Ein Festival erfand die Jugend: Vor fünfzig Jahren, vom 15. bis 17. August 1969, fand auf einem Bauernhof das Woodstock Music & Art fair statt. Niemand ahnte damals, das daraus einmal ein Mythos werden sollte. Und wie alle Mythen hat es mit der Wahrheit nur wenig zu tun.

Ich bin nicht in Woodstock gewesen, und doch hat mir das Festival einmal das Leben gerettet. Es war vor einigen Jahren, als es mir nicht gut ging. Aus einer Eingebung heraus sah ich mir damals jeden Morgen die ersten zehn, fünfzehn Minuten des Woodstock-Films von Michael Wadleigh (und dem jungen Martin Scorsese) an. Danach ging es mir besser, und ich kam über den Tag.

Der Film erschien 1970 und war maßgeblich am Erfolg des Festivals beteiligt. Ja, eigentlich ist er dafür verantwortlich. Denn mit seinen Bildern fügte er das Festival in den Erinnerungsstrom der Popkultur, was bekanntlich unsere letzte Leitkultur ist (der Rest sind Subkulturen), und erschuf den Mythos Woodstock. Das gelang dem Film, indem er – ungewöhnlich für eine Musikveranstaltung – die Musik eher zu kurz kommen ließ und lieber das Drumherum und die Menschen zeigte, die die ganze Sache planten, realisierten und darüber fast pleite gingen. Und dann waren da ja auch noch die rund eine halbe Million Menschen, die wegen der Musik gekommen waren oder wegen der Drogen oder weil Sommer war und andere auch dahin fuhren, nach Bethel, da oben in den Catskills, rund 100 Kilometer nördlich von New York City.

REHABILITIERUNG MIT DROGEN UND MUSIK

Zunächst aber machte der Film klar, dass es ihm um eine Rehabilitierung ging. Ein alter Mann aus der Gegend spricht gleich zu Anfang das magische Urteil, den Freispruch: „The kids were wonderful.“ In der ein oder anderen Art hört man das von anderen Zeitzeugen im Film wieder, und man begreift, dass die junge Generation nach den 68er-Unruhen unter dem Bann der Bewährung stand, der aufgehoben werden wollte. Die Veranstalter hatten das selbst erlebt, als man ihnen mit Misstrauen und Abneigung zunächst in dem Städtchen Woodstock und dann in dem Ausweichquartier Wallkill begegnete: Die Bewohner lehnten das Festival vor ihrer Haustür ab, und es war der Milchbauer Max Yasgur, der sein Privateigentum an die Organisatoren für einige Wochen vermietete und so zum stillen Helden der Jugend avancierte: Das Fest konnte doch noch stattfinden.

Erst ein paar Tage vor dem Beginn der legendären drei Tage (aus der dann fast vier wurden) hatte die Manson-Family mit ihren bestialischen Morden an der Schauspielerin Sharon Tate und ihren Freunden das Land in Schock versetzt. Knapp vier Wochen vorher waren die ersten Menschen, die Amerikaner Neil Armstrong und Buzz Aldrin, auf dem Mond gelandet.

Der Vietnam-Krieg war auf seinem Höhepunkt, und dort kämpften ungefähr so viele Amerikaner wie es Zuhörer auf dem Festival gab. Sie teilten nicht nur weitgehend ihr jugendliches Alter, sondern auch den Sound der Hubschrauber über ihren Köpfen. Denn wenn man sich den Woodstock-Film anschaut und daneben beispielsweise Francis Ford Coppolas Vietnam-Epos Apocalypse Now, das zehn Jahre später entstand, aber ungefähr zur gleichen Zeit spielt wie Woodstock, dann fallen einem Parallelen auf, die das Trennende dieser jungen Generation erst richtig, ja, geradezu schmerzhaft deutlich machen. Da sind die Musik jener Zeit wie zum Beispiel die von Creedence Clearwater Revival und dann die Drogen, die den Eskapismus möglich machen – einmal als Flucht vor dem Grauen des Kriegs und ein anderes Mal aus sozialem Druck oder wegen der Verheißung spiritueller Erfahrungen. Vor allem aber vergisst man nicht den Sound der Rotorblätter anfliegender Hubschrauber, die bei Coppola in Vietnam Soldaten und Playboy-Bunnies transportieren und in Woodstock Verpflegung und Musiker. Denn anders war kein Durchkommen mehr auf das Festivalgelände.

