Eine Viertelmillion Menschen ist verschwunden. Täglich kommen weitere hinzu. Der Grund ist eine Krankheit, die bislang zu wenig Aufmerksamkeit bekommt. Das muss sich ändern. Viel steht auf dem Spiel

Es ist trügerisch: Die Sonne scheint, die Temperaturen steigen, das Virus, das uns seit mehr als zwei Jahren in Atem hält, scheint sich zurückzuziehen, als existierte so etwas wie ein Sommerschlaf für Viren. Doch selbst wenn es sich bewahrheiten sollte, dass Corona nun das sommerliche Leben in Deutschland weniger beeinträchtigt als in den vergangenen Monaten und Jahren, so bliebe ein Schatten zurück für zehntausende Menschen, wenn nicht mehr. 

Viele, die die Krankheit Covid-19 überwunden glaubten, kein Fieber mehr haben, keinen Schnupfen, keine Halsschmerzen, keinen Husten, fühlen sich immer noch oder plötzlich wieder krank – weil sie krank sind: Das Corona-Virus scheint so etwas wie eine zweite Stufe gezündet zu haben, die „einfachen“ Symptome sind vergangen, aber die starke Schlappheit, die Kurzatmigkeit, der Hirnnebel, die Schlafstörungen und Gliederschmerzen sind noch da oder tauchen jetzt erst auf. Für viele folgt nun eine schwere Zeit, in der sie feststellen müssen, dass ihre bisherige Leistungsfähigkeit verschwunden ist, die Krankheit sich anfühlt, wie auf Dauer gestellt, und die Tage sich nur zwischen schlecht und mies unterscheiden. Dieser Zustand wird Long Covid genannt. Er kann Wochen in Anspruch nehmen, Monate – oder gar nicht vergehen.

AM ANFANG STEHT DAS VIRUS

Zehn bis 20 Prozent der Corona-Patienten entwickeln Long-Covid-Symptome; exakt weiß man das nicht im datenschwachen Deutschland. Ob das noch die alte Krankheit ist oder schon eine andere – darüber kann man streiten. Besser wäre: das intensiv zu erforschen. Entsprechend passiert auch etwas. Aber nur etwas. Eine Pandemie ist eine Krise, und Krisen können positive Entwicklungen anstoßen. Sie machen aber auch deutlich, was man bislang übersehen oder falsch gemacht hat. Denn das, was jetzt viele Long-Covid-Patienten betrifft, das hat in Deutschland rund eine Viertelmillion Menschen schon mitgemacht, und fast niemand hat ihr Schicksal interessiert, u.a. weil kaum jemand davon wusste. Wenn solche Beschwerden, wie oben beschrieben, auch noch nach einem halben Jahr andauern, dann muss man von dem Krankheitsbild ME/CFS ausgehen.Diese Abkürzung steht für „Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom“. Diese Krankheit, für die es weder einen Biomarker, an dem man die Krankheit unmittelbar und sicher erkennen kann, noch eine medikamentöse Heilung gibt, führt bei ca. zwei Dritteln der Betroffenen zur Berufsunfähigkeit. Viele sind so sehr geschwächt, dass sie die eigene Wohnung nicht mehr verlassen können. In den besonders schweren Fällen sind die Erkrankten bettlägerig und auf Hilfe angewiesen; sie haben dauerhaft Schmerzen, ertragen Geräusche und Licht nicht; das Sprechen fällt ihnen schwer; die kognitiven Fähigkeiten sind eingeschränkt. Wenn kleinere Verrichtungen wie Duschen oder Zähneputzen selbstständig möglich sind, so sind sie oft mit einer Verschlechterung des Zustands erkauft, die länger anhalten kann. 

Dies alles lässt sich relativ leicht hinschreiben und noch leichter lesen – aber versuchen Sie einmal für einen Moment, sich solch einen Krankheitszustand vorzustellen, für den zudem die Aussicht auf eine Besserung fehlt.

Am Anfang von alldem stand eine Virus-Erkrankung, meist das Epstein-Barre-Virus aus der Familie der Herpesviren oder die Influenza, auch Mers und Sars gehören hier hin und jetzt auch Corona. Auffallend ist: Es trifft vor allem Menschen zwischen 15 und 40 Jahren, zu Zwei-Drittel Frauen und sehr oft Personen, die voll im Leben standen – und nun seiner beraubt werden, ausgeschlossen aus einem normalen Alltag und allein gelassen mit einer Krankheit, die nur in Ansätzen verstanden wird.

Einen Vorteil – wenn man das angesichts der schlechten Prognose überhaupt so nennen darf – haben die Long-Covid-Patienten gegenüber den ME/CFS-Betroffenen der vorherigen Jahre und Jahrzehnte. Denn diese mussten fast alle eine lange, deprimierende Odyssee mit Demütigungen, Ignoranz und Gleichgültigkeit durch Arztpraxen erfahren – aber keine Heilung. Im Gegenteil: Da die meisten Ärzte noch nie von ME/CFS gehört hatten, glaubten sie, Simulanten vor sich zu haben oder Patienten mit psychosomatischen Leiden, die mal mehr Yoga oder Sport treiben sollten. Tatsächlich handelt es sich aber um eine Multisystemerkrankung, die viele Organe, vor allem aber Nerven-, Hormon und Immunsystem betrifft.   

