalm-freie Flächen gewesen sein.

Derzeit läuft gegen die Bundesrepublik ein Vertragsverletzungsverfahren der EU: Die EU-Kommission ist der Auffassung, dass Deutschland die FFH-Habitate „Flachland-Mähwiese“ und „Berg-Mähwiese“ nicht ausreichend schützt, und hat beschlossen, Deutschland vor dem Gerichtshof der Europäischen Union zu verklagen. Da frage ich mich: Vielleicht gibt es bei uns einfach nicht so viele gute Standorte, wo es sich lohnt, solche Wiesen zu schützen. Und der Druck über die juristische Schiene bringt wahrscheinlich den Tieren auch überhaupt nichts, oder?

Das Hauptproblem ist, dass Mähwiese nicht gleich Mähwiese ist. Das ist ähnlich wie mit den von mir stark kritisierten FFH-Gebieten: Da wird kurz mit wenigen Sätzen ein Habitat charakterisiert, dann werden ein paar Pflanzen aufgezählt, Tiere meist nicht aus wohlweislichen Gründen, und schon muss das geschützt werden. Und schon rühmen sich die Bürgermeister: „Bei uns gibt‘s zwei neue FFH-Gebiete.“ Das nützt alles überhaupt nichts, wenn Sie das nicht spezifizieren und das Mähen ist etwas ganz, ganz Kompliziertes. Denn es hängt ab von der Intensität, ähnlich ist es bei der Schafbeweidung. Das hängt ab von der Intensität und vom Zeitpunkt, und demnach kann Mähen vernichten oder fördern. Beim Mähen bin ich nicht so richtig der Spezialist, aber bei der Schafbeweidung kann ich Ihnen das sagen. Da gibt es so ein wunderbares Beispiel: Einer der Schmetterlinge, die wir gerade in den letzten 15 Jahren in Deutschland verloren haben, den gibt es nicht mehr als Tagfalter in Deutschland, ist eine Colias-Art: Colias myrmidone [Orangeroter Heufalter, Anm. d. Red.]. Colias myrmidone war früher in Süddeutschland auf Trockenrasen, Steinhängen sowie Felshängen verbreitet, und zwar in der Gegend von Regensburg. Heute ist er dort ausgestorben, der letzte Nachweis war 2005. Diesen Falter habe ich in Rumänien gesehen und fotografiert. Das Gebiet hat mir ein dortiger Experte gezeigt und der hat mir viel erzählt. Entscheidend ist der folgende Satz: Selbstverständlich kommt hier Colias myrmidone überhaupt nur vor, weil hier Schafe weiden. Aber hier bei uns ist er verschwunden, weil er durch die Schafe vernichtet worden ist, und zwar weil das so intensiv gemacht worden ist, dass die Futterpflanze weggefressen worden ist bis auf den letzten Halm und damit sind die Raupen ausgestorben. Das ist also wichtig zu bedenken: Schafe – ja, aber richtig!

Also brauchen wir weniger Tiere je Hektar?

Und auch die Beweidung zum richtigen Zeitpunkt, die darf nicht gerade dann erfolgen, wenn die Raupen da sind. Genau dasselbe gilt für das Mähen, aber da bin ich nicht so Spezialist: Mähen – ja, auf jeden Fall – aber zum richtigen Zeitpunkt und in der richtigen Intensität und auch nur flächenweise.

Ich will noch ein Beispiel erzählen: Ich war mehrfach in Siebenbürgen in Rumänien. Dort gibt es riesige Mähwiesen. Ich würde fast sagen, die Hälfte von ganz Siebenbürgen besteht aus diesen Mähwiesen, die sind Jahrhunderte alt – vielleicht sogar Jahrtausende. Und die verdanken ihre Existenz dem Mähen. Ich selbst habe heute noch Bauern fotografiert mit der Sense, und die sind natürlich auch nicht immer die allerfleißigsten. Es gibt diesen wunderbaren Satz: Für den Artenschutz ist ein fauler Bauer wichtiger als zehn fleißige Naturschützer. Die Bauern lassen immer ganze Teile einfach ungemäht, und das ist entscheidend. Ich habe auf einer Wiese südlich von Cluj-Napoca, Klausenburg, vier Arten des Ameisenbläulings nebeneinander fotografiert. Diese Wiesen sind ein Habitat, das es nirgendwo sonst auf der Welt gibt, aber rein anthropogen, das hat nichts mit ursprünglicher Natur zu tun. Und es ist heute gefährdet, weil die alten Leute sterben und die jungen abwandern, und das kann man heute direkt sehen. Siebenbürgen wird dieses auf der Welt einmalige, Biotop verlieren. Wenn Sie in die Presse schauen, lesen Sie von der Vernichtung der Urwälder in den Karpaten. Aber dass in Rumänien Teile der Grasländer viel artenreicher an Blütenpflanzen sind als die Urwälder, davon lesen Sie nichts, und das wird von den Naturschutzverbänden und auch von der Politik auch nicht verkauft. 

