Es gibt viel zu tun. Sehr viel. Aber Deutschland fehlen die Fachkräfte, etwa eine halbe Million. Hier ein Vorschlag, was man tun könnte.

Deutschland hat Großes vor! Es will und muss Flüssiggas-Terminals bauen, Wohnungen, Brücken, Waffen, Solar- und Windkraftanlagen… Alles richtig, alles notwendig. Und dann sollten wir auch nicht das ganz normale Handwerk vergessen, die Heizungsmonteure, Klempner, Bäcker, Fliesenleger und Anlagenmechaniker. Auch diese werden gebraucht. Vor allem aber werden sie gesucht. Bei meinem Fahrradladen um die Ecke hing über ein Jahr eine Annonce am Eingang: „Verstärkung dringend gesucht! Bitte im Laden melden.“ Jetzt hat er die Verstärkung, aber es reicht immer noch nicht, weil die Zahl der E-Bikes, Fahr- und Lastenräder zugenommen hat. 

Arbeitskräfte fehlen an allen Ecken und Enden, vor allem aber Fachkräfte, also Menschen, die eine abgeschlossene Ausbildung haben. Oder eine Ausbildung machen wollen. 

Nehmen wir ein brandaktuelles Beispiel: Wärmepumpen. Hausbesitzer wollen sie haben, um vom teuren Gas wegzukommen, und die Bundesregierung will sie, um den Klimaschutz voranzubringen. So sollen bis 2030 sechs Millionen Wärmepumpen installiert werden, in nicht einmal acht Jahren! Wenn das gelingen soll, benötigen die entsprechenden Betriebe für Installation, Wartung, Reparatur 60.000 Monteure mehr, und zwar jährlich – das hat der Zentralverband Sanitär Heizung Klima (SHK) errechnet. Vielleicht kämen sie auch mit 58.792 im Jahr zurecht. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass es an sehr vielen Monteuren fehlt und Wärmepumpenkunden sich in sehr viel Geduld üben müssen. Aber das ist ein genereller Trend, denn rund 40 Prozent aller Ausbildungsplätze konnten im letzten Jahr nicht besetzt werden. In diesem Jahr wird es nicht anders aussehen. Geld ist da, Arbeit ist da, nur die Menschen fehlen. Wo könnte also die notwendige Zahl an Fachkräften herkommen?

WIDER MAGISCHES DENKEN

Krisen sind bei allen Problemen, allem Leid auch Augenöffner. Sie machen deutlich, wie viel magisches Denken in einer scheinbar rationalen Politik wie zum Beispiel „Wandel durch Handel“ steckt. Aber auch in unserem Alltag steckt dieses magische Denken – das Leben in einer Wohlstandsgesellschaft verführt quasi dazu: Es ist alles immerzu verfügbar, erreichbar, lieferbar, erwerbbar. Warum sollte man nicht glauben, dieses Füllhorn sei ein unerschöpflicher Quell? Es erinnert tatsächlich an die Cargo-Kulte der Vergangenheit, deren Anhänger das Auftauchen neuer technischer Geräte nicht erklären konnten und deshalb eine göttliche Herkunft annahmen.

Klimakrise und Corona-Pandemie haben uns vor Augen geführt, dass es auch anders sein, dass Mangel herrschen könnte. Aber es sind nicht nur Rohstoffe, die durch Krisen und Kriege knapp werden – es sind auch die Menschen, die fehlen, Fachkräfte, die die Verarbeitung handhaben, die Nutzung ermöglichen, den Mehrwert erwirtschaften, den Fortschritt voranbringen. Und ihre Zahl wächst weiter, das Minus wird immer größer, das Fehlen folgenschwerer. Denn Deutschland pflegt ein heikles Schisma, indem es glaubt, dass dem Postmaterialismus die Zukunft gehört, weil er mit seinen Themen die Magazine, Feuilletons, Bücher, Talkshows und Universitäten beherrscht. Überall sieht man die Hochglanzkurzbiographien von kreativen Laptop-Nomaden, aber nur selten etwas über die Zustände der nach Asien und Osteuropa verlegten Werkbänke – und die in der eigenen Nachbarschaft.

Das Postmaterielle ist sexy, das Materielle mit seinen Werksirenen, Öllachen, Sägespänen, Ausdünstungen und schmutzigen Fingernägeln hingegen ist abtörnend. Wofür gibt es Roboter?! Allerhöchstens die Kräuter- und Blumenbeete geben uns noch das Gefühl, dass alles Leben eine materielle Basis hat.

MEDIEN ODER STAHLBETON?

Deutschland ist kein kleines Land. Es hat jedes Jahr rund 750.000 Schulabgänger, die Abiturientenquote soll bei rund 50 Prozent liegen (die OECD fordert ständig mehr), rund 250.000 junge Menschen werden nach dem Abitur aller Voraussicht nach auch dieses Jahr ein Studium aufnehmen, denn immer noch gilt das allein als schick und einträglich. Aber läuft nicht vieles am Bedarf vorbei? Vielleicht könnte man ein paar Kulturwissenschaftler überreden, nicht Uber-Fahrer zu werden, sondern Starkstromelektriker. Wer die Menschheit retten will, müsste eigentlich Klimatechniker werden und nicht Soziologe. Die Studentin der Post Colonial Studies sollte man fragen, was sie macht, wenn ihre Diskursmode vorbei ist. Andere, die sich bei über 20.000 Studiengängen schlichtweg verirrt haben, könnte man den Ausweg in einen sicheren Handwerksberuf weisen, wo man als Vermittler zwischen Werkstück und Nutzer letzteren Freude bereiten kann. Der junge Mensch, der „Influencer“ oder „Künstlerin“ oder „was mit Medien“ als Berufswunsch angibt, ist sicherlich für den Stahlbetonbau nicht zu gewinnen; dann ist es halt so. Doch was machen wir jetzt mit all den offenen Stellen in der Industrie, in den Handwerksbetrieben und der Landwirtschaft? 

