Ein Mord wird zum Cold Case – und Jahrzehnte später schließlich wieder aufgerollt. Die Gerichtskolumnistin Raquel Erdtmann berichtet von einem in jeder Hinsicht zermürbenden Prozess.

Eine alte Dame wird in ihrer Wohnung überfallen und verstirbt am folgenden Tag.

27 Jahre ist der Fall ein cold case. Dann glaubt man, endlich den Täter gefasst zu haben. Nach so langer Zeit ist die Beweisführung vor Gericht schwierig…

Siebenundzwanzig Jahre sind vergangen, seit Maria Heinrichson in ihrer Wohnung überfallen wurde. Der oder die Täter flüchteten durch die Terrassentür, als die Tochter Margarete nach Hause kam. Sie fand ihre neunzig Jahre alte Mutter ohnmächtig mit dem Rücken auf dem Boden liegend vor. Das Gesicht von zwei Kissen bedeckt, die Zahnprothese im Rachen. Margarete, Zahnärztin, fischte erst beherzt die falschen Zähne heraus, bevor sie dann kopflos zu den Nachbarn lief, um Rettung und Polizei zu rufen.

Sie hatten die gemeinsame Wohnung gerade erst bezogen, einen Telefonanschluss gab es noch nicht.

Die Polizei fand eine durchwühlte Wohnung vor, der Kriminaldauerdienst schickte Kollegen vom Raubdezernat vorbei. Die Spurensicherung stellte fremde Fingerabdrücke an der Terrassentür außen und auf Bankunterlagen in Maria Heinrichsons Zimmer sicher.

Die alte Dame wurde in das Universitätsklinikum gebracht. Sie war ansprechbar und schien den Angriff gut überstanden zu haben. Am Folgetag, gerade aus dem Röntgenraum geschoben, verstarb sie. Der Leichnam wurde zuerst in die Pathologie verbracht, bevor er in das Rechtsmedizinische Institut gelangte, ohne Krankenakten und nähere Information über die Begleitumstände. Bei der Obduktion wurden beidseitig gebrochene Kehlkopfhörner festgestellt, „Folgen massiver stumpfer Gewalteinwirkung gegen den Hals“.

Der Beginn eines Cold Case

Durch den Tod von Frau Heinrichson wurde der Fall nun als Raubmord eingestuft und die Mordkommission übernahm die Ermittlungen.

Das Automatisierte Fingerabdruck-Identifizierungs-System, AFIS, gab es damals noch nicht. Somit konnten die daktyloskopischen Spuren in keiner Datenbank verglichen werden. Ein Täter konnte nicht ermittelt werden. Siebenundzwanzig Jahre lag der Fall im Polizeipräsidium.

Die damals sichergestellten Fingerabdrücke waren mittlerweile in das neue System eingepflegt worden.

Mord verjährt nicht.

Siebenundzwanzig Jahre nach dem Geschehen beantragte Orhan Öztürk in Ankara ein Visum für Deutschland, aus dem er abgeschoben worden war, nach Verbüßen einer Halbstrafe wegen Vergewaltigung „in Tateinheit mit Wohnungseinbruchdiebstahl“; ein Einreiseverbot für zwanzig Jahre wurde damals verhängt.

Er hatte in der Türkei geheiratet, zwei Kinder bekommen. Nach einer abgebrochenen Schulausbildung in Deutschland, wo er als Sohn eines Gastarbeiters geboren war, hatte er in der Türkei eine Lehre zum Installateur gemacht. Nun wollte er sich um Arbeit in Deutschland bemühen und wandte sich wegen der Papiere an die deutsche Botschaft. Dort speiste man dafür seine Fingerabdrücke ein und die Beamten der Mordkommission in Frankfurt hatten endlich einen Namen für den cold case Maria Heinrichson. Orhan Öztürk wurde nach Deutschland ausgeliefert und kam in Untersuchungshaft.

