Was sich so in meinem Notizbuch angesammelt hat – 24. Oktober 2018

Viele Menschen sind mit Recht stolz auf ihre akademischen Titel und lassen keine Gelegenheit aus, andere davon wissen zu lassen. Das ist verständlich, aber oft nicht klug. Die Leiterin einer örtlichen Institution begegnete mir mit Herablassung an der Grenze zur Unverschämtheit bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie durch einen Zufall erfuhr, dass ich einen Doktortitel habe. Von diesem Moment an wurde sie überaus freundlich. Hätte ich mich gleich am Anfang mit dem Titel vorgestellt, wäre sie auch sofort freundlich gewesen. Doch dieser kleine Zugewinn an Annehmlichkeit wäre zu teuer erkauft gewesen, nämlich mit dem Verlust der Fähigkeit, echte von falschen Freunden zu unterscheiden. Es gibt eigentlich nur einen Grund, mit Titeln zu protzen, nämlich wenn man darauf angewiesen ist, dumme aber mächtige Menschen zu beeindrucken.

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Das Internetportal der „Welt“ vermeldet, dass die Zeitschrift „Lonely Planet“ eine Rangliste der attraktivsten Reiseländer veröffentlicht habe, bei der Deutschland an zweiter Stelle steht. Die Schlagzeile lautet dementsprechend stolz: „Deutschland gehört zu den zehn besten Reiseländern der Welt“. An erster Stelle steht Sri Lanka. Außerdem befinden sich unter anderem Simbabwe, Kirgistan und Weißrussland auf der Liste. Wäre es nicht vielleicht doch für den Axel-Springer-Verlag finanziell verkraftbar, einen Mitarbeiter einzustellen, der über den Inhalt von Meldungen wenigstens eine Minute lang nachdenkt, bevor man sie ins Netz stellt?

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„Das ist kein Kavaliersdelikt.“ Wenn dieser Satz fällt, kann man fast sicher sein, dass es sich doch um eines handelt. Man sollte trotzdem aufmerksam werden, wenn jemand dies sagt, denn es dient stets als Rechtfertigung für die Forderung nach Schikanen.

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Nachdem die Grünen unter dem einhelligen Jubel des Volkes mit dem populären neuen Ministerpräsidenten Robert Habeck in Bayern die absolute Mehrheit errungen haben, wundern sich die deutschen Journalisten darüber, dass die CSU gar keine Anstalten macht, ihnen die Regierungsgeschäfte zu übertragen. Es heißt, Markus Söder sei derart abgehoben, dass er dieses Ergebnis, das sofort alle Redaktionen elektrisiert hat, gar nicht zur Kenntnis genommen habe.

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Jan Fleischhauer, dessen Kolumnen meistens auch dann die Lektüre lohnen, wenn man ihnen nicht zustimmt, schreibt sehr böse und sehr treffend über die britische Brexit-Politik. In seinem Text findet sich auch der folgende Satz: „Wir wollen nicht ungerecht sein. Wir verdanken den Briten den Nachmittagstee, Monty Python und die Beatles, das ist mehr als viele Völker in ihrer Geschichte zustande gebracht haben.“ An diesem Satz ist jedes Wort wahr, und doch ist er in einem Maße unvollständig, dass man ihn als Falschaussage werten muss: Wir verdanken den Briten unendlich viel mehr als Monty Python und die Beatles, nämlich das freie und geeinte Europa. Es war Großbritannien unter Churchill und dem völlig zu Unrecht noch immer belächelten Chamberlain, das als einziges Land Europas Anstand bewahrte und dem gemeinsamen Angriff der Diktaturen standhielt. Und es war derselbe Churchill, der nach dem Krieg mit seiner Zürcher Rede den ersten Anstoß zum vereinten Europa gab. Eben darum ist ja der Ausstieg Großbritanniens aus der EU nicht einfach nur eine Dummheit, sondern eine geradezu klassische Tragödie.

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Wer Gleichstellung durchsetzen will, bekämpft Gleichberechtigung.

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Mit einer Besessenheit, die rational nicht mehr erklärbar ist, berichten deutsche Massenmedien über die Wahl des amerikanischen Bundesrichters Brett Kavanaugh (wann wurde eigentlich einmal so ausführlich über die Berufung eines Richters am Bundesverfassungsgericht berichtet?). Spiegel Online schreibt angesichts der Tatsache, dass die bloße Anschuldigung eines sexuellen Fehlverhaltens vor 30 Jahren die Karriere des Mannes nicht ruinieren konnte, von einem Desaster. Ein Desaster ist es tatsächlich, aber keines des amerikanischen Rechtsstaates, sondern des deutschen Journalismus.

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Ein eigentlich sehr interessanter Vortrag: Der Geschäftsführer eines mittelständischen Schweizer Unternehmens berichtete über die Herausforderungen, die mit einem Börsengang verbunden sind. Er sprach über Challenges und Risks, über Consultants, Assets, Customers und Products. Den Börsengang selbst bezeichnete er durchgängig als IPO, was, wie er auf Nachfrage erläuterte, für „Initial Public Offering“ steht. Er sagte, sein Unternehmen sei besonders stark in R & D, was, wie mir allmählich dämmerte, kein Popmusikstil ist, sondern „Research und Development“ heißt. Er selbst ist natürlich auch nicht Geschäftsführer seines Unternehmens, sondern der CEO. Man sagt, ein Börsengang sei eine zweischneidige Sache. Man bezahle einen hohen Preis für das Geld, das man von den Investoren bekommt. Anscheinend stimmt das. Man bezahlt unter anderem mit jeglicher Kommunikationsfähigkeit in deutscher Sprache.

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Eine seltsame Marotte, seit einigen Jahren bei Studenten zu beobachten, neuerdings auch auf Elternabenden bei jüngeren Lehrern: Die betreffende Person trägt etwas vor, was sie auswendig gelernt hat, ohne es geistig zu durchdringen. Dann folgt eine Sekunde Pause, danach das Wort „Genau“. Nach einer weiteren Sekunde Pause wird der nächste halb- oder gar nicht verstandene auswendig gelernte Satz heruntergerattert, auf den wiederum eine kurze Pause und ein „Genau“ folgt. So geht es weiter. Kürzlich schaffte es ein Lehrer in einer fünfminütigen Vorstellung seines Faches sechsmal ein solches „Genau“ unterzubringen. Wer einmal auf dieses „Genau“ aufmerksam geworden ist, den kann es an den Rand des Wahnsinns treiben, denn es bedeutet das Gegenteil dessen, was der Begriff eigentlich aussagen sollte: Statt für Präzision steht es für geistige Leere. Da das Phänomen nur bei Unter-35-Jährigen zu beobachten ist, liegt es nahe, in ihm einen Bologna-Schaden zu vermuten. Mit jener unseligen Hochschulreform ist den Studenten das selbständige Denken gründlich ausgetrieben und durch das gedankliche Abhaken von Listen ersetzt worden.

 


Thomas Petersen berichtet in der Reihe „Mein Books of Kells“ in unregelmäßigen Abständen über das, was sich über die Jahre in seinem Notizbuch angesammelt hat. Die „Mein Book of Kells“-Reihe kann hier nachgelesen werden.