Der Widerstand der Ukraine gegen Russland ist notwendig und gerecht. Trotzdem gibt es immer wieder Versuche in Deutschland, die Unterstützung für die Ukraine zu diskreditieren. Eine Analyse, mit welchen Tricks da operiert wird.

Es hat nicht lange gedauert. Kaum 24 Stunden, nachdem der ukrainische Präsident Selenskij vor zwei Wochen seinen Besuch in Deutschland beendet hatte, meldeten sich die üblichen Verdächtigen in allen verfügbaren Medien zu Wort. Eine Zeitlang hatte man nichts von ihnen gehört. Aber jetzt waren sie wieder präsent, nachdem die Bundesregierung der Ukraine weitere militärische Unterstützung in Höhe von 2,7 Milliarden zugesagt hatte. Natürlich war Sahra Wagenknecht unter den Wortmeldern. Routiniert spulte sie ihre Sätze ab, die wir von so vielen Interviews, Demonstrationen, Talkshows kennen und die wie aus einem Kreml-Katechismus auswendig gelernt wirken: Sie laufen auf nichts Anderes hinaus, als dass die Ukraine sich endlich ergeben möge und der Westen eigentlich an allem schuld sei und Russland nun mal – die Betroffenen sollen es gefälligst hinnehmen – Einflussbereiche brauche.

Im gleichen Takt, fast wie abgesprochen, meldete sich auch der Politikwissenschaftler Johannes Varwick zu Wort. Er wurde vor allem dadurch bekannt, dass er in Talkshows darüber klagte, dass seine Meinung in der Öffentlichkeit gemieden würde. Während Wagenknecht als gewiefte Populistin den linksnationalistischen Querschnittsmengen in der Bevölkerung die immer gleichen Stichworte für ihr Unbehagen am störenden Krieg in der Nachbarschaft zur Verfügung stellt, bearbeitet Varwick die politischen Feuilletons mit quasi den gleichen Behauptungen wie Wagenknecht, aber mit akademischem Argot und kleinen Varianten, die intellektuelle Offenheit suggerieren könnten.

NEOKOLONIALE GUTSHERRENART

Varwick ist der Ansicht, dass sich die „westliche Ukrainepolitik“ in die falsche Richtung bewege. Also die „westliche Ukrainepolitik“, nicht die von Wladimir Putin. Die interessiert Herrn Varwick nicht so sehr. Denn die ist für ihn schlichtweg das Maß der Dinge, der Orientierungspunkt, weil unveränderlich. Putin darf nach Gutdünken rote Linien ziehen, die alle anderen zu akzeptieren haben: die Nachbarstaaten, die USA, der Westen. Was diese nach Varwick auch zu begreifen haben: „Russland ging und geht es vermutlich nicht um die Vernichtung der Existenz der Ukraine, sondern um die Zerstörung der Ukraine als von ihm so wahrgenommenen ‚antirussischen Projekts’. In dieser Unterscheidung liegt der Schlüssel für eine Befriedung.“

Das ist in seiner Rabulistik schon abenteuerlich und himmelschreiend, aber immerhin entlarvt es aufs Neue die Gedankenwelt der Kreml-Apologeten. Selbstverständlich will Putin die Ukraine als souveränes Land auslöschen und es in ein Groß-, Größer-, Noch-größer-Russland einverleiben. Er macht ja gar keinen Hehl daraus. Aber selbst wenn Putin am Brandenburger Tor eine Rede halten und darin erneut klarstellen würde, dass es ihm beim Krieg gegen die Ukraine um die Restauration des alten Russischen Reiches und der Hegemonie gegenüber seinen Nachbarstaaten und der EU ginge – seine Sympathisanten würden weiterhin behaupten, der Westen sei schuld an dem Krieg.

Ob die Ukraine in Putins Augen nur eine unwillige, aber eigentlich russische Familienangehörige ist, die man erobern, züchtigen und heim ins Reich holen muss oder ein souveränes Land, das einfach seinen eigenen Weg zu Frieden, Freiheit und Wohlstand gehen will – was von Russland als ebenso ungehörig empfunden wird –, ist nur ein scheinbar feinsinniger Differenzierungsversuch, der vor allem in deutschen Professorenbüros eine gewisse Plausibilität besitzt, aber in der realen Welt für den Eroberten nur auf Unterwerfung, Zerstörung und Vernichtung hinausläuft.