WIE NOTSTAND CHAOS LINDERT

Mit maximal 200.000 Menschen hatte man gerechnet, 186.000 hatten bezahlt, viele von ihnen mussten später entschädigt werden, weil sie nie bis nach Bethel kommen konnten, da der Verkehr schon vierzig Kilometer vor dem Ziel zusammengebrochen war. Der Gouverneur erklärte das Festivalgelände zum Notstandsgebiet, denn weder die medizinische Verpflegung war anfangs sichergestellt noch die mit Lebensmitteln. Die Nationalgarde musste helfen, die Polizei, freiwillige Ärzte, Nonnen aus einem nahen Kloster, Mitglieder einer jüdischen Gemeinde und die per Charter herbeigeholten Hippies der Hog-Farm-Kommune. Gerne wird die Sache ja bis heute von manchen so dargestellt oder gesehen, als wäre da nur eine friedliche Menge von Leuten zusammengekommen, die Musik gehört und sich quasi selbstverwaltet und in Eigenverantwortung organisiert hätten. Aber die vielen schlechten Drogen-Trips, die große Zahl an Verletzungen und Erkrankungen, die Geburten und Fehlgeburten, der Mangel an Wasser und Essen brauchten eine Infrastruktur, die erst im Laufe des Festivals mit den geplanten und den ungeplanten Helfern aufgebaut wurde. Der Rest war noch mehr Chaos.

START-UP MIT RISIKOKAPITAL

Begonnen hatte alles mit einer Idee des erst 24-jährigen Michael Lang. Er hatte schon Erfahrungen mit Musikveranstaltungen gesammelt, aber nun wollte er eins drauf setzen. (Und er erwies sich in dem Chaos, das da aufzog, als stets nervenstarker, improvisationstüchtiger und diplomatisch geschickter Unternehmer.) Lang gründete das, was man heute ein Start-up nennen könnte – Woodstock Ventures –, und bekam auch bald zwei junge Kapitalgeber an seine Seite, ohne die das Ganze nicht möglich geworden wäre, wenn sie anfangs nicht 200.000 Dollar auf den Tisch gelegt hätten: Woodstock war geboren aus dem Geist lässigen und risikofreudigen Unternehmertums. Aber dann nahmen sich die Massen, was sie wollten: Musik, Spaß, Verpflegung und Drogen. Wobei die Dealer und die Landwirte ringsum nicht daran dachten, irgendwas zu verschenken. Nur die Veranstalter blieben auf ihren Kosten sitzen. Erst im Jahr 1980 waren sie aus den roten Zahlen raus, während Warner und Atlantic Records, die die Rechte erworben hatten, an Film und Alben gut verdienten.

Das war nicht selbstverständlich, denn musikalisch war das Festival eher mau. Ganz große Namen wie die Rolling Stones, Led Zeppelin oder The Doors fehlten; dafür nutzten einige bis dahin eher unbekannte Künstler wie Santana, Melanie und Ten Years After ihre Chance und kamen groß raus. Für andere wiederum wie Bert Sommer, Quill oder The Keef/Hartley Band war Woodstock kein Sprungbrett, sondern ein Ticket ins Nirwana: Ihre Auftritte zündeten nicht, sie kommen im Film nicht vor, und auch auf den Platten gibt es keine Spur von ihnen. Das ging aber auch anderen, damals schon berühmten Künstlern so. Dass selbst ganz große Stars wie Janis Joplin oder Greatful Dead nicht mit Woodstock in Verbindung gebracht werden, obwohl sie damals auftraten, liegt an der Qualität ihrer Auftritte: Sie waren miserabel und lagen damit weit hinter den Erwartungen. Tatsächlich hatten die meisten Künstler mit den konsumierten Drogen, der Müdigkeit, der Nervosität ob der gewaltigen Zahl an Menschen und den widrigen Umständen aus Sommergewittern und Stromschläge verteilenden Instrumenten zu tun. Manche Manager schützten ihre Künstler und verweigerten die Rechte, um den schwachen Auftritt der Nachwelt vorzuenthalten. Bei anderen kämpfte die Technik mit Problemen, und so gibt es keine verwertbaren Zeugnisse ihres Auftritts.

