Der Terror des kleinen Mannes
Seit dem Anschlag in Toronto vergangene Woche hört man immer öfter von „Incel“. Unsere Autorin hat eine Analyse der Szene verfasst und erklärt, wie eine frauenfeindliche Verschwörungstheorie terroristische Anschläge inspiriert.
Es ist richtig, dass sich immer mehr Nachrichtenportale entschließen, den Massenmord, der Ende April in Toronto verübt wurde, als terroristischen Anschlag zu bezeichnen. Ein junger Mann, 25 Jahre alt, hatte einen Lastwagen in eine Menschenmenge gelenkt. So tötete er zehn Personen und verletzte weitere 15. Im Zusammenhang mit der Tat wird jetzt oft die sogenannte „Incel“-Ideologie umrissen, die der Täter Alek Minassian in seinem Bekenner-Facebook-Post erwähnt:
„Private (Recruit) Minassian Infantry 00010, wishing to speak to Sgt 4chan please. C23249161. The Incel Rebellion has already begun! We will overthrow all the Chads and Stacys! All hail the Supreme Gentleman Elliot Rodger!“
Auf das „Incel“-Phänomen hätte eine breite Öffentlichkeit schon viel früher hingewiesen werden können. Schon seit einem Jahrzehnt, also vor Elliot Rodger, der 2014 bei seinem Amoklauf sieben Menschen tötete und unter manchen Incels Kultstatus genießt, warnen Journalisten, Wissenschaftler und Aktivisten, die sich mit diesem Gedankengut auseinandersetzen, vor dem Gewaltpotenzial der Szene. Ich habe gezögert, einen weiteren Text über diese Bewegung zu schreiben, die – ähnlich wie andere problematische Netzphänomene, beispielsweise Pro-Ana-Seiten, Islamisten-Netzwerke oder Breitbart – umso populärer wird, je mehr die Mehrheitsgesellschaft sie verurteilt. Gleichzeitig wirbt „Incel“ vor allem um verwundbare männliche Teenager, deren unreife Vorstellungen von Sex, Beziehungen und Männlichkeit von der Community validiert werden und die vor allem auf die Überheblichkeit und den Manichäismus der Gruppe anspringen, die sich in einer derart intensiv codierten Sprache ausdrücken, dass nur Eingeweihte ihre Aussagen überhaupt verstehen können.
Ich werde deshalb versuchen hier darzulegen, wofür ich Incel halte, woran man Incel erkennt und wieso es so verdammt gefährlich ist.
Nicht bloß sexuell frustrierte Männer
Incel (= Involuntary Celibacy) war eigentlich einmal ein legitimes Anliegen. Es war von seiner Gründerin als Ort gedacht, an dem Menschen, die unfreiwillig ohne Sex oder Partnerschaft leben, einander trösten und helfen können. Dass es hierfür ein Bedürfnis bei beiden Geschlechtern gibt, zeigen beispielsweise die deutschen „Absolute Beginners“, bei denen Unterstützung und Selbsthilfe im Vordergrund stehen. Dazu gehört auch, Betroffene zu ermutigen, nicht zu verbittern und Wege zu finden, ihr Leben auch ohne einen Partner lebenswert zu machen.
Im Gegensatz hierzu haben manche Incels unter Zuhilfenahme kruder behavioristischer und evolutionsbiologischer Thesen ihre Sexlosigkeit zum Zentrum eines ganzen verschwörungstheoretischen Weltbildes gemacht. Diese Verschwörungstheorie interpretiert die Entscheidungsgewalt von Frauen über ihren eigenen Körper als gegen Männer gerichtetes Machtinstrument. Durch das Gewähren und Verweigern von Geschlechtsverkehr aber auch emotionaler Nähe kontrollieren sie angeblich Männer, was in sämtliche Bereiche der Gesellschaft, Kultur, Politik und Wirtschaft ausstrahle. Der Feminismus habe diese triebgesteuerte Machtpolitik erst entfesselt und gleichzeitig ein Redeverbot über dieselbe durchgesetzt. Diese Ausprägung von Incel hat deshalb sehr wohl einen politischen Anteil, auch, wenn die Anhänger selbst oft äußern, nicht politisch sein zu wollen.
