RWE machte keine gute Figur in den Berichten zum Hambacher Forst – weil viele Medien eine noch beschämend viel schlechtere machten. Das weitreichende journalistische Versagen, die gängige Narration zu hinterfragen, regt aber niemanden auf. Von Christoph Raethke.

Wenn eine Begebenheit in den vergangenen Wochen die Öffentlichkeit galvanisiert hat, dann die Abholzung des Hambacher Forsts. Wie eine Wand stand die Front der Braunkohlegegner, Naturschützer und Kapitalismuskritiker. „Großkonzern gegen romantisches Wäldchen“, noch klarer konnte die Geschichte nicht sein.

Noch klarer, das ist mir in den letzten Tagen aufgefallen,  konnte in der Tat nicht sein, dass an diesen Reaktionen etwas nicht stimmt. Und zwar auf zwei Ebenen. Die eine ist die faktische. Das Waldstück wurde in den 60ern und 70ern von den Gemeinden, auf denen es stand, an RWE verkauft. Und das Geld floss nicht nur in die örtliche Infrastruktur; obendrein sind viele Kommunen auch Anteilseigner der RWE. 25 Prozent der Aktien werden von kommunalen Aktionären gehalten, die darauf viele Jahre Dividenden erhielten. Angesichts dessen sollte man vielleicht ein paar Fragen stellen. Zum Beispiel, wie es denn mit dem Thema „Schutz des Eigentums“ steht. Oder Gültigkeit von Verträgen. Die Verkäufer des Waldes waren samt und sonders demokratisch gewählte Kommunalpolitiker. Möglicherweise waren die Schulen, auf die einige der örtlichen Demonstranten ihr Abitur machten, saniert aus den Dividenden, dem Verkaufspreis sowie den Steuern der im Tagebau bei RWE arbeitenden Väter und Mütter. Es stimmt: Das Wäldchen wurde vor Jahrzehnten als temporär designiert, als blättriges, aber unwesentliches Accessoire zu einem Kohleflöz. Aber macht das aus RWE wirklich einen profitgierigen, rücksichtslosen Feind der Energiewende? Und die Kommunen als Shareholder gleich mit?

Was mich an diesen Hintergründen interessiert, sind allerdings weniger die Verträge und die wirtschaftlichen Strukturen. Auch, dass rechtlich eigentlich alles klar war – der BUND prozessiert seit 20 Jahren für die Erhaltung des Forsts und hat ebenso lange alle Prozesse verloren, weil anscheinend eine Bechsteinfledermaus aus einem bereits zu 80 Prozent der Braunkohle zum Opfer gefallenen Wald doch keinen zentralafrikanischen Gorilladschungel macht –, ist mir hier nicht so wichtig.  Was mich dagegen sehr interessiert und durchaus besorgt, ist die zweite Ebene, auf der mit den Reaktionen etwas nicht stimmt. Nämlich der Ent- und Geschlossenheit, mit der Medien und Social Media diese wirtschaftlichen und rechtlichen Hintergründe ausblendet.

Fakten berichten – oder die „wirkliche Story“?

Werfen wir einen Blick in die Online-Zeitungen der letzten vier Wochen. Es ist nicht so, dass die Kleinigkeit, dass RWE der Besitzer des Waldes ist und ihn auch explizit zum Zweck der Abholzung und Kohleförderung gekauft hat, völlig verschwiegen wird. Aber von der ersten Zeile weiß der Leser, dass die wirkliche Story woanders liegt, nämlich in den mitreißenden Begründungen, warum es trotzdem moralisch hochwertig ist, diese Umstände zu ignorieren.

In den letzten Wochen schien es mir oft, als würden die Reportagen über und Einordnungen des Geschehens von einem einzigen Redakteur geschrieben, dessen Meinung mit kleinen Änderungen, immer aber mit dem gleichen Tenor von der SZ, der „Zeit“, der taz und jedem anderen Medium übernommen wurden, das minimale Reichweite hat. Und immer sind Gut und Böse gestochen scharf. Deutschlandfunk, 12.09.: „Offenbar will RWE (…) noch die Profite mitnehmen, die in Form von Braunkohle unter dem Hambacher Forst winken.“ Die Zeit, 13.09.: „Der Staat schickt an diesem Donnerstagvormittag eine unmissverständliche Botschaft: Hier sollen eindeutige Verhältnisse geschaffen werden. (…) Der Essener Energieriese hat einflussreiche Befürworter in der Politik: Die schwarz-gelbe Landesregierung, allen voran Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet, steht hinter dem Konzern.“ Süddeutsche, 05.10.: „In der Hoffnung auf Millionengewinne nahm der Konzern den Imageschaden in Kauf.“ Wieder die Zeit, 06.10.: „Zehntausende demonstrieren am Hambacher Forst – gegen die Rodung und eine Politik, die den Mehrheitswillen ignoriere. (…) Die Justiz hatte den Konzern in die Schranken gewiesen und die schwarz-gelbe Landesregierung blamiert.“ O-Ton aus dem selben Artikel: „Ob dieses kleine Stück Wald nun bleibt oder nicht, ist mir eigentlich nicht so wichtig“, sagt Demonstrant Junge. „Ich bin gekommen, um zu zeigen, dass ich es nicht mehr hinnehmen will, dass Konzerne für die Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen das Geschehen diktieren und die Politik sie gegen den mehrheitlichen Willen des Volkes dabei unterstützt.“ Taz, 10.10.: „Gerade junge Menschen, die noch stärker mit den Folgen des Klimawandels konfrontiert sein werden als alternde Führungsriegen, erleben die Proteste im Hambacher Forst als politisches Erwachen. (…) Und das ist gut so.“ Eine Verschwörung des Establishments also, motiviert von Hab- und Machtgier sowie dem Drang, Volkes Wille mit Füßen zu treten. Demgegenüber die freie Presse, die sich mit Verve dagegen stemmt. Was macht es da schon, dass – in aller Freiheit – alle die gleiche Meinung haben?