Für Varwicks Argumentation mag die Unterscheidung wichtig sein, weil er daraus eine Voraussetzung für einen Friedensschluss bastelt: Er will, dass eine irgend geartete, ominöse westliche Diplomatie in schöner neokolonialer Gutsherrenart die Ukraine in eine Neutralität zwingt – und zwar durch den Verzicht auf eine Mitgliedschaft in EU und NATO. Nun ist das nicht im Interesse der Ukraine, denn in dem Fall bliebe sie alleine dem beständigen Druck durch Russland ausgeliefert. Aber was kümmern die Varwicks et al. die Interessen der Ukraine? Es gehe, so die Behauptung, allein um einen Frieden, der dem Töten ein Ende bereite. Oder, wie Varwick selbst schreibt, um ein „Einfrieren des Konflikts“. Auffallen müsste ihm eigentlich schon, dass dieser eisige Frieden allein Russland in die Hände spielen würde. Denn Russland würde definitiv nicht die besetzten ukrainischen Gebiete wiederhergeben, es würde definitiv nicht die entführten ukrainischen Kinder wiederhergeben, es würde definitiv nicht die Verantwortung für Kriegsverbrechen übernehmen.  

TRICKS UND LIEBLINGSTRICKS

Varwick will sein an die Ukraine und die Bundesregierung gerichtetes Unterwerfungsverlangen durch einen rhetorischen Trick aufwerten. Er konstatiert, alle bisherige westliche Unterstützung sei „gesinnungsethisch“ nachvollziehbar und möglicherweise auch gerechtfertigt, aber eben auch zu sehr auf die eigenen Überzeugungen und moralischen Maximen gegründet. Zur Bereinigung des Konflikts müsse nun aber endlich die Verantwortungsethik greifen, der moralisch-politische Marshallstab aller Realisten. Und ich, so suggeriert Varwick zwischen den Zeilen, bin ein solcher Verantwortungsethiker: ‚Ich bin quasi der Helmut Schmidt der Politikwissenschaftler’, dröhnt es aus jedem Satz, ‚ich spreche die unangenehmen Wahrheiten aus, ich respektiere notgedrungen die Macht des wahrscheinlich Übermächtigen, und die anderen, die Gesinnungsethiker, sind alle politische Pussys’. (Nebenbei bemerkt: Russland versuchte von Anfang an seinen Krieg im eigenen Land moralisch zu begründen, nämlich mit einer quasi antifaschistischen Motivation, die natürlich jeder Grundlage entbehrt. Aber wen kümmert das schon in Putins Regime?)

Dieses argumentative Konstrukt, diese Einteilung in Gesinnungs- und Verantwortungsethiker, hat für Varwick den praktischen doppelten Vorteil, seine eigenen Überzeugungen zu verschleiern und seine Argumentation scheinbar zu objektivieren. Das letztere versucht er, indem er die Äquidistanz zu Russland und Ukraine als wissenschaftliche Conditio sine qua non verkauft, den reinen Logos bar aller gefühlsduseligen Täuschungen als den alleinigen Scharfsinn für die aktuellen geopolitischen Verwerfungen. Mit diesem Vorgehen täuscht er über die Grundlage seiner Argumentation hinweg: seine Akzeptanz, seinen Respekt, wenn nicht gar Sympathie für Russlands Ambitionen und Ansprüche. Deshalb heißt es bei ihm nicht von ungefähr: „Bei einer politischen Lösung sollte nicht nur auf Gerechtigkeit geachtet werden, sondern auch auf Schadensbegrenzung, Stabilität und Gleichgewicht zwischen konkurrierenden Interessen und Ambitionen. Von allen vorstellbaren Varianten wären das Drängen auf einen schnellen Waffenstillstand und die Bereitschaft zu Verhandlungen im Sinne einer Stabilisierung durch einen Neutralitätsstatus sowie die Akzeptanz territorialer Veränderungen noch die beste, letztlich auch für die Ukraine.“ Noch einmal: Die „Akzeptanz territorialer Veränderungen“ wäre das beste für die Ukraine!

Putin würde „Danke!“ sagen.

