Deutschland feiert den 200. Geburtstag von Karl Marx und unser Gastautor Albrecht Kolthoff macht sich Gedanken, was Karl Marx für ihn mal bedeutet hat. Und nicht mehr bedeutet.

Durch den aktuellen Marx-Jubiläums-Hype bin ich mal wieder an etwas erinnert worden, das ich gerne als „Jugendsünde“ abheften würde – aber das wäre zu verniedlichend und dafür ist es doch zu bedeutsam gewesen. Im Nachhinein gesehen, bestand die „Sünde“ nicht darin, Marx zu lesen, sondern Marxist geworden zu sein.

Ich präsentiere das „Lied der Partei“ in originaler Textfassung (entstanden 1949), enthalten auf einer Langspielplatte der KPD/ML (für die Jüngeren: Vinyl-Platte). Irgendwo im Internet kann man die Lieder dieser Platte noch als MP3 herunterladen. Bei diesen Liedern ist auch meine Stimme auf der Aufnahme zu hören. Später fand diese auf Tonträgern konservierte Gesangskarriere leider keine Fortsetzung, obwohl ich dann und wann schon mal gerne mit Bruce Springsteen oder Shirley Bassey auf der Bühne gestanden hätte. Heute wird das „Lied der Partei“ zeremoniell nur noch von der Satirepartei „Die PARTEI“ benutzt, die ich zwar schon mal gewählt habe, für die ich aber noch nie gesungen habe.

Mir fallen dazu mit vierzig Jahren Abstand zwei Dinge ein, die ich unter dem Titel „Lob des Verstandes“ zusammenfassen möchte.

Erstens: Der menschliche Verstand ist so gestrickt, dass er nicht nur Dinge erfassen und erkennen will, sondern dass er sie auch in Zusammenhänge setzen will, Ursachen und Wirkungen erkennen will, ihnen sogar Sinn verleihen will. Dazu formt der Verstand sogar solche Hirngeburten wie Überzeugungen, Religionen, Weltbilder, Weltanschauungen. Großartige Sache, wozu kein anderes Lebewesen auf diesem Planeten in der Lage ist.

Von all dem, was auf dieser Schallplatte zu hören war, war ich vollkommen überzeugt, das war meine Weltanschauung. Ich war mir ganz sicher, dass es um Frieden, Freiheit, Völkerfreundschaft, klassenlose Gesellschaft und Freibier bis zum Abwinken geht.

Zweitens: Der menschliche Verstand ist so gestrickt, dass er beim Auftreten von Widersprüchen solcher Überzeugungen und Weltanschaungen mit der erfahrenen Wirklichkeit in der Lage ist, den Widerspruch überhaupt erst einmal als solchen wahrzunehmen („kognitive Dissonanz“) und dann die nötigen Schlüsse daraus zu ziehen. Die nötigen Schlüsse können nun zweierlei Art sein:

A) Die Wirklichkeit muss den Ideen angepasst werden. Das geht natürlich nur mit Zwang und Gewalt. Das ist allerdings nicht grundsätzlich verkehrt: Wenn ich die Idee von einem Wasserkraftwerk habe, das eine ganze Stadt mit Licht und Wärme versorgen kann, dann muss ich der Natur Zwang und Gewalt antun (in vernünftigem und gefahrlosem Ausmaß, selbstverständlich). Will ich dagegen Menschen und ihr Verhalten an meine Ideen anpassen, dann bedeutet Zwang und Gewalt unweigerlich Herrschaft des Terrors und Massenmord.

B) Die Ideen müssen der Wirklichkeit angepasst werden. Auch das ist nicht grundsätzlich entweder falsch oder richtig. „Ein Wasserkraftwerk ist nur eine Idee, die wir niemals in der Wirklichkeit durchsetzen können und sollen“ ist natürlich Unfug; eine Art umgedrehter Marxismus oder Modernismus. Richtig ist es auf jeden Fall, wenn wir an das Zusammenleben von Menschen denken und auf Zwang und Gewalt so weit gehend wie möglich verzichten wollen.