Lügenmeme für den Guten Zweck

Und so geht es auf Facebook und Twitter weiter. In solidarischer Kritiklosigkeit hat mein gesamtes Social Media-Umfeld dieses Narrativ nicht nur übernommen, sondern im Empörungsrausch noch ein wenig übersteigert. Aus RWE-Beteiligungsdiagrammen wurden Boykottaufruf-Memes. Stromangebote der Konkurrenz wurden herumgereicht. Eine Krönung war sicher das Gif-Bildchen, auf dem aus 200 Hektar Forst „der letzte große Mischwald Europas“ wurde. Der „Kölner Stadt-Anzeiger“ hat mit einem der Erstverbreiter dieser frei erfundenen Klitterung gesprochen und dabei ein entwaffnendes Zitat zutage gefördert. „Er bestreitet auch nicht, dass sie (die Angaben) falsch sind. „(…) Mir geht es um die politische Botschaft“, sagt er. Verhält er sich damit nicht genau so schäbig wie manche Rechte, die Informationen für ihre politische Agenda fälschen? „Nein“, entgegnet der Verfasser. „Hier geht es ja um eine gute Sache.“

Im Angesicht dessen will ich nur eines wissen. Nämlich: Was, um Himmels Willen, ist aus dem Fundamentalsatz der westlichen Werteordnung geworden, der da heißt „Audiatur et altera pars“, zu deutsch: „Es werde auch die andere Seite gehört“? Dieser Satz ist eine Grundlage der Gerichtsordnung und heißt, dass nicht nur der Reiche oder Schöne gehört werden soll, sondern auch sein Kontrahent, egal, wie unattraktiv oder schuldig der aussieht. Er steht aber darüber hinaus auch am Anfang der europäischen Denktradition. Lange vor den Römern war es die griechische Philosophieschule der Sophisten, die wussten, dass absolut jede Sache mit ähnlicher Glaubwürdigkeit komplett gegensätzlich argumentiert werden kann. Wie wäre die Diskussion wohl verlaufen, wenn die ersten Zeitungskommentare nicht wie ein Mann auf „Märchenwald vs. aggressiven Umweltverschmutzer“ eingestiegen wären? Sondern von einem Industrieprojekt erzählt hätten, das Recht und Gesetz bis ins Detail folgte und von dessen Gewinn zahlreiche ländliche Kommunen profitiert hätten, das nun aber – samt dem guten Ruf seines Betreibers – von einer aufgeregten Naturschutzdebatte hinweggefegt wird?

An und für sich sind diese Denkmuster der Kritik, des „Cui Bono“, des Hinterfragens der Mehrheitsmeinung  uns Deutschen nicht fremd, im Gegenteil. An Schulen und Universitäten wird bei uns intensiv gelehrt, zu zweifeln, Text-Exegese zu betreiben, Motive herauszuarbeiten – bis zu einem Punkt, an dem man mit nichts mehr zufrieden sein kann (aber das ist ein anderes Thema). Aber bei Hambach ist es jedem genug, den hundert Anwürfen an den vermeintlich gierigen Raubkonzern noch einen hundertersten und hundertzweiten folgen zu lassen. Eine Kakophonie der selben Meinung, ein Heldentum des Mit-in-den-Chor-Einfallens, eine Tausend-Dezibel-Echokammer.

Was mich in meiner Eigenschaft als Unternehmer ausgerechnet bei Hambach aufmerksam macht, ist, dass aus den Unisono-Reaktionen die übliche, trendige Kapitalismusphobie spricht, die mich so oft mit den Augen rollen lässt. Denn echte Sorge um die Bechsteinfledermaus treibt hier wirklich niemanden an, und die Schlacht um die Energiewende wird an anderen Fronten geschlagen – unter anderem da, wo riesige Flächen mit Windturbinen oder Stromleitungen überzogen werden. Was bleibt, sind Symbole, die auf der genehmen Seite überhöht und auf der ungenehmen erniedrigt werden, bis aus dem letzten Abschnitt der auslaufenden Tätigkeit eines 150 Jahre alten Stromproduzenten ein Bühnenstück wird, in dem „Konzerne für die Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen das Geschehen diktieren“ wie bei Marx selig.

Audiatur et altera pars!

Als Gründer der Berlin Startup Academy, Hochschuldozent, Unternehmensberater, Mentor und Investor hat sich Christoph Raethke komplett dem Thema „Digital-Unternehmertum“ ver- und einiges darüber geschrieben. Sowie über andere wichtige Themen wie Borussia Mönchengladbach, Pablo Escobar und Online Porn zu Zeiten des 14,4-Modems.

 

 

 

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Anmerkung vom 27.10.2018, 12:30: In einer früheren Version dieses Textes wurde auch SPIEGEL online als eines der Medien genannt, die das Narrativ bereitwillig übernommen hätten. Diesen Fehler haben wir eben korrigiert.