Ob bürokratisch, umgangssprachlich oder einfach falsch – es gibt Wörter und Redewendungen, die es nicht geben darf. Im Lexikon der schlimmen Sprache werden sie gesammelt. Und danach hoffentlich für immer vergessen. Diesmal: Vater Staat und Mutter Natur.

DAS LEXIKON DER SCHLIMMEN SPRACHE

In diesem Land ist viel Aufregung. Meist lohnt sie nicht. Besser, sich über etwas zu echauffieren, das die Mühe wert und doch harmlos ist: verbrecherischen Sprachgebrauch. Inklusive Urteilsbegründung und Strafmaß.

FOLGE 9

Vater Staat und Mutter Natur

BEGRÜNDUNG

Zu den gängigen Stilmitteln der Sprache gehört es, abstrakte Begriffe und Themen zu vermenschlichen. Auf welche Weise dies geschieht, ist letztlich in ähnlicher Weise Moden unterworfen wie der Schnitt von Kleidungsstücken – allerdings überdauern stehende Begriffe ihre Zeit oft deutlich länger. Und sie verraten viel über das Denken (oder Nichtdenken) der Menschen, die sie verwenden. Ein grauseliges Exemplar einer vermenschlichenden Metapher, die nicht nur aus der Zeit gefallen ist, sondern immer schon falsch war, ist „Vater Staat“. Welche Beziehung hat bitte ein Mensch zu seinem Vater, wenn er den Staat mit demselben Begriff assoziiert? Und welche Vorstellung hat er von der Beziehung zwischen Bürger und Staat?

Staaten schicken Menschen schlimmstenfalls in den Tod, als Soldaten zum Beispiel, aber nie wurde ein Mensch vom Staat gezeugt. Das Bild bleibt auch dann schief, wenn man den Vater nicht als Erzeuger, sondern als Versorger sieht. Denn der Staat wird ursprünglich von seinen Bürgern versorgt, nicht umgekehrt. Staatliche Leistungen sind kein Taschengeld, sondern umverteilte Einnahmen aus den Taschen anderer Leute. Auch die konservative Interpretation, der Vater als hierarchisch übergeordnete und zugleich schützende Hand, passt nicht auf den Staat.

Auf dem Reichstag steht geschrieben: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“, während in keiner funktionierenden Familie die Macht von den Kindern verliehen wird. Väter können ihre Kinder nach dem Sandmännchen ins Bett schicken. Einfach so, ohne Begründung. Der Staat dagegen darf nur Regeln durchsetzen, die die Bürger über ihre gewählten Vertreter aufgestellt haben – und ändern können. Das ist keine neue Erkenntnis, aber vielleicht muss man manche nochmal daran erinnern, die nach einem Jahr Corona das Besuchen eines Restaurants als gnädig gewährtes Privileg interpretieren und nicht als Grundrecht, das wegen eines nachweislich eingetretenen Notstands vorübergehend außer Kraft gesetzt wurde. Der Begriff vom Vater Staat bündelt Dankbarkeit, Abhängigkeit und Unterwürfigkeit in einer Form, die selbstbewussten Bürgern nicht an- und demokratischen Staaten nicht zusteht. Und sprachlich ist er altbacken bis zum geht-nicht-mehr.    

Mutter Kirche ist tot, Mutter Natur lebt ewig

Der Gegenpart zu Vater Staat ist ideengeschichtlich übrigens Mutter Kirche. Aufgrund der fortschreitenden Säkularisierung unserer Sprache wurde dieser Begriff aber praktisch vergessen. Umso bemerkenswerter ist, dass ein historisch viel tiefer rührender Begriff dank vielfacher Wieder- und Neuentdeckung nach wie vor sehr populär ist: Mutter Natur.  

Während Vater Staat den Untertanengeist des 19. und 20.Jahrhunderts atmet, riecht Mutter Natur streng nach heidnischem Aberglauben, den selbst knapp drei Jahrtausende Monotheismus nicht überdecken konnten. Wie unpassend diese Vermenschlichung ist, erkennt man allein daran, dass Mutter Natur nie anruft und sagt: „Ich bin nicht sauer auf dich, ich bin nur enttäuscht“. Genau das erwarten viele vermutlich, darunter der Bundestrainer, wenn sie die Natur bzw. die Erde für eine Person halten, die „uns“ ermahnt oder straft – zum Beispiel, indem sie uns Corona schickt.

