Der späte Sieg der deutsch-sowjetischen Freundschaft sagt viel über unsere Probleme mit der offenen Gesellschaft des Westens.

Vor langer Zeit, nach der Öffnung der Parteiarchive in den 1990er Jahren, habe ich mich ein meiner Doktorarbeit mit der Beziehung der ostdeutschen und der polnischen Bevölkerung zur Sowjetunion beschäftigt. Mein Ziel war es damals, etwas über die Auswirkungen, Widerstände gegen und Ergebnisse der Sowjetisierung zu erfahren. Das Ergebnis nach dem langwierigen Studium sowjetischer, polnischer und deutscher Quellen: Mit der Freundschaft war es nicht so weit her, weshalb ich das Buch „Die erfundene Freundschaft“ genannt habe. 

Selbst innerhalb der mächtigen Staatsparteien gab es große Zweifel am großen Bruder Sowjetunion. Doch solche Wahrheiten durften im Stalinismus bestenfalls unter der Hand geäußert werden. Im Jahre 1949 feierte das gesamte sowjetische Imperium Stalins 70. Geburtstag – von Berlin über Prag und Warschau bis Peking reichten die Huldigungen für den „Vater der Völker“. Der Romanist Viktor Klemperer nannte dies in seinen Tagebüchern uniformitas sovietica postbellica.

Bei den Aufständen von 1953 und 1956 zeigte sich exemplarisch, was große Teile der Bevölkerung von der verordneten Freundschaft hielten. Insbesondere sowjetische Symbole wurden in jenem deutschen Juni und im polnischen Oktober angegriffen. Nach dem Ende des Stalinismus wurde die Freundschaft zur Sowjetunion dann nicht mehr so große geschrieben wie in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Wie andere stalinistische Topoi blieb sie aber Teil des ideologischen Arsenals bis zum Ende der kommunistischen Diktatur. Der Schauspieler Manfred Krug bemerkte dazu in den 1970er Jahren treffend: „Die Freundschaft der sozialistischen Länder ist bloß die Freundschaft ihrer ängstlichen Regierungen. Was ist die deutsch-sowjetische Freundschaft? Ein Abzeichen an der Jacke, mehr nicht.“ Mit der deutschen Einheit endete auch die Erzählung von der großen Freundschaft. Als die letzten sowjetischen Truppen 1994 die frühere DDR verließen, ging ein kollektives Aufatmen durch das Land. 

Persönlich dachte ich nach dem Ende meiner Doktorarbeit, dass ich ein historisches Thema bearbeitet hätte, das in unserer Gegenwart nicht relevant ist. Da habe ich mich allerdings getäuscht. Während in Polen selbst die autoritäre PiS-Regierung Distanz zu Putins Russland hält, entdecken die Ostdeutschen gerade mit großer Emphase ihre Liebe zu Moskau. Sicher, die Kernkader der „Linken“ von Egon Krenz bis Gregor Gysi haben auch nach 1991 an ihrer Loyalität zum großen Bruder nie die geringsten Zweifel aufkommen lassen. Die deutschen Rechten haben auch das autoritäre Russland entdeckt: Die russische Trikolore wehte bei Pegida und seit ihrer Gründung war auch die AfD um eine enge Beziehung zu Russland bemüht. Doch spätestens mit der einmütigen Ablehnung der Sanktionen gegen Moskau durch die Ministerpräsidenten der neuen Länder ist diese Haltung im ostelbischen Mainstream angekommen. Um Differenz zum Westen zu betonen, ist der Politik im Osten der Republik mittlerweile offenbar jedes Mittel recht – auch eine special relationship mit Wladimir Putin. Eine Journalistin konstruiert gar eine „Schicksalsgemeinschaft“ zwischen Ostdeutschen und Russen und garniert sie mit historischen Halbwahrheiten („Krim urrussisch“, „Chruschtschow Ukrainer“) und einer Prise Antiamerikanismus. Ist eine enge Beziehung zum autoritären Russland populärer als es die deutsch-sowjetische Freundschaft je war? Die Politik der Ministerpräsidenten leistet diesem Eindruck jedenfalls Vorschub.

Berüchtigter deutscher Sonderweg

Dankbarkeit ist keine harte Währung in der Politik. Dennoch sind sich aufgeklärte Zeitgenossen vermutlich einig, dass es eine Leistung war, den neuen Bundesländern politische Zustände wie im post-sowjetischen Raum erspart zu haben: es gab zwischen Elbe und Oder keinen Staatszerfall, keine Bürgerkriege, keine Geheimdienstler und Oligarchen an der Macht und auch Korruption und Vetternwirtschaft hielten sich in Grenzen. Schicksalsgemeinschaft mit Russland? Die russische Bevölkerung traf das Ende des Kommunismus härter. Dieses harte Schicksal blieb uns erspart. Und dann sind da ja auch noch die anderen Völker und Nationen, die einst die Sowjetunion bevölkerten. Warum verbindet Deutschlands Osten eigentlich so wenig mit der Ukraine oder Georgien? Mit Armenien oder Lettland? Die Sowjetunion zerfiel bekanntlich im Dezember 1991 in ihre Bestandteile und mit einem Blick auf die Landkarte könnte man lernen, dass das heutige Russland nicht die UdSSR ist. Doch nur Russland kann uns als Projektionsfläche dienen, um Deutschlands Abkehr vom Westen zu begründen. Die Westbindung Deutschlands zu erschüttern war schon im Kalten Krieg das Ziel des Kremls und es sieht so aus, als hätte Moskau eine Menge Verbündete gefunden. Eine vermeintliche Sonderbeziehung der Ostdeutschen zu Russland sagt tatsächlich wenig über ihr Verhältnis zu Russland und viel über ihre Probleme mit der offenen Gesellschaft des Westens. Die neu erfundene Freundschaft zu Russland würde Deutschland wieder zurück auf den berüchtigten, unheilvollen Sonderweg zwischen Ost und West führen.

Im Sommer 2019 beschwören die Vertreter eines demokratischen Deutschland die Annäherung an Moskau und das Ende der Sanktionen. Währenddessen geht das Sterben im Donbas und in Syrien unkommentiert weiter. Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) haben diese Kriege nicht daran gehindert, in St. Petersburg den russischen Präsidenten an seine frühere Wirkungsstätte nach Dresden einzuladen. Dietmar Woidke gelingt in Brandenburg sogar der Spagat, zugleich „Polenbeauftragter“ der Bundesregierung und Russlandlobbyist zu sein. Nicht nur, aber vermutlich besonders für die Polen eine befremdliche Kombination. Aber in der neuen Freundschaft zu Russland gibt es wohl einfach keinen Platz für die kleineren Nationen. Sie sollen wieder Platz machen für die beiden Schwergewichte: Berlin und Moskau. Willkommen im Denken der Zwischenkriegszeit.

Übrigens jährt sich 2019 nicht nur der Mauerfall von 1989, sondern auch der Hitler-Stalin-Pakt von 1939. Aber daran wird vermutlich eher in Polen und im Baltikum erinnert werden. Oder haben die ostdeutschen Ministerpräsidenten am 24. August schon etwas geplant? Es gäbe die Möglichkeit, politisch und historisch einiges richtig zu stellen.

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