Ein Monat Indien. In diesem Teil geht es um das schöne, bergige Goa. Und moderate Muslime mit einer Slum-Fabrik.

1,5 Millionen Einwohner, der kleinste indische Bundesstaat. An der Süd-Westküste Indiens liegt das tropische Goa. Das bergige Land hinter der Küste birgt eine liebliche Pflanzenwelt. Mit dem Motorroller fahre ich aus Palolem zum Fort Cabo de Rama. Wenn es in die Hügel hoch geht, wird es angenehm kühl.

Wie eine verwunschene Festung liegt das Fort da. Einst von muslimischen Herrschern erbaut, dann von den Portugiesen übernommen, bis 1961 ein indisches Heer die Kolonisatoren vertrieb.

Innerhalb der Gemäuer wächst jetzt ein Dschungel, nur noch eine katholische Kirche ist übriggeblieben, schließlich sind rund ein Viertel der Goaner Katholiken, ein Überbleibsel der über 400 Jahre andauernden portugiesischen Kolonisation. So wie Nachnamen wie „Fernandes“ und „Gonsalves“.

Einen Pfad von einem Ausfalltor runter geht es ans felsige Ufer, wo Einheimische mit Bambusangeln Fische aus dem Meer holen. Ein Angler hat mit der Hand einen kleinen Krebs gefangen, beißt in den Panzer und hängt das frische Krebsfleisch an den Haken. Damit fängt er etwa zehn Zentimeter lange, silbrig-gelb glänzende Fische, die in der Pfanne landen sollen.

In Palolem kommen Ende September die ersten Touristen. Die Regenzeit ist gerade vorbei. Viele Pärchen sind hier im ruhigeren Süd-Goa, die meisten aus Israel. Im Norden sind die Partystrände, von Russen dominiert.

In der Abenddämmerung lerne ich am Strand Faren kennen, einen klugen, etwa 30-jährigen Goaner, der mittlerweile eigentlich in Kalifornien zwischen Los Angeles und San Diego lebt, wo er eine afghanischstämmige Frau heiratete.

Jetzt ist er zu Besuch in seinem Heimatdorf. Er lacht viel, redet klug, während er ein Bierchen trinkt. Er erzählt über das Amerika unter Trump und ist sich sicher, dass Donald wiedergewählt wird. Er studierte BWL, aber in den USA arbeitet er als Koch in Restaurants. Wie Trump scheint er eine gewisse Abneigung gegen Latinos zu hegen, mit denen er oft zusammen in der Kombüse steht. Dass jemand wie er von Trump und seinen Anhängern wahrscheinlich auch nicht gern gesehen wird, ist ihm wohl bewusst.

Recht auf portugiesischen Pass

Er weiß ziemlich genau Bescheid über die Zustände auch in Europa, den Aufstieg der Rechtspopulisten. Woher weiß er das Alles? „Ich bin ein Youtube-Junkie“, sagt er.
Sein Plan B nach Amerika, wo das Leben hart sein kann: Ein portugiesischer Pass. „Wer mindestens einen Elternteil hat, der vor 1961 in Goa geboren wurde, hat das konstitutionelle Recht darauf“, sagt er. Mittlerweile gebe es deshalb in Europa regelrechte goanische Enklaven. Auch der Ministerpräsident Portugals sei goastämmig. Das stimmt: António Costas (57) Vater stammte aus der ehemaligen Kolonie.

Ich nehme einen Nachtbus zurück nach Mumbai, gen Norden. Die Koje mit Fenster ist gemütlich, auch wenn es ein gefährliches Unterfangen ist. Die Straßen sind grottenschlecht, der Bus keift und ruckelt über Schlaglöcher, überholt Familien auf Mofas.

Sufis vs. Mullahs

In der Moloch-Metropole besuche ich Shuan (27), den ich im 26-Stunden-Zug von Mumbai nach Chennai kennenlernte. Mit seinem Vater hat er eine kleine Jeansfabrik im Riesenslum Dharavi. Im feineren Stadtteil Bandra ist das Lager und der kleine Verkaufsraum für Großkunden.

Knopfmaschine in Shuans Werkstatt

Vater und Sohn sind gläubige Muslime. Zur Mittagszeit legen sie ihre Gebetsteppiche auf den Boden und werfen sich vor ihren Schöpfer. Die Moschee um die Ecke besuchen sie nicht, da sie streng-wahabitisch geprägt ist. Und die beiden gehören der sanfteren Sufi-Strömung an.

Shah Abdul Latif, ein bekannter Sufi-Poet, schrieb mal an die Fanatiker:

„Warum nennst Du Dich einen Gelehrten, oh Mullah?
Du bist verloren in Deinen Wörtern.

Du redest weiter Unsinn,
Dann betest Du Dich selbst an.

Obwohl Du Gott mit Deinen eigenen Augen siehst,
Tauchst Du in den Dreck.

Wir Sufis haben das Fleisch vom Heiligen Koran genommen,
Während ihr Hunde untereinander kämpft.

Euch immerwährend gegenseitig zerreißt,
Um das Privileg, an den Knochen zu nagen.“

In dieser Sufi-Tradition sehen sich die Jeans-Fabrikanten. Weil Shuan ein etwas wilder, ungezogener Junge war, steckte sein Vater ihn im Alter von zwölf Jahren in eine Madrassa, ein Koraninternat im Zentrum Indiens. Dort lernte er acht Jahre lang den Koran auswendig. Ohne den Inhalt zu verstehen. „Um Arabisch zu verstehen, muss man noch acht Jahre weiterlernen“, sagt Shuan, ein sanfter, liebenswerter junger Mann.

Acht Jahre unverständliche Silben auswendig lernen: Eine beeindruckende und auch absurde Gedächtnisleistung. Es erinnert an das Christentum im europäischen Mittelalter, wo kaum einer der Gläubigen den Inhalt der lateinischen Gebete und Bibelstellen verstand.

Wenn nun Fastenzeit ist, wird Shuan die Ehre zuteil, Vorbeter zu sein. Als „Hafiz“, so nennt man Menschen, die den Koran auswendig können, liest er dann in rund 30 Sitzungen der Gemeinde den kompletten Koran vor. Aus den in seinem Gehirn gespeicherten Seiten. Sein Vater ist stolz auf ihn.

Shuan zeigt dann noch seine elterliche Wohnung. Da er bald heiratet, wird er dort ein eigenes Zimmer bekommen, um mit seiner Zukünftigen einzuziehen. Und in einem hervorragenden muslimischen Restaurant an der Straße vor dem Haus lädt er zum Abschied zu „Brain Fry“ ein. Gebratenes Ziegenhirn. Es schmeckt hervorragend wie ein sehr gehaltvolles Rührei.