„Ich fürchte, ich kann keinen Beitrag leisten“

Vor dem Landgericht beginnt der Prozess. Der damalige Leiter des Instituts für Rechtsmedizin, mittlerweile im Ruhestand, der Frau Heinrichson seinerseits obduzierte, sitzt als Sachverständiger in dem Verfahren. Er wird sich die meisten Verhandlungstage von seinem Nachfolger vertreten lassen. Orhans Verteidiger macht gleich zu Beginn klar, dass er von nichts anderem als einem Freispruch in diesem Verfahren ausgeht. Zu dünn die Aktenlage, Zeugen nach dieser langen Zeit unbrauchbar. Der kurze Auftritt des damaligen Ermittlers macht das deutlich. „Ich fürchte, ich kann keinen Beitrag leisten“, eröffnet er seine Einlassung, wie das vor Gericht heißt. „Ich weiß nicht, ob ich die Leiche gesehen habe, ob ich in der Wohnung war, ob ich am Tatort war. Ich hab fast 35 Jahre als Mordermittler gearbeitet. Ich weiß nicht, wie viele Leichen ich gedreht und gewendet habe.“ Erst nach dem Obduktionsgutachten sei die Sache an K11, die Mordkommission, gegangen. Orhans Verteidiger hält ihm Vermerke aus dem alten Vernehmungsprotokoll vor, um sein Gedächtnis aufzurufen. „Unglaublich, dass ich mich daran nicht erinnere“, kommentiert der Beamte ironisch, hingeworfen. Der alte Rechtsmediziner lacht mit ihm. Nicht besser die folgenden Beamten aus Raub- und Morddezernat. Einer versichert, sich wegen der Ladung noch die alten Lichtbilder angesehen zu haben, aber auch das habe „kein Erinnerungsvermögen abgeschöpft“.

Ein Polizist aus dem zuständigen Stadtteilrevier, zuerst am Tatort damals, ist geladen. „Erinnerungsmäßig ist da nichts übriggeblieben“, doch es gibt alte, von ihm gefertigte Protokolle, die verlesen werden. Sein Kollege und er hätten das Gefühl gehabt, dass „die Tochter in irgendeiner Weise die Hand mit im Spiel gehabt“ habe. Die wäre zwar planlos durch die Wohnung gelaufen, habe aber sonst „einen coolen Eindruck gemacht“. Außerdem, „als Ärztin die Mutter nicht mal in die stabile Seitenlage gebracht?“ Notiert hatte er auch: „Während ich mit Frau Heinrichson in dem Zimmer stand, in dem ihre Mutter schwerverletzt lag, sagte sie sehr gefasst: ‚Da liegt ja die Luftpumpe, mit der haben sie der Eule bestimmt eins übergezogen.‘ Die Aussage kam mir sehr merkwürdig vor. Sie war für mein Gefühl zu ruhig. Auch dass sie uns in der Wohnung erwartete, wenn sie annahm, dass der Täter noch in der Wohnung sei.“

Respekt und Angst

Sozialarbeiter des Viertels vor Gericht, die sich damals um dieses „schwierige Klientel“, zu dem Orhan gehörte, in dem „problematischen Stadtteil“ kümmerten. Harte Jungs, Kleinkriminelle allesamt und Drogen nicht abgeneigt. „Es hat da keiner ein Jahr ausgehalten in der Jugendeinrichtung. Die ganzen Sozialarbeiten haben auch alle mal den Kopf in die Toilette gesteckt gekriegt, wenn sie kein Bier holen gegangen sind.“ An Orhan persönlich – nur diffuse Erinnerung, gewalttätig sei der gewesen, die anderen hätten „Respekt“ vor ihm gehabt und seien dem aus dem Weg gegangen. Konkrete Geschichten nach der langen Zeit? Nein. Nur, „er war die Waffe selbst, er brauchte keine Waffen“.

Die Clique, mit der Orhan, mal mehr, mal weniger unterwegs war, ist nicht aufzutreiben, bis auf einen. „Dummheiten“ hätten sie gemacht, gemeinsam „durch Fenster in Wohnungen eingestiegen“ seien sie und hätten wechselseitig Schmiere gestanden. Massiv geschlagen sei Orhan worden von seinem Vater – wie sie alle. „Wir hatten zu Hause alle Probleme mit unseren Vätern, unsere Väter waren streng.“ Untereinander haben sie sich „weh getan. Ihm aber nicht“, denn „es hat dir einfach keiner geholfen, wenn man Ärger mit ihm hatte.“

Orhan schweigt.

