Ich bin ein Grüner
Trotz kapitaler Fehler bei Atomkraft und Gentechnik findet Hannes Stein gerade nirgends ein politisches Angebot, das besser als das der Grünen ist.
Keine Sorge, stimmt natürlich nicht. Schon deshalb, weil ich in Deutschland kein Wahlrecht habe. Aber je mehr ich in jüngster Zeit über Politik in Deutschland nachdenke, desto größere Sympathien habe ich für die grüne Partei.
Das heißt nicht, dass ich mich mit grünen Politikerinnen und Politikern nicht bis spät in die Nacht fetzen würde. Ich bin für Atomkraft, ihr Knalltüten! Und für Gentechnik! Das Anti-Atomkraft-Dogma kommt mir genauso wissenschaftsfeindlich vor wie die Impfgegnerschaft. Die Impfgegner spielen ein paar tragische — aber statistisch vollkommen irrelevante — Fälle hoch, um zu verschleiern, dass Vakzine jedes Jahr Millionen Menschen das Leben retten. Und die Atomkraftgegner spielen ein paar tragische — aber statistisch irrelevante — Havarien hoch, um eine grundsätzliche Wahrheit zu verschleiern: AKWs haben bis heute Millionen Menschenleben gerettet. Weil für jedes AKW mehrere Kohlekraftwerke NICHT gebaut wurden. Folge: Weniger Leute, die giftige Abgase einatmen. Weniger Kohlendioxid. Weniger Klimaerwärmung. Wenn wir schaffen wollen, dass Indien und China und Afrika den Sprung aus der Armut schaffen, ohne dass dabei der Planet gekocht wird, gibt es meiner Ansicht nach nur drei Mittel: 1. Atomkraft, 2. Atomkraft, 3. Atomkraft. Jedes Jahr wächst der Strombedarf statistisch gesehen um ein Land von der Größe Brasiliens — wie sollen wir es denn schaffen, diese Mengen zu produzieren? Mit Windrädern und Sonnenkollektoren allein? Nebbich!
Überhaupt basiert die Ökobewegung meiner Ansicht nach auf einem schweren Denkfehler: Viele ihrer Vertreter glauben, dass wir, um die Natur zu schonen, möglichst natürlich leben müssen. Genau das Gegenteil ist richtig. So viele Menschen wie möglich müssen in urbanen Ballungsgebieten leben. Landwirtschaft muss auf möglichst kleinen Flächen betrieben werden — am besten in Hochhäusern. Fleisch am besten aus dem Labor. Möbel am besten aus Plastik — lasst die Bäume stehen! Arzneimittel am besten mit Hilfe der mRNA-Technologie. Und Energie schaffen wir am besten nicht durch Verbrennen von Holz, von Kohle, von Öl, von Gas, sondern durch das Spalten von Atomen. In zehn Jahren hoffentlich durch Atomfusion — aber bis dahin müssen wir schon weitgehend von den fossilen Brennstoffen unabhängig geworden sein.
Ich habe also einen klitzekleinen Dissens mit den deutschen Grünen. Das hindert mich nicht daran, sie heiß und innig zu lieben. Den Grund dafür zeigt ein besonders dämliches Titelbild des “Spiegel”, das Annalena Baerbock. Robert Habeck und Anton Hofreiter in Uniform vorführt: Hofreiter trägt eine Panzerfaust auf der Schulter, Frau Baerbock eine Sonnenblume in der Hand.
Die billige Ironie dieses witzig gemeinten Titelbildes geht mir auf den Keks — aber es illustriert doch, warum die Grünen im Moment das Beste sind, was Deutschland politisch zu bieten hat. Nicht die SPD mit ihrem peinlichen Herrn Kühnert, nicht die CDU, deren Kanzlerkandidat, wir erinnern uns, Armin Laschet hieß, nicht die FDP, die einen Herrn Kubicki durch die deutschen Talkshows hetzt. Die Grünen haben als Erste begriffen, dass mit Putin keine Geschäfte zu machen sind. Sie war ganz klar gegen Nordstream2. Von diesen Leuten, Gott schütze sie, wurde niemand vom Kreml bezahlt. Die Grünen kapieren auch sehr genau die Gefahr, die von der Diktatur in China ausgeht. Die Grünen, wie sie heute sind, stehen ohne Wenn und Aber für Freiheit und rechtsstaatliche Demokratie. Sie sind ganz klar für die NATO. Sie sind übrigens auch ganz klar für Israel: Ein Freund erzählte mir, dass, als Ron Prosor, der neue israelische Botschafter in Berlin, seine Einstandsparty gab, der gesamte grüne Parteivorstand erschien. Und so gut wie niemand von der CDU.
Gott weiß, dass es nicht immer so gewesen ist: Die Grünen haben einen weiten Weg zurückgelegt. Ich bin alt genug, um mich an eine Zeit zu erinnern, als die Grünen noch stramm antiamerikanisch waren und allen nur möglichen Blödsinn vertraten. Aber das ist nicht wichtig: Entscheidend ist, dass sie aus ihren Fehlern gelernt haben. Klarer als viele andere Deutsche haben sie begriffen, dass die Lehre aus dem Nationalsozialismus nicht lautet: Nie wieder Krieg. Sondern: Nie wieder militärische Aggression; nie wieder Genozid.
In einem historischen Augenblick, in dem ein irrsinnig gewordener Diktator einen völkermörderischem Krieg in Europa entfesselt; China ungefähr jeden zweiten Tag damit droht, das demokratische Taiwan mit Gewalt heim ins Reich der Mitte zu holen; Trumps Anhänger in Amerika offen einen Bürgerkrieg ankündigen, weil sie wollen, dass Amerika von weißen, christlichen Männern beherrscht wird — in einem solchen Augenblick interessiert mich alles andere eigentlich nicht so sehr. In einem solchen Moment wünsche ich mir die wunderbare Annalena Baerbock als deutsche Kanzlerin. Meine Stimme hätte sie schon bei der letzten Wahl gehabt. Und der Übergang zur Atomenergie wird sowieso passieren, ob die Grünen dafür sind oder nicht. Wetten?!