Kurz hinterm Sendegebiet des WDR lauert eine todbringende Gefahr. Belgische Kernkraftwerke werden eines Tages ganz NRW verseuchen – diese Botschaft jedenfalls transportiert der öffentlich-rechtliche Sender mit allen propagandistischen Mitteln.

Wer mit dem WDR groß wurde, erinnert sich noch an frische, freche, investigative Recherche, die den Klünglern und Herrschern auf die Füße trat. An den Spatz vom Wallrafplatz und die Maus, die es in einer denkwürdigen (und nach wie vor sehenswerten) Sendung sogar mal bis in ein Kernkraftwerk schaffte. Und an das Polit-Magazin „Monitor“.

Heute habe ich keinen Fernseher mehr, und die frechen linken WDR-Journos von damals sind längst Establishment, das sich in den seltensten Fällen noch selbst den Wind der Recherche um die Nase wehen lässt. Dafür hat man ein Heer mies bezahlter freier Journalisten. In der Zentrale kann man sich daher um die wirklich wichtigen Dinge kümmern. Zum Beispiel um die Rettung der Deutschen vor der belgischen Atomgefahr. Und um die Pflege eines deutschen National-Ökotops, der Atomangst-Sumpflandschaft.

Die neueste Blüte dieses Sumpfes ist dieses Monitor-Filmchen über die belgischen Kernkraftwerke Tihange und Doel. Der Film fragt: „Tihange 2 – plötzlich sicher?“ und thematisiert eine eigentlich unspektakuläre Stellungnahme der Reaktorsicherheitskommission (RSK), eines Sachverständigenrates, der die Bundesregierung in Sachen kerntechnischer Sicherheit berät.

Worum geht es? Nach wie vor – oder wieder mal – um die Wasserstoff-Flockenrisse im Reaktordruckbehälter-Stahl der Blöcke Tihange-2 und Doel-3, die bei mehreren Prüfungen seit 2012 als Ultraschallbefunde zu Tage getreten sind. Darüber ist in Deutschland viel geschrieben und gesendet worden. Vieles davon kommt vom WDR. Einiges von „Monitor“. Und das meiste davon ist sachlich mangelhaft und manipulativ aufbereitet. Wie dieses Filmchen, das dem beim WDR Üblichen aber in gewisser Weise die Krone aufsetzt. Beiträge dieser Art sind wesentlich mitverantwortlich für eine anhaltende Atom-Hysterie im Raum Aachen, die Bevölkerung und Behörden gleichermaßen erfasst hat.

Wie steht es wirklich in Tihange und Doel?

Zur Erklärung komplexer werkstoffwissenschaftlicher und kerntechnischer Zusammenhänge für ein Laienpublikum muss man einige Voraussetzungen erfüllen. Erstens braucht man ein gewisses naturwissenschaftliches Grundverständnis. Zweitens muss man die beschwerliche Lektüre hunderter Seiten von Fachliteratur und öffentlich verfügbarer Dokumente auf sich nehmen. Drittens muss man unabhängige Sachverständige finden, die ihre Karriere weder der Atom- noch der Energiewendewirtschaft verdanken. Viertens braucht man eine sachlich-kritische, neugierige Grundhaltung. Man darf den Betreibern von KKW nichts schenken – aber man darf sich auch nicht mit den Angst-Diskurskoalitionen der deutschen Atomkritik gemein machen.

Die meisten dieser Kriterien für guten Journalismus werden von den deutschen Medien, sobald sie sich über Kerntechnik auslassen, nicht erfüllt. Ich habe seinerzeit versucht, mit Blick auf Tihange und Doel den Qualitätsanforderungen nach bestem Wissen und Gewissen zu genügen und die Ergebnisse inklusive Nachweisen hier publiziert.

Seit dem 23. Mai 2018 gibt es eine neue Stellungnahme der RSK zu diesem Fall, welche meine Überlegungen im Wesentlichen bestätigt. Kurz zusammengefasst: Die in Frage stehenden Druckbehälter-Materialien sowie die Berechnungsgrundlagen ihrer Sicherheitsnachweise sind von mehreren internationalen Gutachtergruppen experimentell und durch Nachberechnungen geprüft worden. Die Sachverständigen kamen zu dem Schluss, dass die beobachteten Risse nicht während des Reaktorbetriebs infolge von Strahleneinwirkung entstanden und gewachsen sind, sondern seit Herstellung der inkriminierten Druckbehälter unverändert vorhanden waren.

