Im Hamburger Speckgürtel hat es ein Scharlatan zum Vorsitzenden einer kleinen liberalen jüdischen Gemeinde gebracht. Der Hochstapler war insbesondere bei Journalisten sehr beliebt.

Es könnte eine Provinzposse sein, die Geschichte vom progressiven, in protestantischen Kirchenkreisen geschätzten Vorsitzenden einer kleinen liberalen jüdischen Gemeinde vor den Toren Hamburgs, der gar kein Jude ist, sondern aus pathologischem Geltungsdrang Märchen und Lügen verbreitet.

Doch die Geschichte des Wolfgang Seibert, die Moritz Gerlach und Martin Doerry im neuen „Spiegel“ erzählen, ist wesentlich mehr: ein Lehrstück, wie „progressive“ Medien sich völlig kritiklos von Seibert zu seiner Hetze gegen all das, was er nicht für jüdisch hält und hielt, instrumentalisieren ließen – ahnungslos – und auf Gegenrede hin auch noch die eigene Ahnungslosigkeit sowie die Seibert’schen Attacken aggressiv verteidigend. Nun sitzen sie da mit ihrem Vorzeige-Juden, der keiner ist, die Besserwisser von der „taz“.

22. Mai: In der taz Nord schreibt Petra Schellen einen „Vorbericht“ über die erste Ordinierung von fünf Rabbinern in Hamburg nach der Schoah. Der Text strotzt vor Fehlern und Vorurteilen. Der Träger „Chabad Lubawitsch“ sei eine „ultra-orthodoxe Sekte“, das Rabbinerseminar in Hamburg überflüssig, auch der Nazi-Terminus „gleichgeschaltet“ fällt in Schellens Text. Außerdem macht sie Stephan J. Kramer, den Verfassungsschutzpräsidenten des Landes Thüringen, zum Generalsekretär des Zentralrats der Juden. War er auch: bis Januar 2014 – und erwähnt, dass Jona Metzger, Oberrabbiner des Staates Israel, eigens zur Ordination nach Hamburg käme. Der Oberrabbiner kam tatsächlich. Nur heißt der David Lau und ist der Nachfolger Metzgers im Amt des aschkenasischen Oberrabbiners – seit Juli 2013 übrigens. Es hagelte Proteste gegen den ebenso inkompetenten wie tendenziösen Text der „taz“. Die entschuldigte sich redaktionell und nahm Schellens Opus magnum heimlich still und leise vom Netz.

30. Mai 2018: Die redaktionsinterne Schellen-Schelte scheint nicht sehr streng ausgefallen zu sein. Sie legt nach – diesmal soll ein „jüdischer“ Gesprächspartner ihre kruden Behauptungen untermauern. Auftritt Wolfgang Seibert, Darling einer linksbürgerlichen Szene, die Stolpersteine und Mahnmale hofiert, lebende Juden aber eher doof findet, wegen Palästina und so. Wieder geht es um die Rabbiner-Ordination – und Seibert ledert los: es folgt ein Stakkato an Verleumdungen und Unwahrheiten gegenüber der Gemeinde Hamburg und der reform-orthodoxen Bewegung Chabad Lubawitsch. Die undistanzierte Stichwortgeberei liefert Seibert auch noch jede Menge Munition, die Hamburger Gemeinde und deren Landesrabbiner öffentlich zu diskreditieren. Dass Seibert in seinem pseudolinken Narrativ jede Menge antisemitischer Stereotype bediente, merkte weder die Autorin noch irgendein Verantwortlicher in der Redaktion. Erneut erreichten die „taz“ etliche Beschwerden von nicht-jüdischen und jüdischen Bürgern, unter anderem auch vom Autor. Zitat: „Der Schwachsinns-Begriff ultraorthodox ist aus dem Lehrbuch des Antisemitismus. Und er zeugt von der Ahnungslosigkeit von Autorin wie Interviewpartner. Schwarzer Hut und Bart gleich radikal und mittelalterlich? Brave Juden sind glattrasiert?“

Ein gern gesehener Jude

Eine Antwort seitens der „taz“ ließ lange auf sich warten. Schließlich meldet sich die Hamburger Redaktionsleitung – immerhin per Brief nach Hause, tut jedoch den ganzen Skandal mehr oder minder als Meinungswettstreit zwischen „taz“-Autorin, Seibert und dem Autor ab. Auch in der „Zeit“ und in etlichen anderen Publikationen und auf Podien spreizte sich Seibert übrigens gern mit seinen Ansichten zu einem „neuen Antisemitismus“. Ein gern gesehener Gast war dieser „Jude“ bei „progressiven“ Medien. Sätze wie „ich wurde immer identifiziert mit Israel. Auch die Kritik, die ich an Israel hatte, könne nicht ernst gemeint sein, denn ich sei ja Jude, hieß es dann“ waren schließlich Wasser auf die Mühlen von Menschen, die gern „Kritik an Israel“ äußern. 

Abgesehen davon, dass dem Fall Seibert gewiss auch etwas Tragisches innewohnt und er womöglich eher ein Fall für Fachärzte als für Staatsanwälte sein wird, zeigt seine Medienpräsenz noch etwas anderes: Juden sind immer noch gut für mediale Obsessionen. Was bringt wohl sich als fortschrittlich gerierende Journalisten dazu, Rabbiner-Seminare für überflüssig zu befinden, beim Anblick eines Hijabs hingegen die Augen glückstrunken ob der vermeintlichen kulturellen Bereicherung zu verdrehen? Und wenn „Juden“ – die Anführungszeichen beziehen sich auf Seibert – Jüdisches diskreditieren, dann fällt das bei einer gewissen Sorte Nichtjuden auf fruchtbarsten Boden. Schlimm genug, dass das oft „Kollegen“ sind. Aber vielleicht auch lehrreich, auf einen Hochstapler reingefallen zu sein. Hoffentlich.