Die aufgeheizte Klimadebatte wird als Vehikel für alle möglichen Interessen missbraucht. Viele Vorschläge lassen die Bedürfnisse des ärmeren Teils der Menschheit außer Acht. Wir brauchen Lösungen, die soziale Folgen nicht ausblenden und dort ansetzen, wo der Effekt am größten ist.

Von Hans von Storch

Es weihnachtet. Kaum haben Bundesregierung und Bundestag das „Klimapaket“ beschlossen und 2038 als Endjahr für den deutschen Kohleausstieg festgelegt, fordern Klimaaktivisten, Klimaneutralität in Deutschland bereits bis 2025 zu erreichen. Nach dem Motto: Wer hat noch nicht, wer will noch mehr? In Großbritannien spricht man davon, die Klimaschutzpolitik sei ein Weihnachtsbaum, an den jeder seine Lieblingswünsche hängen könne.

Dieses Vorgehen spiegelt eine weit verbreitete Praxis wider, nämlich die Unfähigkeit oder den Unwillen, im politischen Kampf zwischen Haupt- und Nebenwiderspruch zu unterscheiden. Der Beschluß der Großen Koalition zur Grundrente liefert ein schönes Beispiel dafür. In ihm werden 35 Beitragsjahre als Voraussetzung genannt. Grüne und Linke bemerkten sofort, dass man diese Zahl nutzen kann, um von dem eigentlichen Ziel abzulenken, gegen Altersarmut vorzugehen, und stattdessen die GroKo vor sich herzutreiben. Deshalb verlangten sie sogleich, die Mindestbeitragszeit auf 30 oder 25 Jahre zu senken. Ein billiger Trick. Offensichtlich steht nicht Empathie für die Rentner im Vordergrund, sondern der Wunsch, der Koalition keine Anerkennung zukommen zu lassen. Ich deute dies so, dass die Beseitigung der GroKo das Hauptziel ist. Die Rentner spielen nur eine Nebenrolle. Das kann man so wollen, aber man sollte dann auch dazu stehen.

Manche sagen „Klima“ und meinen „Kapitalismus“

Zurück zum Klimathema. Wenn man meint, die Bewältigung des Klimawandels sei die Hauptaufgabe, dann steckt das folgende Szenario den strategischen Weg ab: Nehmen wir an, dass die deutschen Maßnahmen alle deutschen Emissionen auf Null brächten, dann würden die Gesamtemissionen von Treibhausgasen auf der Welt von ca. 38 Gigatonnen CO2 pro Jahr auf 37 GtCO2/Jahr sinken. Eventuell etwas mehr, wenn man die exportierten Emissionen mitrechnet. Schön, 37 ist weniger als 38, aber für die Klimaentwicklung spielt das kaum eine Rolle. Denn – so sagt die Wissenschaft in Form des UN-Klimarats IPCC – um das „deutlich weniger als zwei Grad“-Ziel zu erreichen, das in Paris als gemeinsames politisches Ziel der Weltgemeinschaft beschlossen wurde, müssen die Emissionen überall auf der Welt, durch jeden und jede Aktivität, bis 2050 auf Null sinken oder durch geeignete negative Emissionen neutralisiert werden. Zusätzlich müssen negative Emissionen (also das Herausfiltern von CO2 aus der Atmosphäre durch die Biosphäre oder durch technische Verfahren) realisiert werden in der Größenordnung der jetzigen Gesamtemissionen der EU und mehr (bis ca. 10 GtCO2/Jahr).

 Diejenigen, die ein sehr rasches Emissionsende in Deutschland fordern, scheinen die sich aus der Hauptaufgabe zwingend ergebende Frage nicht wahrzunehmen, wie sich der erhoffte deutsche Erfolg, der sich bislang noch kaum abzeichnet, auch überall sonst auf der Welt einstellen soll. Sie wird weder diskutiert noch beantwortet. Offenbar geht es manchen Aktivisten auch gar nicht darum. Die Klimafrage ist für sie nicht der Haupt-, sondern ein Nebenwiderspruch. Im Fokus steht vielfach das Ensemble von Nebeneffekten gegen den „western way of life“: Veganismus, Geschwindigkeitsbegrenzung für Autos und Schiffe, Verbot von Verbrennungsmotoren und Kreuzfahrten, das Ende innerdeutscher Flüge, der Erhalt alter Apfelarten oder das Ende der Nutzung von Plastikverpackungen. Sie sind nicht Mittel zum Erreichen von Klimazielen, sondern sie sind die eigentlichen Ziele. Das Mindern und schlussendliche Stoppen des Klimawandels ist zu allererst ein vorgeschobenes Banner.  Einige sagen inzwischen offen, dass sie mit Hilfe von immer drängenderen Klimaschutzvorgaben den Kapitalismus bändigen wollen.