Überdies stellten die Gutachter im Zuge einer Reihe von Berechnungen und werkstofftechnischen Experimenten fest, dass die Sicherheitsmargen der Reaktordruckbehälter trotz der Rissbefunde in Normalbetrieb wie in Störfalltransienten eingehalten werden. Es wurden strenge Prüfauflagen und technische Empfehlungen für den Weiterbetrieb der beiden Anlagen erlassen. Für die belgische Atomaufsicht war der Fall damit nach Jahren der Untersuchung hinreichend geklärt. Sie erteilte den beiden Anlagen im Herbst 2017 die Anfahrgenehmigung.

Wären Tihange und Doel in Deutschland genehmigungsfähig?

In Deutschland wäre womöglich eine andere Entscheidung gefällt worden. Das hängt mit den je nach Land unterschiedlichen Methodiken der Sicherheitsnachweise zusammen. Während man sich in Belgien und vielen anderem Ländern in nuklearen Genehmigungsverfahren vorwiegend auf Wahrscheinlichkeits-Sicherheitsanalysen einer konkreten Anlage stützt, gilt hierzulande ein sogenanntes „Basis-Sicherheitskonzept“ für druckführende Umschließungen und Werkstoffe in Kernkraftwerken, in dem solche Analysen nur einen Bestandteil unter vielen anderen ausmachen.

Folgt man einem solchen Konzept, beginnen Überwachung und Überprüfung des KKW bereits im Stahlwerk, bei der Komponentenproduktion und -dokumentation. Im belgischen Falle hätte also Electrabel, die Auftragnehmerin, die von Anfang an nicht befundfreien Druckbehälter beim Hersteller gar nicht abnehmen dürfen; sie wären verworfen und ersetzt worden. Würden bei einer deutschen Anlage im Nachhinein  Herstellungsmängel und, wie in Belgien ebenfalls passiert, eine Dokumentationslücke beim Hersteller festgestellt, hätte das ernste Folgen für die Betriebsgenehmigung – solange nicht andere Prinzipien der Basissicherheit eine Kompensation leisten können, etwa enger getaktete Prüfzyklen.

Das KANN bedeuten, dass Tihange-2 und Doel-3 in Deutschland die Betriebsgenehmigung hätte entzogen werden können, MUSS es aber nicht, da am Ende die Frage entscheidet, ob die Komponenten den in Betriebs- und Störfalltransienten anstehenden Belastungen standhalten können, und ob es genug kompensative Maßnahmen gibt, welche für genügende Sicherheitsmargen bei der Materialbelastung sorgen.

Wie andere Fälle zeigen, ist aber in Deutschland die Atmosphäre durch Desinformation derart vergiftet, dass schon geringere Ursachen als Materialfehler am Herzstück eines KKW den Entzug der Betriebsgenehmigung zur Folge haben können. Das Ende des norddeutschen KKW Krümmel wurde wegen eines Transformatorbrandes besiegelt, der nachweislich keine sicherheitstechnische Relevanz für die Anlage hatte. Treibende Kraft beim Krümmel-Zwangsausstieg war damals Dieter Majer, Ministerialdirigent unter den Bundesumweltministern Sigmar Gabriel und Jürgen Trittin, der heute für den WDR als Atomexperte fungiert.

Wir fassen zusammen: In Deutschland wäre aufgrund sehr strenger Genehmigungsauflagen, mehr noch aber wegen eines prinzipiell kernenergiefeindlichen politischen Klimas, die Betriebsgenehmigung für  Tihange-2 und Doel-3 höchstwahrscheinlich kassiert worden. Doch zum Leidwesen der deutschen politisch-medialen Anti-Atom-Koalition befinden sich diese Anlagen nicht in Deutschland.

Belgische Sichtweise nachvollziehbar

Mehr noch – die deutsche Reaktorsicherheitskommission folgte der Auffassung der belgischen Behörden im Mai 2018 nach einem längeren deutsch-belgischen Diskussionsprozess.  Demnach wurden alle offenen Fragen der RSK bis auf eine geklärt und „geschlossen“. Die RSK erhofft sich jedoch nach wie vor eine größere experimentelle Absicherung der belgischen Berechnungsmethoden für Rissfelder („Offene Punkte“ 1a

und 1b in der Stellungnahme). Die RSK sieht hier Klärungsbedarf für komplexe mehrachsige Belastungsfälle und Wechselwirkungen zwischen Rissen.

Die RSK-Stellungnahme ist kein Sicherheitsnachweis auf Grundlage eigener Forschung und somit keine Grundsatzaussage über die Sicherheit der belgischen Anlagen. Diese zu bewerten, gehörte nicht zu ihrem Prüfauftrag. Aber sie bestätigt die belgische Sichtweise als nachvollziehbar.

