Rammstein ist ein archaischer Gegentrend zu modernen Rollenbildern, eine Karikatur des wütenden Mannes und humorlos wie ein AfD-Parteitag. Ein paar Zeilen aus Anlass der Lindemann-Enthüllungen.

Für Künstler wie Till Lindemann gilt der alte Satz von Ödön von Horváth: „Eigentlich bin ich ganz anders, nur leider komme ich so selten dazu.“ Das ist sehr schön vieldeutig, denn wie sonst soll man in Zusammenhang der jüngsten Diskussionen um die Band Rammstein Songzeilen wie diese verstehen:

„Dieselbe Sache und das alte Leid
Mich so langsam in den Wahnsinn treibt
Und auf der Matte tobt derselbe Krieg
Mir immer noch das Herz versengt
Dieselbe Sache und das alte Leid
Weiß nun endlich …

Ich will ficken!“

Lindemann

In der Literatur nennt man diese Figur, die als reine Kunstschöpfung existiert, das „lyrische Ich“. Da ist jemand, der phantasiert sich in eine Rolle hinein, leiht ihr seine Stimme, seine Gefühle, sein altes Leid, ohne mit ihr selbst identisch zu sein. 

Nun stellt man sich als lyrisches Ich eher eine Art Elfengestalt vor, nicht jemand wie Till Lindemann, der eher Ähnlichkeit mit einem rockenden Oger hat. In der Schauspielerei ist es gang und gäbe und von jedem akzeptiert, dass etwa Anthony Hopkins privat nicht die gleichen Leidenschaften wie Dr. Hannibal Lecter teilt. Doch bei Till Lindemann ist man nicht so wirklich überzeugt, dass die heimlichen Dämonen, die er auf der Bühne zum Leben erweckt, nicht doch Teil seiner Persönlichkeit sind – und er Rohypnol nicht nur in seinen Lyrics verwendet.

Nun gilt auch für Lindemann die Unschuldsvermutung. Und es ist gut möglich, dass auch die Frauen, die von der Row Zero als Bühnen-Dessert in die After-Show-Party abgeholt wurden, sich nur in eine Art lyrisches Ich hinein phantasiert haben, in dem es seit Jahrzehnten zum festen Band-Ritual gehört, nach dem Auftritt die Groupies zu „vernaschen“. Oder mindestens eine junge Prostituierte. Bei Miles Davis stand dieser Wunsch sogar auf dem Menü-Zettel, den die Agentur den Veranstaltern überreichte. So what?

Teil der Show?

Haben sich also viele dieser Mädchen, die jetzt über ihre seltsamen Erlebnisse mit Till Lindemann sprechen, nur als Teil der Show gefühlt? Und waren hinterher enttäuscht, weil Illusion und Wirklichkeit auf der Bühne deutlich voneinander abweichen und Sex mit einem Rockstar vermutlich abturnender ist, als in der heimischen WG-Toilette das Klo sauber zu machen. Man weiß es nicht – und den möglichen Missbrauch, etwa unter Verwendung von betäubenden Substanzen, müssen Staatsanwälte klären.

Eines ist jedoch klar, eine Musik, in der sich ein tobendes Ich zu Gruft und Metal über die Bühne wälzt und instinktgesteuerte Sexualbegierden in das Publikum grunzt, ist so etwas von neandertalig wie ein großer Klumpen Fleisch auf einem veganen Buffet. Für den „Spiegel“ ist Rammstein ein verspätetes Coming Out der Rock-Musik aus dem Osten – mit erheblichem Nachholbedarf. Ein archaischer Gegentrend zu den moderneren Rollenbildern aus Soul und Hip Hop. Wenn man so will, eine Karikatur des wütenden Mannes, der eine Bühne braucht, um seinen Frust loszuwerden. So humorlos wie ein Parteitag der AfD.

Der internationale Erfolg der Band, mit prominenten Fans von Heino bis David Lynch, mag darauf beruhen, dass man mit deutscher Musik immer noch den Wagnerschen Wahnsinn verbindet, weniger Bach, Brahms und Beethoven. Der musizierende Germane taucht in diesem Bild immer noch als Vandale auf, der mordend, brandschatzend und vergewaltigend durch die friedlichen Auen stürmt. Ein lächerliches Bild angesichts der realen Gewalt, die wir derzeit in Osteuropa erleben. Männer wie Putin oder Prigoschin brauchen kein lyrisches Ich, um ihr „altes Leid“ auszudrücken. Sie sind einfach so wie sie sind.