Während es auch Anhänger dieser Thesen gibt, welche die angeblich evolutionsbiologisch begründeten Mechanismen des „sexuellen Marktes“ zu ihren Gunsten einsetzen möchten (zu deutsch: Frauen manipulieren, damit sie mit ihnen schlafen), sehen die Incels sich als die Ladenhüter dieses Marktes: zu hässlich, krank oder langweilig, um jemals das Interesse einer „Stacy“, d.h. einer modernen Frau, zu erregen. Diese Opferrolle kann sich bis zum Verfolgungswahn steigern: Einige Incels sind der Überzeugung, dass die Mehrheitsgesellschaft sie stante pede ermorden würde, wenn sie könnte. Unattraktive Männer seien also die eigentlich unterdrückte Gruppe.
Attraktive Männer – oder zumindest das, was Incel dafür hält – werden so sehr gehasst wie sie verehrt werden. Der „Chad“, so der Fachterminus, ist die Apotheose des Männlichen, trotzdem ist er ein armer Lauch, weil er von den Frauen nur benutzt wird. Chad, das ist ein unerträglicher Aufschneider, ein Tyrann und ein vom Schicksal verwöhnter Schlafwandler.
Black Pill – so nennen Incels ihre Ideologie – vermittelt einen angeblich desillusionierten, realistischen und rationalen Blick auf die Gesellschaft, der als herausragendes Merkmal und einziger Vorteil einer postulierten Underdog-Position herausgestrichen wird. Deshalb werden viele Klassiker der Misogynie („nein heißt ja“, „Frauen sind geistig unterentwickelt“, „Frauen sind Schuld an Geschlechtskrankheiten“ usw.) und pubertäre Sexmythen mit pseudowissenschaftlichen Argumenten und handverlesenen Studien belegt und zur „objektiven“ Wahrheit erklärt.
Als wäre das nicht genug, hat Black Pill auch rassistische Aspekte: „Tyrone“ nennt sich die schwarze und deshalb natürlich exorbitant bestückte Version von Chad. In der europäischen Szene besetzt diese Position der virile, serienvergewaltigende Araber. Manche gehen sogar so weit, zu behaupten, die Flüchtlingskrise sei die geplante Akquise der arabischen Tyrone und somit letztlich die gezielte Ausrottung des weißen, schwächlichen „Untermenschen“. Derlei Ansichten sind mit Überschneidungen in der Terminologie der Grund, wieso manche Wissenschaftler, die sich mit dem Phänomen beschäftigen, Incel in den Gesamtzusammenhang der „Alt-Right“ einordnen.
Black Pill ist aber an sich sehr flexibel und wie jede Verschwörungstheorie in der Lage, auch Widersprüchliches scheinbar schlüssig auf einen Nenner zu bringen. So ist sowohl die Hausfrau als auch die Karrierefrau ein Problem. Die eine, weil sie sich faul versorgen und den Ehemann sexuell hungern lässt, die andere, weil sie trotz eigenem Einkommen Geschenke verlangt. Egal, was eine Frau tut, oder sagt: Alles ist nur Teil der übergeordneten Machttaktik – und bestätigt damit die Richtigkeit des geschlossenen Weltbildes.
Schlittenfahrt mit der männlichen Psyche
Die Incel-Foren sind voll von klinisch relevantem psychischem Verhalten. Da sind zum Beispiel Nutzer, die seitenlange Essays über ihre eigene Hässlichkeit verfassen und täglich mehrmals ihren Körper vermessen, um ihn mit den angeblich objektiven Idealmaßen zu vergleichen. Es sind Männer mit unbehandelten Depressionen, Aggressionsstörungen, Autismus, Kindheits- und Beziehungstraumata usw. Die gehen fest davon aus, dass die Gesellschaft kein Verständnis für das psychische Leiden von Männern aufbringe und dass sie, würden sie sich das eigene Hilfsbedürfnis eingestehen, ausgelacht würden. Therapien seien zudem nur ein Versuch, sie für ihren herausragenden Durchblick auch noch zu pathologisieren, umzuerziehen und – Höchststrafe – zu verweiblichen. Es ist wahr, dass der gesellschaftliche Umgang mit (psychischer) Männergesundheit problematisch ist und sich dringend ändern muss. Aber die Einsicht, dass hier die Wurzel ihres Problems liegen könnte und sie viele Verbündete in diesem Anliegen finden könnten, fehlt vielen Incels völlig, weil sie ihrem Männer- und Frauenbild diametral zuwiderläuft. Schließlich glauben sie, Frauen würden sich als kreischende Harpyien auf jeden Mann stürzen, der dem utopischen Incel-Standard nicht genügt.