Diese komplexen, trockenen und gänzlich unsensationellen Befunde könnten nun dazu beitragen, den Puls der Aachener wieder auf Normalmaß zu bringen. Doch da hat die nüchterne Wissenschaft die Rechnung ohne die deutschen Wirte gemacht: ohne die Anti-Atom-Bewegung, welche in Belgien ihr letztes nennenswertes Mobilisierungsfeld sieht; und ohne die NRW-Behörden, welche auf diesem Gebiet Gratismut und Handlungsfähigkeit demonstrieren können, indem sie Jodtabletten einlagern und verbal wie gerichtlich gegen die belgischen Anlagen vorgehen. Vor der Front der Energiewende-Standort-Chauvinisten marschiert der NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU), der als treuer Merkelianer auch ein großer Fan des Atomausstiegs ist, jedoch selber nicht weiß, woher nach dem aktuell außerdem noch betriebenen Kohleausstieg der Strom in NRW herkommen soll. Am Ende wahrscheinlich aus Tihange.

Die große Atommafia-Intrige

Last not least haben wir nicht mit dem WDR gerechnet. Die jüngste Blüte im WDR-Atomangst-Sumpf ist visuelle Manipulation pur, wie sie in jedem Propaganda-Lehrbuch stehen könnte – allerdings einem des vorigen Jahrhunderts. So primitiv sind nämlich die stilistischen Mittel.

In einem Trickfilm wird zunächst aus „Haarrissen“ im Nullkommanix eine Hochdruck-Kernschmelze, die ganze Landstriche, insbesondere Aachen, unbewohnbar macht. Das Ganze wird von dräuender Musik begleitet. Dann folgt ein Reenactment im Camorra-Stil, das abgestandener nicht sein könnte. Man sieht sich reibende, knetende, goldberingte Hände in Nahaufnahme, deren anonyme Besitzer, von Gewissensbissen geplagt, Böses aushecken. Dann folgen durch die Jalousie gefilmte, verwackelte Kamerablicke auf Dunkelmänner, die sich über irgendwas absprechen. Schließlich darf der RSK-Vorsitzende einen Satz sagen – eben jenen, demzufolge die Kommission keine Sicherheitsaussage über die belgischen Anlagen mache, weil das weder ihr Auftrag noch ihr Aufgabenumfang sei.

Dieser Satz bleibt im Raume hängen, unterlegt vom Donnergrollen der Musik. Und sagt uns so, was wir zu denken haben: da schleicht sich einer aus der Verantwortung, da sagt einer unter Zwang, wahrscheinlich mit der Pistole eines Atom-Killers am Hals, das Gegenteil dessen, was er denkt: „Natürlich sind diese Anlagen nicht sicher, aber was soll ich tun, ich darf‘s ja nicht sagen, sonst erschießen sie meine Familie, tun mir Plutonium in den Tee, und lösen mich in Säure auf!

Das alles dient einem guten volkspädagogischen Zweck: auch der Dümmste und Taubste im Pensionisten-Publikum des „Monitor“ wird so die Botschaft von den Intrigen der Atommafia verstehen. Merke: Korrupte Belgier, RSK, Bundesregierung verbergen vor uns, dass Tihange-2 morgen in die Luft fliegen wird.

Aber inmitten des fast-schon-Super-GAUs wächst das Rettende auch, wie immer beim WDR. Statt die jahrelangen gutachterlichen Ermittlungen der belgischen Seite auch mit nur einem Satz zu erwähnen, lässt der Film am Schluss die „internationalen Experten“ einer Stoppt-Tihange-Veranstaltung sprechen, die im Gegensatz zu den Gutachtergruppen der belgischen Seite allerdings nie an Originalmaterial geforscht haben. Dafür sind sie sämtlich als jahrelange treue Grünen-Gutachter aktenkundig. Und fordern daher erwartungsgemäß die sofortige Abschaltung „dieser Dinger“ (O-Ton ex-Umweltministerin Barbara Hendricks im Film).

Ja, der WDR und seine Atom-Dinger: ihre Produzenten halten uns für richtig blöd. Denn das alles ist so weit weg von qualitätvoller und faktengetreuer Berichterstattung wie eine deutsche Pommesbude von einer belgischen Frites-Manufaktur. Es ist so schlampig gemacht und so parteiisch gedacht,  dass ich mich frage: warum soll ich eigentlich Rundfunkgebühren für Propaganda-Mist wie diesen zahlen, wenn ich dasselbe Geld direkt an Greenpeace überweisen kann? Die machen sowas, rein technisch gesehen, nämlich viel professioneller.