Wenn keiner mehr Mainstream sein will, wo bleibt dann die Mitte? Um das geistig-politische Zentrum der Bundesrepublik ist es einsam geworden. Wir brauchen ein Navi für die Mitte.

Gegen den Mainstream zu sein, ist gerade ziemlich mainstreamig. Wer will schon gerne in der Mitte sein: die Rechten nicht, die Linken nicht – und schon gar nicht die medialen Hipster, die sich in einem fortwährenden Kampf gegen die Konvention befinden. Alles, was sie nicht sind, gilt als juste milieu! Als langweiliges Leben in der Komfortzone der Mittelmäßigkeit. Der Mainstream ist ein ziemliches Rinnsal geworden.

Und doch – man darf sich wundern – glauben viele, die vom Mainstream nichts wissen wollen, in der Mitte der Gesellschaft zu stehen. Das belegt auch eine Studie der Bertelsmann-Stiftung: „Die Mitte wird populistischer.“ Es ist wie beim berühmten Geisterfahrer: Alle benutzen die falsche Spur – nur ich nicht! Dieses seltsame Paradoxon hat schon der amerikanische Soziologe und Begründer der Neokonservativen, Seymour M. Lipset, festgestellt, als er 1967 den Begriff „Extremismus der Mitte“ prägte. Er bezog es auf die in lauter gegensätzliche Partikularinteressen zersplitterte Parteienlandschaft des liberalen Mittelstands während der Weimarer Republik: Zwergparteien, die sich um die Interessen von Bauern, Handwerkern, Händlern und Angestellten kümmerten und die – eingeklemmt zwischen den großen Interessenvertretungen von links wie rechts (KPD, SPD, DVP und DNVP) – praktisch über Nacht bedeutungslos und von der NSDAP aufgesogen wurden. Der von Zwangsversteigerung bedrohte Bauer radikalisierte sich und holte Fackel und Mistgabel aus der Scheune, weil er gegen die „Zinsknechtschaft“ der „jüdischen Banken“ aufbegehrte – so weit ist es derzeit nicht!

Krustenbildung am Rand

Doch, das zeigt auch die Landtagswahl in Bayern, die Erosion der Mitte hat begonnen: Der Jägerzaun als vorstadtprägende Landmarke des Mittelstands, hinter dessen gekreuzten Leisten sich die „Ruhe als erste Bürgerpflicht“ wie in einem Reservat ausbreiten durfte, hat ausgedient. Die Karawane zieht es in die Wüste – und zwar mit möglichst viel Krawall. Es scheint, als seien gewaltige Zentrifugalkräfte am Werk, die wie bei einer Pizza zu einer Krustenbildung am Rand führen. Zur Mitte hin wird der Teig immer dünner.

Doch wo sich eine Zentrifuge dreht, gibt es auch eine Achse – in Deutschland Merkel genannt. Sie muss weg. Da sind sich die Ränder einig. Aber wie auch schon Philipp Mauch bemerkte. Was wird aus denen, die „Merkel muss weg“ brüllen, wenn Merkel wirklich weg ist? Fehlt ihnen da nicht etwas zur Selbstvergewisserung? Denn bisher hat noch niemand außer den Kommunisten und den Neo-Nazis klar erklärt, was sie eigentlich grundlegend anders machen wollen. Die Wirtschaft brummt, die Integration schreitet voran, die Kriminalität ist am Sinken, die Welt bewundert Deutschland um die Kanzlerin und beschert ihr im internationalen Vergleich einen Spitzenplatz.

Militanz geht vor Content

Das Selbstverständnis der Merkel-Feinde definiert sich daher auch aus der Negation des Bestehenden. Das macht die Ränder zur beliebigen Manövriermasse für politische Abenteurer und Demagogen wie Höcke oder Wagenknecht, die im Echo-Raum des Internets ihr ewig gleiches Mantra von der Zerstörung des deutschen Volks verkünden. Antworten liefern sie keine. Statt konstruktiver Pläne und Programme haben sie nur unverbindliche, am sogenannten „Volkswohl“ definierte Wohlfühl-Phrasen im Gepäck. Konkret ist nur ihr ausgeprägter Wille zum Umsturz: „Die deutsche Unbedingtheit wird der Garant dafür sein, dass wir die Sache gründlich und grundsätzlich anpacken werden. Wenn einmal die Wendezeit gekommen ist, dann machen wir Deutschen keine halben Sachen“, lässt sich Björn Höcke in seinem neuen Buch zitieren und schlägt damit den Bogen von 1933 zu 2018: Militanz geht vor Content! Aktion vor Reflexion. Nationalpopulismus, ob er nun auf Rosenberg oder Dugin zurückgeht, hat nur ein Ziel: Er spaltet und grenzt alle aus, die nicht mit der Höckeschen (oder sollte man sagen Goebbelschen) „Unbedingtheit“ der Deutschen verschmelzen wollen. Nicht auszudenken, wenn die Achse bricht. Wohin werden die Fliehkräfte die neuen Sinnsucher tragen? Kein Hort. Nirgends!