Unseren Planeten oder unsere Umwelt als „Mutter“ zu vermenschlichen, bleibt haltloser Öko-Kitsch. Als politisch-ideologisches Modell ist die Metapher potenziell sogar gefährlich, weil sie wissenschaftlich längst überholte Vorstellungen von einem natürlichen Zustand oder einem natürlichen Gleichgewicht am Leben erhält, die Menschen dazu bringen, Krebs mit dem Auflegen von Hermelinfellen heilen zu wollen.

Deshalb, ein für alle Mal: Jeder Mensch ist unauflöslich Teil der Natur, während er spätestens nach der Geburt nie Teil seiner Mutter ist. Die Natur hat zudem keinerlei Beziehung zu uns Menschen. Wir sind ihr vollständig egal. Sie nimmt und meint nichts persönlich. Die Erde ist nicht im Gegensatz zu uns „freundlich“, wie Herbert Grönemeyer in einem der dümmsten deutschen Popsongs aller Zeiten singt, und sie ist auch nicht „grausam“ – auch wenn man das denken könnte, wenn man sieht, wie Löwen ein Gnu-Baby in Stücke reißen. Wenn wir Menschen Knollen aus der Erde kratzen, will die Natur uns nicht füttern. Wenn wir an der Knolle elendig sterben, wollte die Natur uns nicht vergiften. Sie ist einfach da und denkt sich nichts dabei. Wer bei „Natur“ an seine Mutter denkt, gehört in Therapie.

HERKUNFT

„Vater Staat“ ist eine politische Metapher aus dem 19. Jahrhundert, die als Gegensatz zu „Mutter Kirche“ sowie als Personifizierung in sozialistischem oder konservativen Staatsverständnis gebraucht wurde. Heute taucht „Vater Staat“ vor allem im Wirtschafts- und Politikjournalismus als ironisch-auflockernde Wendung auf, die ihren Nutzer im Gegensatz zur beabsichtigten Wirkung als unbeholfen und verklemmt dastehen lässt.

Die Natur oder die Erde als Mutter ist ein uralte Vorstellung, die sich schon im Altertum finden lässt. Als kitschig-poetischer Begriff wurde „Mutter Natur“ laut Wikipedia vor allem im 19. Jahrhundert populär. Die moderne Umweltbewegung machte ihn sich seit den früher 1970er Jahren ebenfalls zu eigen, indem sie die Mutter-Erde-Philosophie der nordamerikanischen Ureinwohner mit neu interpretierten, möglicherweise auch schlicht gefälschten und mal diesem, mal jenem Indianerhäuptling angedichteten Zitaten zu einer politischen Ideologie formte.     

STRAFE*

Wenn Begriffe nicht nur sprachlich missglückt, sondern auch noch ideologisch fragwürdig sind, verdient ihre Verwendung die Höchststrafe. Also: In den See, mit einem Gewicht an den Füßen.

* Dr. Deutsch schlägt für das Verwenden schlimmer Wörter jeweils eine Körperstrafe vor. Sie ist an „Asterix bei den Schweizern“ angelehnt dreistufig: Fünf Stockhiebe, 20 Peitschenhiebe oder „In den See, mit einem Gewicht an den Füßen“. Dieser Vorschlag ist ein Scherz. Niemand muss sich darüber aufregen.

IM NAMEN DES VOLKES

Welches Wort hassen Sie? Welche Floskel macht Sie krank? Vorschläge werden jederzeit gern entgegengenommen.

ALLE WEITEREN FOLGEN DES LEXIKONS

Reden, wir müssen

Sohnemann

Gehangen statt gehängt

Räumlichkeit

Die Menschen da abholen, wie sie stehen

Abtanzen, abfeiern, ablachen

Gegenüber

Wir

US-Administration