Sind die Fehleinschätzungen und Zurückweisungen durch Ärzte und Kliniken schon schlimm genug, haben sie aber auch noch zur Folge, dass die Betroffenen infolge ihres ohnmächtigen Alleinseins mit Krankheit und Leiden in die Hände von Heilpraktikern getrieben werden, die zwar Aufmerksamkeit und Zuwendung schenken, aber, geblendet von ihrem alles erklärenden „ganzheitlichen Ansatz“ und dem Glauben an die heilende bzw. reinigende Wirkung von homöopathischen oder exorbitant hohen Dosen bestimmter Pflanzen oder Mineralien, nichts bewirken oder durch Fahrlässigkeit, die an Scharlatanerie grenzt, den Zustand sogar verschlimmern.

ZU ERFORSCHEN GIBT ES GENUG

Es sind Betroffene selbst, die vor etwa einem Jahr mit einer Petition an den Deutschen Bundestag das Schicksal der ME/CFS-Kranken in die Öffentlichkeit und die Politik gehoben haben. Einer der Petenten, Daniel Loy – er sei hier stellvertretend für andere genannt –, beschreibt in bewundernswerter Weise regelmäßig auf Twitter, wie sein Alltag als Betroffener aussieht, welche gesundheitspolitischen Versäumnisse es gab und immer noch gibt, das Fehlen von Behandlungsansätzen und Versorgungsstrukturen, die Ergebnisse neuerer Studien. Und es ist ein Riesenproblem, dass durch Long Covid und die genannte Petition das Krankheitsbild zwar bekannter geworden, aber die Zahl relevanter Studien (weltweit) immer noch gering ist. Die Krankheit kommt in Deutschland zwar dreimal so häufig vor wie HIV/Aids, erhält aber im Vergleich dazu nur einen Bruchteil von Forschungsgeldern. Hier wie anderswo zählt: Der Grad der Öffentlichkeit ist entscheidend und der politische Druck.

Denn zu erforschen gibt es genug. Das beginnt bei der genauen Ursache bzw. den Ursachen der Krankheit. Soviel scheint deutlich zu sein: Die oben genannten Viren können vielfältige Wirkungen verursachen. Sie können eine Autoimmunreaktion hervorrufen, wie man sie auch von Multiple Sklerose her kennt. Sie können persistieren, also lange oder auf Dauer im Körper verbleiben und durch die andauernde Bekämpfung durch das Immunsystem dieses wie den gesamten Körper erschöpfen. Sie können die Nebennieren schädigen und die Produktion aktivierender Hormone hemmen. Sie können die Elastizität der roten Blutkörperchen verringern, wodurch der Blutfluss durch die Kapillaren erschwert wird und somit die Sauerstoffzufuhr in den Muskeln. Sie können die Mitochondrien, also die Kraftwerke der Zellen, schädigen und somit die Energieerzeugung drosseln. Und sicher gibt es noch andere, bisher unbekannte Gründe für den Ausbruch von ME/CFS bzw. Long Covid. All das muss intensiv erforscht werden – und zwar zügig und umfassend und großzügig. Denn es geht hier nicht nur um Einzelschicksale, sondern um die nationale Gesundheit und Wohlfahrt. Keine Nation kann es sich leisten, dass so viele junge Menschen zu einem Leben im Abseits, im Schatten, in der Isolation verdammt sind. Sie brauchen Zuspruch, Erkenntnis und Hilfe. Selbstverständlich hätte dies auch positive internationale Auswirkungen. Denn es gibt global viele Millionen ME/CFS-Kranke. 

In den USA rechnet man allein mit sieben bis ca. 20 Millionen Amerikaner, die an Long Covid laborieren. Die Regierung Biden hat sich daher entschlossen, einen nationalen Aktionsplan aufzusetzen, aber mit größeren Summen an Finanzmitteln ist das noch nicht unterfüttert. Ebenso in Deutschland: Die Bundesregierung hat das Thema zwar in den Koalitionsvertrag aufgenommen, aber passiert ist noch nichts. So benötigt beispielsweise eine Autoantikörper-Studie an der Universität Erlangen 800.000 Euro, ist aber bisher allein auf Spenden angewiesen. Die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS sowie die Patientenorganisation Fatigatio fordern u.a. Öffentlichkeitskampagnen, den Aufbau von Versorgungsstrukturenund Forschungsnetzwerken, Angebote medizinischer Fort- und Weiterbildung und die systematische Einbindung der Pharmaindustrie. Es muss etwas passieren. Millionen Menschen auf der Welt warten auf Hilfe. Es wird Zeit, ihnen berechtigte Gründe für die Hoffnung auf eine Rückkehr ins Leben zu geben.