Die Sache mit den kognitiven Dissonanzen

Gott (an den ich nicht glaube) sei Dank (aber gedankt sei ihm trotzdem) war ich in der Lage, kognitive Dissonanz zu erkennen und sie fruchtbar umzusetzen. Was dabei herauskam, ist jemand, der immer wieder Dinge in Frage stellt (auch sich selbst, weiß Gott), der grundsätzlich skeptisch ist, der gerne streitet und auch mal stänkert. Und der begriffen hat, dass nur eines im Zusammenleben der Menschen Sinn verdient, so unterschiedlich und nicht-uniform sie auch sind: Das nennt sich, mit mehreren Begriffen als ein Kontinuum des Guten umschrieben, Respekt, Freundschaft, Zusammenhalt, Liebe.

Wer von sich oder Anderen behauptet, immer recht zu haben, der ist auf dem Weg zum Menschenfeind. Oder dort schon angekommen.

Manchmal denke ich heute, an Marx wäre vielleicht – ohne solche Marxisten wie Lenin – eine Art gesellschaftspolitischer Samuel Hahnemann verloren gegangen. Wer den nicht kennt: Das war ein Quacksalber des 18. und 19. Jahrhunderts, der als Gründervater der so genannten Homöopathie gilt. Ein offensichtlicher Unsinn, der allen wissenschaftlichen Erkenntnissen und sogar dem so genannten gesunden Menschenverstand zuwider läuft, der aber trotzdem bis heute zahlreiche glaubende und praktizierende Anhänger hat.

Die Homöopathen unterscheiden sich von Marxisten aber schon: Erstens haben sie keinen Hahnemannismus gegründet, sondern sich vor allem ziemlich an die wunderlichen und verschrobenen Hahnemann-Rezepturen gehalten, die im besten Fall unschädlich sind; zweitens haben die Hahnemann-Anhänger wenigstens keine organisierten Massenmorde begangen, so wie Marxisten verschiedener Couleur.

Wären also keine Marxisten gewesen, dann würde Trier heute vielleicht mit einer Gedenkplakette an einem Haus, in dem er geboren wurde, eines verschrobenen und wunderlichen Autors gedenken, und damit wäre es gut gewesen.

„Diese Woche wird also die Scheiße fertig.“
(Karl Marx über „Das Kapital“, im August 1867)

„Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist.“
(Wladimir Iljitsch Lenin, 1913)

„Wie kann man Menschen empfehlen, dass sie ihr kurzes Leben, statt es zu genießen, mit dem »Kapital« vertrödeln?“
(Wolfgang Pohrt, gewesener Marxist, 2012)

Und nun feiert mal schön den Marx-Geburtstag, ihr großen Erinnerer, weil ihr ja weder als Verächter noch als Huldiger so richtig verstanden habt, was Marx vom Marxismus unterschied, nämlich nicht immer recht haben zu müssen. Darauf bestehe ich, und damit habe ich immer recht.

Übrigens: Am 10. April 2055 ist der 300. Geburtstag von Samuel Hahnemann, und der wird dann mit einer Gedenkplakette in Meißen begangen, und damit ist es dann auch gut. Ich werde da nicht extra hinfahren. So viel Verstand muss sein.

 

Weiterführende Links:

800 Seiten, die die Welt veränderten
Von Nikolaus Piper
Vor genau 150 Jahren erschien eines der wichtigsten Bücher der Wirtschaftsgeschichte: „Das Kapital“ von Karl Marx. Aber was sagt es uns heute?

So liberal war Marx
Von Dietmar Dath
Er forderte, die Regierung möge sich aus dem Schulwesen heraushalten, und glaubte an das Produkt aus Talent und Fleiß: Marx’ Umgang mit der Idee der individuellen Freiheit ist aktueller denn je. Ein Kommentar.

Zum 200. Geburtstag des großen Historikers, Ökonomen und Sprachkünstlers Karl Marx
Von Ralf Fücks
Marx war ein Kind des deterministischen Zeitalters.

 


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