Wenn da nicht mehr ist, dann steckt Varwick mit seinen Forderungen schlichtweg tief in den imperialistischen Weltordnungsvorstellungen des 19. Jahrhunderts, in dem kein Völkerrecht gilt zwischen Staaten, sondern nur das Recht des Stärkeren, dem man sich zu fügen habe. Das erleichtert das Denken natürlich ungemein: wenn man nur die Durchsetzung von Großmachtambitionen walten sieht und quasi naturgegeben akzeptiert. War das vor zweihundert Jahren ein schon ärgerlicher, aber noch nachvollziehbarer Maßstab, weil es kaum Alternativen gab, so ist es für die heutige Zeit angesichts von Völkerrecht, einer großen Zahl nicht-aggressiver demokratischer Staaten und zivilen wie militärischen multilateralen Abkommen ein Trugschluss.

Einer von Varwicks Lieblingstricks ist der Wink mit der Bombe. Seine These: Ein Staat mit Atombombe kann keinen Krieg verlieren. Und was war in Afghanistan, als Sandalenträger die Sowjettruppen zum Abzug zwangen? Und wieso nur haben die USA seit Hiroshima und Nagasaki so viele Kriege und Konflikte verloren? Weil sie mehr Skrupel haben als Putin? Nein, weil sich die Nuklearstaaten gegenseitig beäugen und abschrecken. Das ist kein schöner Gedanke, aber Realität. So ein realpolitischer Verantwortungsethiker wie Varwick müsste das wissen und zudem zur Kenntnis genommen haben, dass es von China und den USA klare Warnungen gab, dass der Einsatz von Atombomben verheerende politische und militärische Folgen für Russland hätte. Aber das ignoriert Varwick einfach. Es geht ihm letztlich nur darum, die Massenvernichtungswaffen in Russland in Massenbeeinflussungswaffen in Deutschland zu konvertieren.

EIN GERECHTER KRIEG

Vielleicht würde es Varwick auch überraschen, wenn er begriffe, dass die EU und die USA im Moment nicht nur gesinnungs-, sondern auch verantwortungsethisch handeln und deshalb ihren Kurs nicht korrigieren müssen. Es sollte selbstverständlich sein, dass man ein demokratisches Land in der Nachbarschaft unterstützt, wenn es von einer Diktatur überfallen wird. Denn Eroberungskriege und Kriege zur Ausweitung von Einflusssphären sind ungerechte Kriege. Der Kampf der Ukraine ist ein Verteidigungskampf, ist Widerstand gegen einen brutalen Aggressor; und damit kämpfen die Ukrainer einen gerechten Krieg, dies ist ihr ius ad bellum. Diesen Kampf zu unterstützen ist eine Sache des Anstands und schon deshalb geboten.

Doch die westliche Unterstützung ist ebenso verantwortungsethisch richtig – auch wenn sie eine kleinmütige, aber sehr nachvollziehbare Komponente hat: nämlich sich nicht mit eigenen Truppen einzumischen. Jedenfalls würde ein Mangel an Unterstützung für die Ukraine dem Aggressor signalisieren, dass die EU bzw. der Westen weder wehrhaft noch widerstandsfähig sind. Russland führt ja längst schon einen hybriden Krieg gegen den Westen, destabilisiert die Institutionen und Gesellschaften, vergiftet die sozialen Medien zu seinen Gunsten. Und durch Nichtstun könnte die Ukraine sich nicht lange halten, EU-Staaten gerieten als nächstes ins Visier Putins. Es ist also im allergrößten Interesse des Westens, die Ukraine moralisch, finanziell und mit genügend Waffen zu stärken. All das würde erst hinfällig, wenn die Ukrainer diesen Kampf nicht weiterführen könnten oder wollten. Aber es muss ihre Entscheidung sein. Allerdings wäre auch das ein Punkt, an dem die Unterstützung der Ukraine aus gesinnungs- wie verantwortungsethischen Gründen nicht aufhören könnte. Unsere Verantwortung im Sinne eines ius post bellum verlangte ein Engagement für einen Frieden, der auch weiterhin die Isolierung des Aggressors und die Bestrafung der politischen Führer Russlands vorsähe. Eine Pflicht wäre es auch, Reparationen für das Opfer des Angriffskriegs einzufordern sowie den Potentialen des Aggressors, einen weiteren Krieg vom Zaun zu brechen, entgegenzuwirken.

Aber im Moment gilt es – wie gesagt –, die Ukraine zu unterstützen und angesichts der Kriegsdauer selbst nicht in den Zustand der Gewöhnung und des Überdrusses zu verfallen, denn das würde bedeuten, die Debatte um die Notwendigkeit, die Rechtfertigung und die Proportionalität des gerechten Krieges der Ukraine Leuten wie Wagenknecht oder Varwick zu überlassen. Und das wäre ein schwerer Fehler.