Margarete, die Tochter der Toten, und ihre Söhne sind wiederholt im Zeugenstand. Nach der Befragung des einen, eine zweite des anderen. Seit siebenundzwanzig Jahren scheint kein Tag vergangen zu sein, an dem nicht über das Geschehen gesprochen wird. Ein geschlossenes System der Gedanken, Vermutungen und wechselnden Beschuldigungen. Neun und sechs waren die Söhne damals. Sie lebten mit Großmutter und Mutter zusammen, in einer Wohnung über Margaretes Praxis. Die neue Wohnung für sie vier hätte zumindest Arbeit und Privatleben entwirrt. Hans und Felix, 36 und 33 heute, studieren, noch oder erst. Medizin der älteste, Zahntechnik der jüngste. Sie leben immer noch bei der Mutter. Massiv, groß und weich gebaut sind sie alle drei, das Auftreten von Hans von irritierender, halb gezügelter Heftigkeit; die Mutter mit den klaren Formulierungen jahrzehntelanger Überlegungen, die keinen Adressaten und Widerspruch fanden, nur das Echo der eigenen Kinder. Ihre Vernehmungsfähigkeit wird angezweifelt, ein Sachverständiger soll sie begutachten. Hans unterstellt der Mutter Schizophrenie, Demenz, vielleicht doch nur Zuckerkrankheit, alles ohne Beleg. „Meine Mutter ist schon jemand, wo man viele Fragen stellen kann.“

„Kurz und knapp“ konstatiert ein psychiatrischer Sachverständiger, „keine Erkrankung“.

Ein Lichteinfall von der Terrassentür

Eine Stimme habe sie morgens gehört; die Eule, wie sie ihre Mutter alle nannten nach einer Augenentzündung, habe sie um Hilfe gerufen, laut und dringlich. Beunruhigt sagte sie hastig in ihrer Praxis Bescheid und war in Eile zu der neuen Wohnung gefahren. Durch das Strukturglas der Wohnungstür bemerkte sie einen Schatten, sicherlich einer der Möbelpacker, die an diesem Vormittag kommen wollten, leere Kartons von der neuen in die alte Wohnung bringen, um den restlichen Kram einzuladen. Die Tür zum Zimmer der Mutter bewegte sich, ein Lichteinfall plötzlich, der doch nur vom Bewegen der Jalousie vor der Terrassentür kommen konnte. Nachdem Margarete endlich die Wohnungstür aufgeschlossen hatte, sah sie die doch sicher morgens noch geschlossene Terrassentür offenstehen und fand ihre Mutter hingestreckt auf dem Boden davor. Die Sachen durchwühlt, Schmuck in ihrem eigenen Zimmer auf das Bett gekippt. Was fehlte – schwierig zu bestimmen, die Mutter „hat ihn ja nicht getragen und hatte da keinen Überblick“, so Hans. Vor Gericht wird wieder und wieder mit Margarete versucht, dem oder den „Schatten“, den Silhouetten, nachzuforschen, eine? Zwei? Denn „in der Regel“ sei der Mandant ja nicht allein eingestiegen, so der Verteidiger.

Wie einer Wahrheit, einer Wahrnehmung nachspüren, die sowieso stets unzuverlässig und von individuellem Gepäck hier und dorthin getrieben ist, und nun, hier, nach so vielen Jahren. „Wir haben halt wirklich viel darüber geredet“, so Felix, der Jüngere. 2013 habe die Mutter angefangen, alles aufzuschreiben, sagt Hans aus. „Das zeigt aber auch, dass sie mit der Geschichte nie abgeschlossen hat?“ Hans nickt heftig mit dem ganzen Oberkörper. Von Erbstreitigkeiten ist nun die Rede, der Onkel, Bruder der Mutter, sollte ja enterbt werden. Man hätte auf den Erbschein der Großmutter gewartet, um das Testament zu Margaretes Gunsten zu ändern. Und in dieser Zeit nun der Überfall. Viele Jahre später ein Schreiben an die Polizei, den Onkel belastend. Mit Gift in der Suppe schon Margaretes Vater erledigt zu haben, so die alte, glimmende Vermutung. Wie es zu diesem Schreiben kam, fragt der Richter. „Meine Mutter wollte diesen Verdacht loswerden, weil wir uns immer gefragt haben, wer macht so etwas, wer bringt eine neunzigjährige Frau um“, antwortet Felix.“ – „Haben sie an einen Auftragsmord gedacht?“ – „Wollt ich jetzt so nicht sagen. Aber ja.“