Wäre der Klimawandel die Hauptaufgabe ohne Wenn und Aber, dann könnte die Nutzung der Kernenergie kein Tabu sein. Denn dass diese, unabhängig von allen anderen Fragen im Zusammenhang mit ihr, eine wirksame Minderung von CO2-Emissionen möglich macht, zeigen die 50 Prozent und mehr reduzierten Emissionen in Frankreich im Vergleich zu denen in Deutschland. Man will am Atomausstieg jedoch nicht rühren, obwohl ein Ausstieg aus dem Ausstieg ein wichtiger Beitrag zum Klimaschutz sein könnte. Zumal, wenn gleichzeitig die Kohleverstromung beendet werden soll. Ebenso tabu erscheinen andere Ansätze wie die Minderung der Geburtenraten, obwohl mehr Menschen auf der Erde Umwelt und Klima zusätzlich belasten. 

Greta Thunberg hat verstanden, dass das Klimathema nur global gelöst werden kann. Daher hat sie konsequenterweise Vertreter aller Staaten in der UNO beschimpft, dass sie nicht liefern würden. Aber konstruktiv wird sie nicht; sie hilft diesen Vertretern nicht bei der Frage, wie dies Thema neben anderen, viele Staaten umtreibenden Herausforderungen erfolgreich angegangen werden kann – etwa: Hunger und Armut zu beseitigen, Arbeitsplätze und Industrien zu schaffen, um den Wohlstand zu mehren und die Abwanderung zu stoppen, Folgen des Kolonialismus zu überwinden, Bildungs- und Gesundheitssysteme zu verbessern oder eine Energieversorgung sicher zu stellen.

Die Vertreter von „Fridays for Future“ verlassen sich darauf, dass alle alles daransetzen werden, das Pariser Abkommen umzusetzen – was aber nach jüngsten Meldungen bisher nicht zu erkennen und auch nicht zu erwarten ist. Aber konstruktive Vorschläge sind ohnehin nicht erforderlich, wenn das Hauptziel die Veränderung des westlichen Lebenswandels und die Ablösung des kapitalistischen Wirtschaftssystems ist, während die Minderung und das schlussendliche Anhalten des menschengemachten Klimawandels ein nachrangiges Problem ist, dass sich möglicherweise erledigt mit dem Erreichen des Hauptziels.

Klima als Vehikel

Dafür, dass der Klimawandel für manche vor allem ein Vehikel ist, um alle Arten von erfreulichen Wünschen an den Weihnachtsbaum zu hängen, spricht, dass sie zu glauben scheinen, mit dem Ende des Klimawandels würden insbesondere Migration, ökonomische Ungleichheit, internationale Konflikte und Extrem-Wetterereignisse verschwinden. Das Klimathema wird zum Universalthema, und manch einer scheint zu denken: „Wenn wir kein CO2 mehr in die Luft lassen, dann wird alles gut: keine Kriege, keine soziale Ungleichheit, keine Umweltverschmutzung, keine Tropenstürme mehr. Ein gutes Leben.“ Was aber vor allem bedeutet, dass man solche Probleme und Widerwärtigkeiten des Lebens nicht mehr als oft natürlich und unvermeidbar ansieht, sondern glaubt, einen Hauptschuldigen dafür gefunden zu haben. Nämlich das Klimagifte freisetzende „System“. 

Andererseits gibt es Opportunisten, die eine geeignete Möglichkeit gefunden zu haben glauben, ihr Thema als vorgeblich klimarelevant darzustellen. Wie etwa ein Tempolimit auf Autobahnen, was schon zur Rettung des Waldes dienen sollte. Oder die Minderung des nächtlichen Flugverkehrs und der damit verbunden Lärmbelastung. Solche Forderungen können sehr sinnvoll sein, aber zur Minderung der Treibhausgasemissionen tragen sie wenig bis nichts bei. Aber es passt in eine zynische Strategie, die Mike Hulme in Anlehnung an John F. Kennedys Antrittsrede skizzierte:

„Ask not what you can do for climate change, but what climate change can do for you“.

