Früher kannte ich Juden nur aus der Bibel und dem Geschichtsunterricht. Bis zu meiner Zeit in Israel waren sie für mich eine Art Fabelwesen.

Das erste Mal, dass ich von Juden gehört habe, dürfte im Religionsunterricht in der Grundschule gewesen sein – als eines dieser Märchenvölker wie die Kanaaniter, die Philister oder die Elben, die irgendwann vor langer Zeit in einem fernen Land gelebt haben. Mit mir und meinem Leben hatten diese Geschichten nichts zu tun.

Später dann, im Geschichtsunterricht, erfuhr ich, dass Juden nicht nur in der Bibel vorkommen, sondern auch mal in Deutschland heimisch waren, bis sie irgendwann in der Zeit, als meine Großeltern jung waren, verschwanden. Mit dem Wissen über die Schoah wurde die Existenz von Juden für mich zwar zunehmend realer, doch blieben sie dabei immer Figuren aus Geschichten und Geschichte, Figuren mit einem ziemlich eingeschränkten Repertoire von Eigenschaften: traurig, klug, verletzlich, gejagt, getötet, ausgestorben. Manchmal kamen sie im Fernsehen vor, aber getroffen habe ich nie einen. Damit waren sie für mich ein bisschen wie Fabelwesen, wie Einhörner.

Mein erstes Einhorn lernte ich im Sommer 2008 kennen. Gal war Scharfschütze und Nahkampf-Ausbilder bei der israelischen Armee, bevor er Jura an der Universität Haifa studierte. Als ich im dortigen Studentenwohnheim eintraf, machte mein neuer Mitbewohner gerade mitten im Wohnzimmer fast nackt zu wummernden Techno-Beats seine Fitnessübungen. Gal war laut, streitlustig, selbstbewusst und insgesamt alles andere als ein Einhorn (außer vielleicht bei der Ernährung: Er ist Veganer).

Von meiner Angst, die scheuen Wesen durch lautes Sprechen deutscher Wörter in der Öffentlichkeit zu verschrecken, wurde ich in Israel schnell geheilt. Niemand störte sich daran. Im Bus warf man uns keine bösen Blicke zu. Die Israelis waren viel zu beschäftigt damit, in ihre Handys zu brüllen und den gesamten Bus an ihren intimsten Familiengeschichten teilhaben zu lassen. Als ein deutscher Student auf dem Campus der Uni Haifa erstmals eine Hitler-Parodie zum Besten gab, zuckte ich noch zusammen. Kurz darauf erlebte ich dann, dass die Holocaust-Witze unter den Studenten des Historischen Seminars der TU Braunschweig gegenüber denen, die meine neuen israelischen Freunde erzählten, geradezu harmlos waren.

Nach Monaten in Haifa, Jerusalem und Tel Aviv, wechselnden israelischen Vermietern, Gastfamilien und Mitbewohnern und dem Feiern von Gals Hochzeit haben Juden das Märchenhafte für mich mittlerweile verloren – auch wenn der glänzend-glitzernde Silber-Metallic-Anzug des Trauzeugen an dem Abend durchaus etwas Fabelhaftes hatte. Bei meinen Sprachkursen habe ich Juden aus den USA, Kanada, Südamerika, der Schweiz, Griechenland und vielen anderen Ländern kennengelernt. Die meisten mochte ich, manche waren mir unsympathisch. Ganz normal eben, so normal, dass es mich zuletzt in Tiflis, im fremden Georgien, wo ich mich mit fast niemandem verständigen konnte, wie von selbst zuerst zur Synagoge und dann ins nahegelegene koschere Restaurant zog. Hier konnte ich wenigstens die Speisekarte lesen und ein paar Worte mit dem Kellner wechseln.

Doch dass mein früheres Empfinden kein Exotismus eines auf dem Dorf aufgewachsenen Pastorensohns ist, merke ich manchmal bei der Arbeit. Die Tatsache, dass ich viel über Israel und über Antisemitismus schreibe, weckt – vermutlich zusammen mit dem Namen – vor allem bei jungen Kollegen gelegentlich eine leise Vermutung. Vorsichtig nähern sie sich dann meinem Arbeitsplatz, blicken auf die Kippa auf meinem Schreibtisch, die ich aus Israel mitgebracht habe und fragen zaghaft: „Bist Du eigentlich jüdisch?“, das letzte Wort dabei fast schon flüsternd. Noch vor 15 Jahren hätte ich mich an ihrer Stelle wahrscheinlich nicht einmal getraut, eine solche Frage zu stellen. Immerhin sind Einhörner selten, und man will sie nicht verschrecken. Wer Juden nur aus dem Geschichtsbuch kennt, kann schließlich nicht wissen, dass Gal sich wahrlich nicht so einfach verschrecken lässt.