Pluralismus in der Zentrifuge

Da stimmte es hoffnungsvoll, dass sich am vergangenen Wochenende in Berlin viele Menschen dazu bekannten, sich nicht spalten zu lassen, #unteilbar zu sein. Mit 40.000 hatten die Veranstalter gerechnet, über 200.000 kamen. Doch lag es an der schieren Größe, die auf manche unheimlich wirkte, lag es an der Ungeschicklichkeit respektive Voreingenommenheit der Veranstalter, die es zuließen, dass sich extremistische Trittbrettfahrer, MLPD-Rentner und terroristische Israelhasser von der PFLP, unter die 450 Einzelorganisationen einreihen durften? Kaum war das Riesen-Event vorbei, setzte auch schon das Standgericht ein und denunzierte alle, die hier auf dem „Horrormarsch“ mit „Muslimbrüdern Arm in Arm marschierten“ als #unheilbar. Pluralismus in der Zentrifuge. Extremisten sind immer die anderen. Was für ein Unsinn!

Mal davon abgesehen, dass rein statistisch bei 240.000 Teilnehmern auch jede Menge Verrückte am Start sind, von evangelikalen Impfgegnern über kurzsichtige Holocaustleugner, trotzkistische Räterepublikaner bis hin zu Mavi-Marmara-Omis und Volkshochschul-Intifadas; und mal ebenso davon abgesehen, dass die Veranstalter keinen Plan hatten, was sie für unteilbar hielten, aber besser abgeteilt sein sollte: Die meisten Menschen kamen nicht wegen der Initiatoren (ein berüchtigtes Missverständnis), sondern wegen der Botschaft. Denn der Charme und die Attraktivität von #unteilbar beruht nicht auf einer x-beliebigen Forderung, sondern auf der Vision von einer liberalen und offenen Gesellschaft, in der unterschiedliche Kulturen, Lebensweisen und Standpunkte ihren Platz finden können – solange sie selbstverständlich nicht gegen das Gesetz verstoßen. Eine Meta-Idee! Die Idee von Mitte.

Doch was ist Mitte! Die Quersumme aller Sitten und Gebräuche einer Nation, gerne auch als Leitkultur bezeichnet? Wohl kaum! Dann wäre in einer Gesellschaft mit einem hohen Anteil von Kannibalen die Menschenfresserei Leitkultur. Mitte ist, was sich die Mitglieder einer Gesellschaft als unverbrüchlichen Wert in die Verfassung geschrieben haben.. Etwas, was als ethische Maxime für alle gilt – und zwar über die Grenzen der Nation hinaus. Das kann, muss aber nicht zwangsläufig liberal sein, etwa wenn islamische Gesellschaften den Kampf gegen die Ungläubigen zur Staatsräson erheben.

Kant ist #unteilbar

Die Deutschen haben es da leichter. Sie haben Immanuel Kant. Und der hat in seiner „Kritik der praktischen Vernunft“, dem zweiten Hauptwerk des Königsberger Philosophen, mit dem „kategorischen Imperativ“ die universelle Idee einer offenen Gesellschaft entwickelt: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Wenn es also eine „Unbedingtheit“ gibt, dann die eines Gesetzes, das frei von Eigennutz und anderen spezifischen Einschränkungen allen dienen soll (so wie Du es selber wollen kannst) und damit eine allgemeingültige Basis für ein Miteinander vernunftbegabter Wesen schafft. Es ist klar, dass weder Rassismus noch Diskriminierung, weder Klassenkampf noch Revolution, mit dem kategorischen Imperativ vereinbar sind. Diese Allgemeingültigkeit ist als Gesetz #unteilbar. Kant lässt sich nicht spalten. Er ist die Achse des Guten.

Leider gehört er nicht mehr zur deutschen Leitkultur.