„Konkurrierende Todesursachen“…

„Was ich dazu sagen kann ist, dass die Familie schräg drauf ist“, so Hans.

Im Gesicht des jetzigen Direktors der Rechtsmedizin, seinen Vorgänger vertretend, ein ganzer Kurzfilm, Stoizismus und Augenrollen liefern sich ein Wettrennen. Der Ausgang des Verfahrens ist für ihn abzusehen.

Abgeklärt und lässig der damalige Obduzent, sein Vorgänger. „Verkannte Tötung steht hier nur handschriftlich von mir vermerkt.“ Das Ganze „ist nicht normal und sauber gelaufen“. Laut Akten eine „160 Zentimeter große, 52 Kilogramm schmächtige, alte Frau mit noch ausreichendem Ernährungszustand“, „Hirnsubstanzminderung“, die Organe „alt und geschädigt“. Beide oberen Kehlkopfgerüste gebrochen, „eine äußere Gewalteinwirkung, die nicht tödlich sein muss“. Ein „vorgeschädigtes System, dass durch Gewalt zum Zusammenbruch gebracht wurde“, fasst er zusammen. Die alles entscheidende Frage zur Kausalität zwischen Angriff und Versterben? Es gäbe „konkurrierende Todesursachen, keine fassbaren“. Dadurch, dass „wir 24 Stunden dazwischen haben, aber nicht wissen“, (mangels Klinikunterlagen), „was da geschehen ist, ist es schwierig, eine eindeutige Todesursache zu benennen“.

Mit dem abschließenden Gutachten seines Nachfolgers kommt das Verfahren für alle Beteiligten zu einem Ende. Nur nicht für Margarete und ihre Söhne, die heftig miteinander diskutierend den Gang vor dem Verhandlungssaal bespielen. Ein zäher, klebriger Film das Verbrechen, aus dem sich keiner und alle nicht voneinander lösen können.

…und ein Ende

„Die Frau hat Gewalt erlitten, das ist gar keine Frage. Eine sehr alte Frau, ein krankes Herz; es spricht vieles dafür“, dass der Angriff, „das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Ich gehe sogar davon aus. Nur, für die strafrechtlich an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit – dafür reichen die Befunde nicht aus. Es fehlt der klare Abwärtstrend.“ Maria Heinrichson war schließlich nach dem Überfall und der erwiesenen stumpfen Gewalt gegen den Hals wieder bei Bewusstsein. Auch zeigte sich bei der Sektion kein „hypoxischer Hirnschaden“ durch den Würgegriff.

Dass sein Mandant in die Wohnung eingestiegen ist, hält die Verteidigung anhand der Spurenlage auch für klar erwiesen, doch ist der Raub mittlerweile verjährt. Freispruch also. Die Staatsanwaltschaft beklagt, „dass Beweismittel und Unterlagen nicht so gesichert wurden, wie heutzutage“. Man könne davon ausgehen, „dass die Tat Orhan zuzurechnen ist…, aber kausal den Tod verursacht zu haben“ sei „eben nicht mit der erforderlichen Sicherheit festzustellen.“

Orhan wird freigesprochen und „ist für die erlittene achtmonatige Untersuchungshaft auf Kosten der Staatskasse zu entschädigen“.

Die Namen sind geändert.

Über die Autorin Raquel Erdtmann: Aufgewachsen in (Ost-)Berlin. Schauspielstudium an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main. Seit 2016 freie Autorin. Berichtet aus dem Gericht für die F.A.Z. (F.A.S.) Aktuelles Buch: »Und ich würde es wieder tun« Wahre Fälle vor Gericht (S.Fischer). Lebt und arbeitet in Frankfurt am Main.