Aber auch die Zuhörer vor der Bühne bekamen nicht alles mit: Auch hier taten die Drogen ihre Wirkung, die Übermüdung, das Regenwetter, stundenlanges Anstehen vor den Klos oder für einen Schluck Wasser. John Fogerty von den schon erwähnten Creedence Clearwater Revival fühlte sich an eine Szene aus Dantes Hölle erinnert. Trotzdem hörte man von den Zuhörern später keine Klagen. Es war schon damals wie auf den Konzerten heute: Man feiert sich, das Erlebnis und den Künstler – und spielt er noch so einen großen Mist. Ansonsten gilt, was man schon über die Achtziger sagte: Wer sich an sie erinnern kann, der hat sie nicht miterlebt.

Aber als Feldlager des Jungseins funktionierte Woodstock allemal. Da ist man unter sich, um die Ängste, Nöte, Depressionen und Aggressionen von Musik überspielen und von Drogen dämpfen zu lassen. Man hängt saumselig ab, kann hemmungslos rumalbern, tanzen, posieren, angeben, traurig sein, coole Sachen tragen, sich verlieben, Scham überwinden, Sex haben, Sinn suchen, Spiritualität – und am Ende vielleicht ein Stück von sich selbst finden. Dann war es natürlich gut und unvergesslich und bleibt einem ewig erhalten.

HÖHEPUNKT DER DEKONSTRUKTION

Zu den vielen skurrilen Geschichten, die Woodstock hervorbrachte, gehört auch die: dass der künstlerische Höhepunkt am Ende kam und dass ihn kaum noch jemand miterlebte. Es waren vielleicht noch 30.000 Menschen zugegen, als Jimi Hendrix am Montag morgen auf die Bühne trat und einen Gig ablieferte, der Legendenstatus erhielt – vor allem wegen seiner spektakulären Dekonstruktion von Star Spangled Banner, der amerikanischen Nationalhymne.

In der heutigen Zeit muss man sich schon wundern, dass es noch keine größere Zahl von Verschwörungstheoretikern gibt, die auch Woodstock wegen seiner Legenden für eine Erfindung halten: von Stanley Kubrick auf seinem Anwesen im Süden Englands inszeniert – so wie die Mondlandung, den 11. September und das Wembley-Tor. Allen anderen empfehle ich das schön bebilderte Buch Woodstock von Mike Evans und Paul Kingsbury, das jedem Künstler ein paar informative Seiten widmet.

Aber wer sich sogar heilsbringend von Woodstock verzaubern lassen will, der sollte sich, wenn es ihm mal nicht so gut geht, den Film anschauen, vor allem die ersten zehn, fünfzehn Minuten, wenn die Macher des Festivals auf Pferden über das sanft beschienene Gelände reiten; dazu hört man den wunderbaren Song „Long Time Gone“ von Crosby, Stills & Nash, diese schöne Mischung aus Trauer und Hoffnung (David Crosby komponierte den Song als unmittelbare Reaktion auf den Mord an Robert Kennedy). Und irgendwann kommt der Punkt, an dem diese zarte, unschuldige, bukolische Szenerie ihre Wirkung entfaltet unter dem unglaublich gekonnten Spiel von Stephen Stills: „And it appears to be a long time, such a long, long, long time before the dawn.“ Aber das alles verstehen wird man erst am Ende, nach der wirklichen Hymne von Woodstock – wenn man das Lied mit eben diesem Titel hört, „Woodstock“, geschrieben von Joni Mitchell. Auch sie sollte auf dem Festival auftreten, hing aber fest in New York City und schrieb stattdessen aus der wohl klimatisierten und gut ausgestatteten Ferne das Vermächtnis eines mehrtägigen, sonderbaren Traums; sie sang: „I don’t know who I am / But you know life is for learning / We are stardust / We are golden / We’ve got to get ourselves back to the garden!“

Und jetzt noch einmal alle zusammen: