Eine 16-Jährige wird von Aktivisten und Medien zur Ikone erhoben und für andere zur Hassfigur. Das ist Kindesmissbrauch. Er wurde auch deshalb möglich, weil viele Journalisten die Reden, die sie verbreiten, gar nicht lesen.

„Ich will, dass ihr in Panik geratet.“

Was klingt wie ein Trailer für einen Kinofilm ist die Ansage einer jungen Klimaaktivistin an den Gipfel in Davos. Spätestens mit diesem Zitat ist Greta Thunberg die berühmteste Schwedin seit Pippi Langstrumpf geworden. Und tatsächlich könnte sie einem Jugendroman entsprungen sein. Auf jeden Fall ist sie jene Art Influencerin, die es braucht, wenn man heute Aufmerksamkeit erreichen will. Polarisierung inklusive. Für die einen ist sie eine Ikone, eine Jeanne d‘Arc des Klimas, andere dämonisieren sie wie eine lebendig gewordene Chucky die Mörderpuppe mit Bund-deutscher-Mädchen-Frisur.* Damit fängt es an und damit sollte es schon aufhören. Ein gerade erst 16 Jahre alt gewordenes Mädchen sollte nicht in eine solche Position gebracht werden. Auch dann nicht, wenn es das so will.

Dass ein Teenager von einer Mission erfüllt ist und in dem Glauben lebt, ohne ihren Beitrag sei die Welt dem Untergang geweiht, ist weder ungewöhnlich noch bedrohlich. Ich habe mit 16 eine Neubewertung des leninistischen Sozialismus geschrieben und mit Freunden in der Fußgängerzone mit Schutzanzügen gegen Atomkraft protestiert. Unsere Texte und Ideen waren voll von Postulaten, von Superlativen und Imperativen, es gab nur Richtig oder Falsch, uns und die. Wenn man uns gelassen hätte, hätten wir die Wirtschaft verstaatlicht und eine Diktatur des Humanismus errichtet, wie wir das damals nannten. Aber man hat uns nicht gelassen. Viele Erwachsene haben uns zwar ernstgenommen, uns ermutigt, mit uns diskutiert. Doch dabei haben sie auch unsere Glaubenssätze hinterfragt, andere Perspektiven eingebracht. Sie haben uns Grenzen gesetzt. Die Erwachsenen rund um Greta setzen ihr keine Grenzen. Sie setzen sie in einen Zug nach Davos. Auf den Spuren Thomas Manns durch den Schnee hinauf auf den Zauberberg, so als wäre sie die eine Person, die dort noch fehlt.

Doch Greta Thunberg ist keine einsame Mahnerin, sie löckt nicht als Einzige wider den Stachel, sie hat keine Botschaft, die ohne sie niemand hören würde. Mit dem politischen Kampf gegen den Klimawandel beschäftigen sich erwachsene Aktivisten auf der ganzen Welt, unzählige Nichtregierungsorganisationen leben dafür und davon. Greta könnte weiter zur Schule gehen, ohne dass die Welt aus den Fugen gerät. In dieser Lage ein Kind aus Schweden durch die Medien zu reichen und den Sehnsüchten, der Liebe und dem Hass von Millionen auszusetzen, ist zynisch und unverantwortlich. Es ist Kindesmissbrauch.

Das gilt nicht nur für  Organisationen, die sich hinter der kleinen Greta verstecken und sie groß gemacht haben. Jede einzelne Redaktion, die dieses Spiel mitmacht, muss sich hinterfragen. Denn Journalisten sollten es besser wissen, sie sollten skeptisch sein, sie sollten sich zurückhalten. Stattdessen reagieren viele reflexartig auf Schlüsselreize und geben diesen Reflex ungefiltert weiter. Ein kleines Mädchen gegen die Mächtigen der Welt ist ein Schlüsselreiz. Das unsägliche Clickbaiting mit aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten oder schlicht irreführenden Teasern tut sein Übriges. Selbst Nachrichtensendungen wie „Heute“ oder die „Tagesschau“ befeuern mit ihren social-media-Aktivitäten eine Verfremdung des Journalismus. Wo kühle Distanz vonnöten wäre, wird der Meinungskrieg im Netz angeheizt. Für Klicks und Interaktionen.

Antidemokratisch und extremistisch

Würde man Greta Thunberg wie eine Erwachsene behandeln, dann wäre es die Aufgabe von Journalisten, das ernstzunehmen und zu bewerten, was sie schreibt und sagt. Und das hat es in sich. Die Welt sei nicht zu retten, indem man nach den Regeln spiele, schrieb Greta bei der UN-Konferenz in Kattowitz. Die Rede atmet nicht nur die Weltuntergangshysterie eines Teenagers, sondern ist durchdrungen von antidemokratischen, extremistischen Gedankenspielen. „Wir haben alle Fakten und alle Lösungen“, postuliert Greta – nur seien unsere Führer nicht bereit, ihnen zu folgen. Deshalb müssten dies nun „die Menschen“ bzw. „Wir“ selbst in die Hand nehmen. 