Ich vermute mal, die jungen Leute in Rumänien wollen auch nicht mehr mit der Hand mähen?

Dabei ist Rumänien EU-Land, da werden doch Milliarden ausgegeben. Wie wäre es denn, wenn man die Menschen dafür bezahlt? Das ist die Zukunft des Artenschutzes: Nicht Natur Natur sein lassen!

Wir werden sehen, ob die EU und die Mitgliedsstaaten das gut machen, die neue Förderpolitik so auszugestalten, dass wirklich mehr für den Artenschutz dabei rumkommt. Bislang werden sogar Fehlanreize gesetzt: Die Behörden bei uns kontrollieren die Bestellung der Flächen mit Satellitenaufnahmen. Und wenn der Landwirt die Fläche, die er bis zum Rand beantragt hat, nicht bis zum Rand ausstellt, bekommt er diese nicht ausgestellten Quadratmeter abgezogen von der Prämie. Einerseits werden Blühflächen gefördert, aber wenn der Bauer mal von sich aus was liegen lässt, dann wird das direkt sanktioniert.

Da gibt es viele Beispiele, da wird sehr viel falsch gemacht. Ich bin dabei, das für ein paar Arten zu publizieren, wie die Brüsseler Verordnungen genau in die falsche Richtung laufen. Aber mein Eindruck ist, dass das niemand hören will.

Ich vermute, dass durchaus bekannt ist, dass Fehlanreize gesetzt werden und dass diese ganze Bürokratie eigentlich jeden Erfolg von Anfang an zunichtemacht, einfach weil man zu viel verallgemeinern muss. Die Bundesländer machen zwar die Ausgestaltung und die Programme, aber man muss es dann halt für das ganze Bundesland vereinheitlichen, und das funktioniert schon nicht. Beispiel: Wenn ist im strukturreichen Nordhessen eine Mutterkuh Haltung von konventionell auf Öko umstelle, macht das für den Artenschutz kaum einen Unterschied. Man induziert Mitnahmeeffekte. Wenn ich hier eine Hecke pflanze, ist die, schätze ich, ökologisch auch weniger wert, als wenn ich die Hecke in einer Börde pflanzen würde mit intensivem Ackerbau?

Das ist alles richtig, da gibt es wenig Patentrezepte, weil es einfach zu komplex ist. Aber ein Patentrezept ist nicht so komplex, nämlich diese ideologische Irreführung in der öffentlichen Meinung durch diese Natürlichkeits- und Ursprünglichkeits-Ideologie und da kämpfe ich gegen Windmühlen. Mir hat mal ein führender Naturschutz-Verbands-Politiker gesagt hinter vorgehaltener Hand: „Sie haben ja recht, aber wenn wir das verkaufen würden, verlieren wir die Hälfte unserer Mitglieder.“ Politik will keine Wahrheit, Politik will Mehrheit und manche Naturschützer sind Politiker. 

Was veranlasst Sie zu so einer Schlussfolgerung?