FÜR REGULÄRE MIGRATION

Zunächst einmal sollten die Berufsgruppen, die besonders gesucht werden, auch besonders beworben und mit Boni attraktiver gemacht werden. Das ist nicht allein die Aufgabe der Handwerkerinnungen, sondern auch der Arbeitsämter, pardon, Jobcenter. Den „Materiellen“ gehört weiterhin ein großer Teil der Zukunft. Außerdem gibt es ganz sicher da draußen, jenseits der deutschen und europäischen Grenzen, junge Menschen, völlig unberührt von postmateriellen Themen, die auf solch eine Chance warten: in Deutschland einen interessanten, vielleicht auch anspruchsvollen Beruf zu erlernen, diesen auf Dauer auszuüben, gutes Geld zu verdienen, eine Familie zu gründen usw. – das ganze lebensnahe Programm also. Was kann man da machen, damit diese Interessenten gefunden und gefördert werden? 

Man könnte mit speziellen Programmen die reguläre Migration stärken. Bislang sind die Hürden hoch, wenn man nach Deutschland einwandern will. Es braucht einen Nachweis finanzieller Unabhängigkeit und Grundkenntnisse der deutschen Sprache. Im Prinzip ist das ja verständlich, aber auch an den akuten Bedürfnissen des Landes und der potentiellen Migranten vorbei: Deutschland braucht Arbeitskräfte, die es selbst nicht mehr hervorbringen kann. Sicher ist die Zahl der ausgebildeten Wärmepumpenmonteure in Afrika in etwa so hoch wie die der Almhüttenwirte auf Helgoland. Aber Migranten können vor allem etwas so unvergleichlich Starkes mitbringen wie Ehrgeiz, Hoffnungen und Träume. Trotzdem hält man immer noch daran fest, dass ein Migrant aus seinem Heimatland heraus zunächst eine dem deutschen Bildungssystem adäquate Ausbildung besitzen muss, dann erst einmal Deutsch lernt und danach Firmen anschreibt. Vielleicht klappt es, und er bekommt eine Arbeitserlaubnis. Aber zunächst müssen Arbeitgeber und Arbeitnehmer nachweisen, dass es in dem entsprechenden Beruf einen Mangel an Mitarbeitern aus Deutschland oder der EU gibt. Dabei kann man das eigentlich schon aus den Zeitungen und den Auskünften der Berufs- und Industrieverbände entnehmen. Um sich darüber hinaus für die Blue Card der EU zu qualifizieren, braucht es auch eine „hohe berufliche Qualifikationen“ (Bachelor- oder Diplomabschluss in einem bestimmten Bereich), eine Stelle in Deutschland und die aktuelle Mindestgehaltsgrenze von 56.800 Euro brutto.

Das alles ist nicht mehr zeitgemäß. Vor allem ist es zu wenig – „proaktiv“. Deutschland ist immer noch kein Einwanderungsland, es ist ein „Geflüchtetenland“. Es hat vor allem illegale Migranten mit dem Status von Flüchtlingen und Asylbewerbern, die meist – die Flüchtlinge aus der Ukraine bilden gerade eine Ausnahme – in einer jahrelangen Warteschleife verharren, bevor sie in nützlichen Ausbildungen einen beruflichen Werdegang antreten können. Auch das müsste man ändern. Der Koalitionsvertrag sieht das vor. Aber noch passiert nichts. 

Vor allem aber müsste sich Deutschland – eigentlich die gesamte EU – dazu durchringen, anhand seiner Bedürfnisse am Arbeitsmarkt eigene Interessen zu definieren. Ein Staat, ein Gemeinwesen darf das; muss es sogar. Ein Einwanderungsland wie Kanada tut das ganz selbstverständlich. Es hat allerdings auch kaum Flüchtlinge, Asylsuchende und illegale Migranten an seinen Grenzen, das erleichtert die Steuerung der Migration ungemein. Die EU muss sich stattdessen immer wieder vorwerfen lassen, sie verteidige ihre Grenzen gegen „Flüchtende“. Dabei ist klar, dass die allermeisten, die von Schleppern an der nordafrikanischen Küste in Seelenverkäufer gepfercht werden, Migranten sind. Sie nehmen auch deshalb den gefährlichen Weg auf sich, weil es für die allermeisten keinen vernünftigen legalen Weg gibt, um auf den europäischen Arbeitsmarkt zu gelangen.  

Das ist schon lange bekannt. Und doch fehlen weiterhin die direkten Angebote, die sich an potentielle Arbeitskräfte richten, und der Wille, Menschen ins Land zu holen, sie aktiv für die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes auszubilden und gleichzeitig die Sprache zu lehren. (Die europäische Arbeitsvermittlung EURES ist übrigens nur für Bürger der EU, Islands, Norwegens, Liechtensteins und der Schweiz).

Die reguläre Migration aus anderen Regionen sollte daher gestärkt werden. Es braucht dafür nur eine staatliche, international nutzbare, digitale Arbeitsvermittlung, eine Jobbörse in etwa so einfach und effizient wie Indeed oder Stepstone. Es braucht ein praktikables, schnelles Matching und einen gemeinsamen, verpflichtenden Willen zur Integration, der bei der Kontaktaufnahme beginnt und erst endet, wenn die Ausbildung abgeschlossen ist. Migration und Integration müssen immer Hand in Hand gehen und verpflichtend sein. So würde das für alle – wie heißt es so schön? – eine echte „Win-win-Situation“.