Unterschiedliche Meinungen, Ausgleich von Interessen, politische Legitimation, all dies spielt keine Rolle. Stattdessen glaubt ein einzelnes Mädchen, für „die Menschen“ zu sprechen. Spätestens bei dieser Formulierung hätten ihre Eltern, die in einem der demokratischsten Länder der Welt sozialisiert wurden, oder sonst jemand in Gretas Umfeld eingreifen und mit dem Kind mal grundsätzlich über die Werte der freien Welt reden müssen. Journalisten und Politiker hätten den Mumm und die Redlichkeit aufbringen müssen, zu widersprechen. Obwohl oder gerade weil diese Rede, die einer weltweiten Anti-Klimawandel-Diktatur das Wort redet, von einer damals 15-Jährigen stammte. 

Stattdessen wurde Gretas Auftritt als „mutig“ gefeiert. 

Dafür kann es vier Gründe geben. Entweder, man findet Gretas Vision einer Weltrevolution fürs Klima gut und richtig. Das wäre besorgniserregend genug, dürfte aber nur auf eine Minderheit zutreffen. Oder man hat sich nicht weiter damit beschäftigt. Wann haben Journalisten eigentlich aufgehört, Reden, die sie verbreiten, vorher mal gründlich zu lesen? Oder man nimmt Greta nicht ernst und feiert ihre Auftritte so wie verquietschte Flötenkonzerte von Eltern gefeiert werden, weil die lieben Kleinen sich ja Mühe gegeben haben. Aber eine Rede an die UN ist kein Flötenkonzert in der Schule. 

Der vierte Grund allerdings ist der Schlimmste. Es ist die Angst, sich an den Äußerungen eines jungen Mädchens zu reiben – weil es ein junges Mädchen ist. Diejenigen Organisationen, die Greta für ihre Zwecke instrumentalisieren, nutzen diese Angst und missbrauchen Greta auf diese Weise doppelt. Sie nutzen ihre Botschaft und ersticken Kritik an ihr mit einem moralistischen Totschlagargument: „Typisch für diese fiesen, alten, weißen Männer. Jetzt greifen sie sogar ein so mutiges kleines Mädchen an.“ Es ist das bewährte NGO-System „Bloß nicht sachlich werden“, das mit Greta perfekt funktioniert. Wer will schon ein fieser, alter, weißer Mann sein? Zumal es neben der berechtigten und notwendigen Kritik am System Greta ja wirklich widerliche Hasskommentare von fiesen Männern gibt.

Warum sachlich?

Nach der Rede von Kattowitz und über Weihnachten hätte es viel Zeit gegeben, das kollektive Versagen im Umgang mit Greta Thunberg zu reflektieren. Es gab einzelne Versuche, ihre Rede in einen sachlichen Kontext zu setzen. Ansonsten: Fehlanzeige. In Davos setzte Greta jetzt noch einen drauf. „Ich will, dass ihr in Panik geratet“, sagte das Mädchen mit den Zöpfen – und die „Heute“-Sendung machte flugs eine schöne Zitatgrafik daraus. Als ob Panik jemals irgendjemandem genützt hätte. Panik ist eine Stressreaktion des Körpers, die zu nicht-rationalen und nicht-sozialen Verhaltensweisen führt. Sie ist daher das Gegenteil dessen, was Führungspersonen zu Entscheidungen verleiten sollte. Panik ist, nebenbei bemerkt, auch exakt jene Reaktion, die Terroristen durch ihren Terror auslösen wollen. 

Nun ist Greta keine Terroristin, sondern offenbar ein von großer Angst geleiteter junger Mensch. „Ich will, dass ihr die Angst spürt, die ich jeden Tag spüre“, sagte Greta in Davos. Das klingt wie eine Drohung und ist vermutlich auch so gemeint – zumindest von jenen Erwachsenen, die sich Gretas Panik zu Nutze machen, um ihre politische Agenda durchzubringen. Und doch ist der menschliche Kern dieses Zitats vor allem alarmierend. Dieses Mädchen braucht keinen Applaus, es braucht Hilfe. Es gibt gute Gründe dafür, sich politisch zu engagieren und sich Sorgen um eine bessere Zukunft zu machen. Aber es gibt keinen Grund dafür, dass eine 16-jährige Schwedin jeden Tag existenzielle Angst vor dem Weltuntergang hat. 