Ich halte oft Vorträge. Und wenn man dann mit den Veranstaltern abends in der Kneipe beim Bier sitzt, dann wird häufig gesagt: „Wir haben alle Vertreter der oberen und unteren Naturschutzbehörden eingeladen. Sie kommen nicht. Sie haben ihre Arbeit bürokratisch zu machen, indem sie Genehmigungsverfahren zu prüfen sowie abzulehnen oder anzunehmen haben. Die interessieren sich nicht für die Theorie des Artenschutzes“, das haben die mir immer wieder gesagt an verschiedenen Orten. Und dann kommt noch etwas Zweites hinzu: „Ja, die meisten Leute, die diesen Vortrag von Ihnen besucht haben, sind die, die sowieso immer kommen“, wird oft gesagt. Die anderen, die wollen das nicht hören. Ich bin zum Beispiel von einem großen deutschen Naturschutzverband vor drei Jahren zu einer großen Artenschutz-Tagung nach Münster eingeladen worden und sollte einen der vier Vorträge halten. Ich bin dann zwei Wochen vorher ausgeladen worden mit allerlei Entschuldigungen und hinter vorgehaltener Hand wurde mir dann gesagt, wegen zu großer Agrarfreundlichkeit mussten wir Sie leider streichen.

Sie sind ja von Hause aus Genetiker, wie sind Sie zu den Schmetterlingen gekommen? Hat das bereits in der Kindheit angefangen, war das also schon immer Ihr Hobby oder gab es da einen bestimmten Anlass?

Diese Frage höre ich öfter und daher habe ich gleich zwei Antworten dazu parat: Zunächst mal, ich interessiere mich dafür wirklich seit Kindesbeinen. Die eine Antwort ist: Es gibt immer einen Unterschied zwischen einem Hobby-Beruf und einem Brot-Beruf. Die Genetik ist für mich Brot-Beruf, weil ich gesehen habe, dass ich dort viel mehr berufliche Zukunft habe. Damit ist das eigentlich schon beantwortet. Daher habe ich tatsächlich zwei Berufe nebeneinander gehabt. Die zweite Antwort ist, dass ich nie auf einem Stuhl gesessen habe, auch nicht auf einem Lehrstuhl im klassischen Sinne von C4. Ich habe immer nur zwischen den Stühlen gesessen. Und das hat mir einen sehr schlechten Ruf eingebracht und verschmälert auch heute noch meine Chance, dass ich irgendwo mal dazu gehöre. Ich habe nie zu irgendeiner Scientific Community gehört, wo ich dann Chairman bei Vorträgen war oder im Editorial Board einer Zeitschrift gesessen habe, weil ich immer nur zwischen den Stühlen gesessen habe.

Dabei heißt es doch immer wieder, wir bräuchten die Interdisziplinarität, aber so in einer Person vereint ist es dann auch schon wieder zuviel, wie es scheint?

Die Leute wollen, dass man in eine Schublade hineingesteckt wird. Das hat erstens Gründe, weil sie das andere nicht verstehen, sie sitzen ja selbst in einer Schublade, und der zweite Grund ist wahrscheinlich sozialpsychologisch: „Der gehört zu unserem Verein, wunderbar, mein Bruder, aber nicht der andere Verein, auf die haut drauf!“

Dieses Phänomen ist leider immer wieder zu beobachten, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einer bestimmten Richtung sich in einer Art Club organisieren: Die zitieren sich und stützen sich gegenseitig. Mich macht sowas erst recht skeptisch. 

Es gibt ein englisches Fachwort dafür: „mutual-admiring-society“ – eine Gesellschaft, die sich gegenseitig lobt und bewundert.

Links zum Weiterlesen:

Zum Kiebitz

Zum EU-Vertragsverletzungsverfahren

Das Interview führte Gastautorin Susanne Günther

Professor Dr. Werner Kunz ist von Haus aus Zoologe und hat wissenschaftlich an Drosophila und dem Humanparasiten Schistosoma gearbeitet. Zurzeit arbeitet er wissenschaftstheoretisch über den Artbegriff und die theoretischen Grundlagen des Natur- und Artenschutzes. Kunz ist Tierfotograph mit weltweiten Artenkenntnissen, besonders über Vögel und Schmetterlinge. Er ist ein gefragter Referent. Seine Gedanken zum Thema Artenschutz hat er in dem Buch „Artenschutz durch Habitatmanagement – Der Mythos der unberührten Natur“ zusammengetragen, das 2017 im Verlag WILEY-VCH erschienen ist (ISBN 978-3-527-34240-2).

https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_21_6263

Zum Heufalter: https://www.zeit.de/2021/38/artensterben-schmetterling-gelbling-regensburg-naturschutz/komplettansicht