Wir sehen oft auch unerwachsene Menschen, die bekümmert feststellen, dass ihnen die Jugend gestohlen wurde, genauer wohl die Unbekümmertheit der Jugend. Sie sehen nicht die Notwendigkeit, selbst Verantwortung für die Schwierigkeiten eines komplexen Lebens und einer komplexen Welt zu übernehmen. Vielmehr wird einfach diktiert, welche Ziele die „Oberen“ erreichen sollen, ohne eine Vorstellung zu haben, wie dies gelingen könnte. Einfach zu sagen „Abschalten!“ reicht nicht, wenn man die Nebenwirkung auf andere Ziele nicht mitberücksichtigt.

Mit anderen Worten: Es geht vielen häufig gar nicht um das Klima selbst. Es ist vielmehr Blitzableiter für zahllose Ärgernisse und Ängste. Deshalb werden die geforderten Verbote immer mehr und immer drängender. Wohin fährt der Zug der öffentlichen Erregung? Vielleicht kommt es wirklich zur Lösung einiger Umweltprobleme, vermutlich tatsächlich zu einer gewissen Minderung des Klimawandels (im Vergleich zu einer Situation ohne politische Eingriffe). 

Gleichzeitig aber könnte der einseitige Focus auf das Klima auch bewirken, dass sehr vielen Menschen auf der Welt nicht nur die Jugend, sondern vielmehr das Leben und die Zukunft gestohlen wird. Etwa weil sie weiter hungern, weil sie weiter arm, entrechtet und ausgegrenzt sind, weil sie weiter abgeschnitten vom Versprechen des „pursuit of happiness“ bleiben, weil elektrischer Strom entweder nicht verfügbar ist oder unbezahlbar wird und weil kein wirksamer Hochwasserschutz installiert wird. Treffen würde das vor allem Menschen in den armen Ländern des globalen Südens, die sich ein materiell unbekümmerten Leben wie bei uns im reichen Westen wünschen, wo man es sich leisten kann, gewisse Abstriche vom Konsum, vom Fleischessen oder von Nah- und Fernflügen hinzunehmen. 

Frantz Fanon hat in seinem Klassiker „Die Verdammten dieser Erde“ die Sicht der von Europäern kolonisierten Menschen analysiert. Die Naiven unter den Klimafreunden bei uns glauben auch jetzt, dass man diese Menschen mit der europäischen Sichtweise retten könne, was eigentlich nur ein erneuter Kolonisations-Versuch ist. Das wird kaum gelingen. 

Die globale Dekarbonisierung bis 2050, die erlauben würde das Pariser Ziel zu erreichen, ist von der Aufgabendimension her gigantisch. Wenn die Verhinderung eines Anstieges der globalen Temperatur über zwei Grad die Hauptaufgabe der Zeit ist, dann müssen die Anstrengungen dort ansetzen, wo die Effekte am Größten sind. Ich denke, dass dies nur mit der Entwicklung klimaneutraler und wirtschaftlich attraktiver Technologie gelingen kann. Wer mag, kann auch symbolische Schritte machen, sollte aber dabei nicht wirksame Maßnahmen konterkarieren, oder sich gar einbilden, den Aspekt der Wirksamkeit außer Acht lassen zu dürfen.

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Über den Autor: Das wissenschaftliche Interesse von Prof Dr. Dr. h.c. Hans von Storch gilt dem menschgemachten Klimawandel, seiner Feststellung und regionalen Manifestation, sowie der Kommunikation mit der Öffentlichkeit. Sein fachlicher Hintergrund – statistische Methoden, Küstenklima, Klimamodellierung und Konstruktion von Wissen – hat er in seine Funktionen als Direktor des Instituts für Küstenforschung am Helmholtz Zentrum Geesthacht, als Professor am Meteorologischen Institut und als Zweitmitglied an der sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Hamburg eingebracht. Seit seiner Pensionierung in 2015 beschäftigt er sich mit Restaufgaben am Institut für Küstenforschung, und arbeitet als Editor-in-Chief der Oxford University Press Research Encyclopedia Climate Science, und als Gastprofessor an der Ocean University of China (Qingdao). Er ist ein gern gesehener Gesprächspartner für Medien und die interessierte Öffentlichkeit. Seine Publikationsliste umfasst zahlreiche Bücher und über 200 „weiße“ Publikationen, die mit einem h-index von 52 einhergehen.