Die Aufgabe mitfühlender Eltern ist nicht, die Angst ihrer Kinder zu spüren und gemeinsam mit ihnen in Panik zu geraten, sondern ihnen die Angst zu nehmen. Dass anscheinend  niemand im Umfeld von Greta Thunberg sich verhält wie ein verantwortungsvoller Erwachsener, sondern ein offenbar psychisch krankes Kind** in seiner Angst bestärkt, ist ein Skandal. Umso mehr, als zahlreiche Medien und Politiker – bewusst oder unbewusst – daran mitwirken, dass dieses Kind nun sogar zum Vorbild für andere Kinder wird, die nun etwa in Deutschland ebenfalls der Schule fernbleiben und in TV-Kameras Parolen plappern, wie jene, dass „die Politiker“ die Zukunft der nächsten Generation zerstören. Und den Schwachsinn teilen jene Politiker, die sich von dem Vorwurf offenbar nicht angesprochen fühlen, beflissen noch über social media weiter. Auch das ist Kindesmissbrauch.

Wer diese Kinder und Jugendlichen ernst nimmt, müsste sich mit ihnen auseinandersetzen und könnte Dinge entgegnen wie: „Nein, liebe Kinder, „die Politiker“, die eure Großeltern und Eltern seit Gründung der Bundesrepublik gewählt haben, sind mit dafür verantwortlich, dass ihr in einer wohlbehüteten, reichen, friedlichen und gesunden Gegenwart aufwachsen könnt, wie sie vor euch keine andere Generation hatte.“ Oder: „Die Politiker feilen gerade an einem historischen Kompromiss zum Ausstieg aus der Kohleförderung, weil sie an die Zukunft der nächsten Generation denken.“ Oder, ganz einfach: „Wenn du wirklich solche Angst wegen der Folgen des weltweiten Stromverbrauchs hast: Gib mir dein iPhone und verschenk deine Playstation.“

Man kann Kindern und Jugendlichen nicht vorwerfen, dass sie einen eingeschränkten Blick auf die Welt haben, dass sie leicht zu ängstigen und zugleich mutig und schnell zu begeistern sind. Der Missbrauch dieser liebenswerten Eigenheiten zieht sich durch die Menschheitsgeschichte bis in die Gegenwart, von Kindersoldaten bis zur Hitlerjugend, von der FDJ bis zu den minderjährigen Märtyrern islamistischer Terrorgruppen. Greta Thunberg ist nichts davon, kein Nazimädchen und kein Terrorteeny. Aber sie ist ein warnendes Beispiel. Organisationen, die eine Minderjährige derart als politisches Werkzeug nutzen, sollten mit dem gestraft werden, was sie am meisten trifft: Missachtung.

 

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* Wir haben diesen Satz geringfügig verändert, um noch deutlicher zu machen, dass der Autor selbst in Greta Thunberg weder eine Jeanne d‘Arc des Klimas noch Chucky mit BDM-Frisur sieht.

** Es ist in der Fachwelt umstritten, ob das bei Greta Thunberg diagnostizierte Asperger-Syndrom als Krankheit oder als Entwicklungsstörung zu beschreiben ist. Dieses Blog will mangels Kompetenz des Autors auf diesem Feld aber keine medizinische Fachdiskussion führen. Asperger ist auch nicht die einzige Verhaltensstörung, unter der Greta in ihrem Leben leidet oder litt. Zudem erzählt sie in dem verlinkten Video selbst, dass sie mit 11 Jahren „krank“ wurde. Daher habe ich mich ebenfalls für den allgemeinverständlichen Begriff „krank“ entschieden. Durch ein „offenbar“ sowie entsprechende Links habe ich darüber hinaus klargemacht, dass ich dies nicht selbst diagnostiziere, sondern den bekannten Stand wiedergebe. Entscheidend ist jedoch hier nicht der Begriff, sondern die Interpretation. Ein Mensch ist weder für eine Erkrankung noch für eine Störung verantwortlich zu machen, die ihn trifft. Entsprechend wird von mir weder das eine noch das andere als Vorwurf oder gar Beleidigung verwendet. Vielmehr nenne ich Gretas Erkrankung (oder Störung) als weiteres Argument dafür, dass sie von verantwortungsvollen Erwachsenen eher vor ihren Ängsten, die sie selbst beschreibt, beschützt werden sollte – statt auf deren Grundlage eine politische Kampagne aufzubauen. Wer meinen Text ohne böswillige Unterstellung liest, sollte dies von Anfang an genau so verstanden haben. Für alle anderen sei es damit klargestellt.