Es liegt eine eigentümliche Stimmung aus Erstarrung und Gereiztheit über dem Land. Deutschland ist in den vergangenen zwölf Monaten wegen der Pandemie zu sich gekommen – und es hat ihm nicht gefallen, was es sehen musste. Das wäre jetzt die Zeit für einen bestimmten Spitzenpolitiker, die richtigen Worte zu sagen. Doch er sagt nichts. Warum?

Ein Seelsorger ist unbenommen eine sehr wichtige Person. Er unterstützt Menschen in Lebenskrisen, indem er ihnen zuhört, vielleicht sogar Halt und Orientierung gibt, gewiss aber den Beladenen etwas Kummer abnimmt. Wer will bezweifeln, dass sich in unseren Zeiten viele Menschen, die wegen der Corona-Pandemie durch Zukunftsängste, dem dauerhaften Gefühl der Ohnmacht und der Hospitalisierung angeschlagen sind, über tröstende Worte freuen? Allein, wer soll sie ihnen geben? Die Kirchen haben durch Skandale, unbeholfene Säkularisierung und enorme Mitgliederverluste an Autorität und Glaubwürdigkeit eingebüßt. Sie sind zu sehr mit sich selbst beschäftigt, und so hört ihnen einfach kaum noch jemand zu. Es gibt auch keine Intellektuellen mehr wie im letzten Jahrhundert, die mit einer Rede oder einem Interview den Ton der Zeit treffen und der Mehrheit eine Stimme geben können für das, was sie leidet und erhofft. Da ist es zunächst gar nicht so schlecht, dass sich ein Mann aufgemacht hat, den vakanten Posten – auch ohne Ausschreibung – zu übernehmen: Es ist Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. 

Seine Aufgabe ist ja vor allem, als oberster Repräsentant des Staates Reden zu halten. Jedes Jahr gibt es genug Jubiläen von Körperschaften, Lobbyverbänden und Institutionen im vorpolitischen Raum zu feiern, die sich mit dem Bundespräsidenten als Festredner geschmückt und geehrt sehen wollen. Dann kommen noch ein paar Gespräche und Vorträge auf Auslandsreisen dazu, wenn die Kanzlerin keine Zeit hat oder die Länder für größere Delegationsanreisen zu unbedeutend sind. Bitter genug, dass der Bundespräsident in den letzten Jahren nach Terroranschlägen gerufen werden musste, um den Angehörigen von Opfern Trost zu spenden; zuletzt beim Jahrestag des rassistischen Anschlags in Hanau. Dann ist der Bundespräsident in seinem Element und gibt den Seelsorger. Wer ihn allerdings mit – sagen wir – Barack Obama vergleicht, der macht das Manko, das jeder Politiker in Deutschland in sich trägt, schmerzhaft deutlich: nämlich das Fehlen von Empathie, Hingabe, Pathos. In Deutschland haben wir es lieber sehr zivil und distanziert staatstragend. Das entspricht auch gewiss der Mentalität des amtierenden Präsidenten. Doch das ist ein Problem.   

DIE GEZEICHNETEN

Bundespräsident Steinmeier ist wirklich niemand, der sich dem Publikum anwanzt. Er redet bei entsprechenden Gelegenheiten dem Publikum auch schon mal ins Gewissen. Aber wenn er mahnt, dann fällt dieses Mahnen wie Mehltau auf die Zuhörenden. Seine Appelle fühlen sich an wie die eines Trainers, der nach dem Spiel gefeuert wird. Sein Lieblingswort ist das „Wir“ in der Fassung, von der sich niemand angesprochen fühlt. Denn sein Sound ist bei jeder Gelegenheit immer der gleiche.

Nun hat Hans Magnus Enzensberger schon vor über 25 Jahren versucht zu erklären, warum die Politiker so sind, wie sie nun mal sind. Enzensberger nannte sie die „Gezeichneten“, nämlich nicht zu beneidende Zeitgenossen, die an etlichen Gebrechen und Zumutungen laborieren: Langeweile, dauernde Aktenlektüren, wortreiche Sprachlosigkeit, Selbstverleugnung in der Öffentlichkeit, Termindruck, Verlust der Freiheit, die Isolation bei gleichzeitiger Dauerpräsenz auf Bühnen und in Fernsehstudios – sie leiden also an einem politischen Hospitalismus, dem sich der Normalbürger niemals würde aussetzen wollen. Heute sind noch die Verführbarkeit durch den schnellen, unüberlegten Tweet hinzugekommen und die gleichzeitige Angst vor Shitstorms aus eben jenem Schattenreich asozialer Medien. 

DER FALSCHE SOUND

Aber je krisenhafter die Zeiten, desto kontrollierter, verzagter, nichtssagender wurden die Reden, vorgetragen in der Stimm- und Stimmungslage zwischen unterdrücktem Pathos, slim-fit-engem Amtsgebaren und zivilgesellschaftlicher Problemschwere. Dieser Sound ist bekannt, er wird für zivilisatorisch besonders reif gehalten. Es ist der Sound – des Evangelischen Kirchentages.

Er hat sich bei nicht wenigen in der politischen Klasse und vielen Meinungsmachern durchgesetzt. Man sollte ihn nicht völlig verwerfen. Er ist gut für das Gespräch, den Austausch von Meinungen und Argumenten. Aber nicht für die Einmischung, den leidenschaftlichen Vorstoß. Dafür braucht man zumindest einen Rest von Willen, das Amtskorsett bei besonders wichtigem Anlass auch mal zu lockern für den unverwechselbaren, individuellen Einschlag. In Steinmeier erkennt man sein Amt, aber nicht die Person des Präsidenten. Seine Amtsführung, sein Staatstragen ist ohne Eigensinn, doch jetzt wäre jemand wichtig, der nicht die bundespräsidentielle Verlängerung der großen Koalition ist. 