Da viele der Anhänger mangels Übung eine absolut unterirdische soziale Kompetenz aufweisen, finden die ernsthaft kranken Incels auch bei ihren Peers oft keinen Trost, sondern werden mit „Witzen“ wie „Kill yourself“ oder „go ER“ (Elliot Rodger) weiter in ihre Psychosen getrieben. Die einzige adäquate, „maskuline“ Reaktion auf ihre Misere ist eine unbändige Wut, die sich in Gewaltphantasien Bahn bricht.
In dieser Echokammer werden die Grenzen dessen, was Gewalt, was Ernst oder Scherz, was gesund, krank oder verhältnismäßig ist, immer weiter verschoben. Sehr viele Männer, die aus Einsamkeit in diesen Strudel geraten sind, aber die verschwörungstheoretischen oder gewalttätigen Ansichten nicht teilen, verschließen ihre Augen bewusst vor diesen Anteilen, weil ein Ausstieg sie ihres einzigen sozialen Umfelds berauben würde. Andere entschuldigen sie als Ausdruck der Verzweiflung und in den besser moderierten Gruppen werden sie immerhin kommentarlos gelöscht. Es ist eigentlich nur ein kleiner Anteil der gewaltbereiten Incels, aber der Hintergrundchor sich selbst lautstark bemitleidender Männer ermächtigt und bestärkt sie.
Wieso werden Incels Terroristen?
In seiner gefährlichen Variante vereint Incel den Hochmut und die Sturheit des Verschwörungstheoretikers mit der emotionalen Labilität eines zutiefst verletzten und vereinsamten Pubertierenden.
Wir haben es hier anders als bei Flat-Earthern oder Chmtrailaposteln mit einem Phänomen zu tun, dem wahrscheinlich zehntausende Männer anhängen und das in zahlreichen Punkten an Bewegungen wie etwa die Alt-Right, ultra-konservative christliche und muslimische Medien und die Männerrechtsbewegung anschlussfähig ist, das aber auch den durchschnittlichen Anti-SJW-Troll anspricht. Gleichzeitig lehnt sich der Tonfall paradoxerweise an den des schrilleren Tumblr-Feminismus an.
Politisierte Anhänger von Incel betreiben jene Form von Informationsterror, die wir von der Alt-Right kennen. So werden beispielsweise Fakenews verbreitet, Memes mit Schock-Inhalten auf neutralen Seiten geteilt, Plattformen gekapert und jeder Bericht über die Bewegung, egal wie negativ, als weiterer Sieg gewertet.
Solche Incels suchen wie alle Verschwörungstheoretiker und Terroristen nicht die Sympathie einer Gesellschaft, die sie für grundlegend falsch halten, sondern deren Aufmerksamkeit.
Ihr eingeübter ritueller Selbsthass setzt die Schwelle für Suizid generell herab, der erweiterte Suizid ist durch die umfassende Entmenschlichung von nicht-Incels als Chads und Stacies gerechtfertigt und bietet den einzigen Weg zu anhaltendem Ruhm. Die Verehrung für Elliot Rodger in den schlechter moderierten Incelforen spricht Bände.
Deshalb töten Möchtegernmärtyrer wie Alan Minassian im Namen von Incel sich selbst und andere. So wie Christopher Harper-Mercer (2015), Elliot Rodger (2014) oder George Sodini (2008). Alan Minassian ist nicht der erste Incel-Terrorist, er ist kein Einzelfall und die Gewalttätigkeit ist im geschilderten Weltbild strukturell bedingt. Wie viele einzelne Morde, Körperverletzungen, Stalking-Fälle und Vergewaltigungen auf das Konto überdrehter Incels gehen, ist unmöglich zu sagen.
Frauenfeindliche Gewalt ist ein Hassverbrechen
Obwohl es solche eklatanten Beispiele organisierten Frauenhasses gibt, werden Straftaten mit frauenfeindlichem Hintergrund in Deutschland nicht als Straftat mit politischem Hintergrund erfasst. Dabei wäre die Zahl dieser Taten, die derzeit noch als Beziehungstaten oder Verbrechen mit Zufallsopfern gelten, ein wichtiger Indikator für die Bedrohung, die derartiges Gedankengut für unsere Gesellschaft darstellt. Frauenfeindlichkeit ist kein privates Motiv, und der zugehörige Terrorismus ist kein Angriff auf einzelne Frauen oder eine Nebenwirkung des Feminismus.
Er ist wie jeder Terrorismus ein Angriff auf die Grundfesten unserer Demokratie.
Er ist Terrorismus gegen Bürger.