Das wäre unangemessen während der Pandemie und so kurz vor den Bundestagswahlen? Im Gegenteil, es wäre jetzt der richtige Zeitpunkt für eine oratorische Intervention. Denn die Menschen hungern nicht nur nach Freiheit und Normalität, sondern auch nach etwas wie Kritik und Ermutigung. Kritik – das ginge nicht nur, aber vor allem an die Adresse der Politikerinnen und Politiker der Großen Koalition. Die Liste der Versäumnisse und Fehler der vergangenen zehn, fünfzehn Jahre ist so lang wie bekannt, denn die Pandemie hat sie brutal offengelegt. Um nur einiges aufzuzählen: Die öffentliche Verwaltung ist so handlungsfähig wie ein Greis; die digitale Infrastruktur ist immer noch nicht konkurrenzfähig für das 21. Jahrhundert; die Bildungsinstitutionen sind zum Teil vernachlässigt wie nie seit den Humboldt’schen Bildungsreformen; die Selbstständigen und freien Künstler hat die Politik sowieso fast abgeschrieben. Doch was am schlimmsten ist: Die Verantwortlichen reagieren auf alle bislang geäußerte Kritik mit Selbstgefälligkeit und verkaufen ihre Behäbigkeit als vernunftgetragen. Sie finden keine passenden Worte mehr für und aus dem Desaster. Also fehlen ihnen die Vorstellung und ein Bild davon, was zu tun ist.

BRÄSIGKEIT UND PARADOX

Eben das macht es notwendig, dass das Staatsoberhaupt das Wort ergreift und die Regierung an ihre Aufgaben erinnert – und zwar nicht im Kaminzimmer, sondern in einer fulminanten öffentlichen Rede. 

Natürlich wusste die Kanzlerin, warum sie Frank-Walter Steinmeier zum Nachfolger von Joachim Gauck in Bellevue erkor. Joachim Gauck hatte sich am Mainstream und allgemein an manchen politischen Flausen gerieben, stand damit immer etwas außerhalb des Regierungsmilieus – Berlin und der Zeitgeist haben es ihm mit Naserümpfen und den üblichen Invektiven zurückgezahlt. Bei Steinmeier konnte Merkel sicher sein, dass er nicht irgendeine vornehme oder eitle Distanz zum Kanzleramt zeigen würde. Und diese Erwartung erfüllt er jetzt auch: Er bleibt wortreich stumm, obwohl so viel zu sagen und mancher Kopf zu waschen wäre, um die Berliner Bräsigkeit zu vertreiben. Stattdessen müssen wir mit dem Paradox leben, dass andere Länder erfolgreichere Strategien im Umgang mit dem Virus haben, wir aber alles richtig machen. Man kann natürlich auch mit dieser Selbsttäuschung irgendwie leben und weitermachen wie bisher. Aber damit setzen wir unsere Zukunft aufs Spiel. Denn es warten weitere Herausforderungen. Und wir sind mental, organisatorisch und technologisch nicht darauf vorbereitet.

EIN RUCK

Wir hatten an der Regierungsspitze in der Geschichte der Bundesrepublik nur zwei Visionäre – das waren Konrad Adenauer und Willy Brandt. Die anderen Kanzler kann man getrost als Pragmatiker bezeichnen, mit denen man mal besser, mal schlechter gefahren ist. Aber nun ist uns sogar der Pragmatismus abhanden gekommen. Wenn jemand nur auf Sicht fährt wie die Kanzlerin und ihre schwarz-rote Bundesregierung, dann kann es auch an der eigenen Sehschwäche liegen.

Politik soll nicht sedieren, sondern vorangehen. Daran müsste der Bundespräsident erinnern. Einer seiner Vorgänger, der Christdemokrat Roman Herzog, hat das in einem Moment seiner Amtszeit so gesehen. Es war der April 1997, als ihm der Kragen platzte und er sich in seiner berühmten Rede im Hotel Adlon die schwarz-gelbe Koalition im Besonderen und das Land im Allgemeinen vornahm. Hier zum Wiederaufruf ein kleines Potpourri an Zitaten: 

„Was sehe ich dagegen in Deutschland? Hier herrscht ganz überwiegend Mutlosigkeit (…). Ein Gefühl der Lähmung liegt über unserer Gesellschaft. (…) Der Verlust wirtschaftlicher Dynamik, die Erstarrung der Gesellschaft, eine unglaubliche mentale Depression – das sind die Stichworte der Krise. (…) Es geht um nichts Geringeres als um eine neue industrielle Revolution, um die Entwicklung zu einer neuen, globalen Gesellschaft des Informationszeitalters. (…) Wir brauchen wieder eine Vision. Visionen sind nichts anderes als Strategien des Handelns. Das ist es, was sie von Utopien unterscheidet. (…) Und ich vertraue auf unsere Gestaltungskraft. Glauben wir wieder an uns selber. Die besten Jahre liegen noch vor uns.(…) Zuerst brauchen wir weniger Selbstgefälligkeit. (…) Ich fordere auf, von anderen zu lernen, nicht sie zu kopieren.(…) Durch Deutschland muss ein Ruck gehen.“

Vielleicht kann der aktuelle Bundespräsident seine Rolle als oberster Seelsorger wenigstens mal für einen Tag ablegen. Es genügt nicht, Kerzen ins Schlossfenster zu stellen. Aus einer neu gewonnenen Souveränität könnte Autorität erwachsen. Er könnte, ja, sollte der Regierung und uns allen sagen, was Sache ist und was jetzt nötig wäre für eine bessere Zukunft. Er muss sich nur einen Ruck geben. Das sollte ihm das Land wert sein.