Wir wollten uns von selbsterklärten Israelfeinden bei einer Konferenz in Berlin erklären lassen, weshalb extreme Israelablehnung nicht antisemitisch sei. Das war schwierig.

Vor dem Kreuzberger Tiyatrom stehen am Samstagmorgen etwa 100 Menschen, hauptsächlich deutsche Rentner, deren Väter oder Großväter wahrscheinlich noch für den Führer kämpften und jetzt den Juden in Israel erklären wollen, wie sie zu leben haben. Etwa 100 sind schon drin.

Eigentlich gibt es hier türkisches Theater, aber heute geht es um das „Projekt Kritische Aufklärung“, speziell „Zur Zeit der Verleumder“. Gemeint ist: Wer den Staat Israel kritisiert, würde umgehend einer Verleumdungs-Kampagne ausgesetzt werden. Eine andere Form von Martin Walsers „Auschwitzkeule“ also. Die Organisatoren bezeichnen sich als Marxisten.

„Zur Zeit der Verleumder“ ist ein Gedicht des 1988 verstorbenen jüdischen Dichters Erich Fried, der in seinen Werken davon schrieb, dass die israelische Armee „die neue SA und S.S.“ sei und die Palästinenser „die neuen Juden“.

Ein schlecht gelaunter junger Mann mit weißer Ordner-Binde macht mit etwa sechs weiteren Jüngeren den Aufpasser. Ein bizarrer Zufall: Auch Rechtsradikale verfolgen bei ihren Veranstaltungen diesen Ordner-Binden-Stil.

Der Tierrechts-Rapper Albino, dessen zweites Standbein Anti-Israel-Songs sind, berieselt die Wartenden mit einem Song aus einem Lautsprecher, in dem er darüber rappt, was für ein Unrechtssystem der Staat der Juden sei.

Andere der wenigen jüngeren Männer und Frauen halten Schilder mit Aufschriften wie „Gegen die Kriminalisierung von Antizionismus und Israelkritik“ und „Für Meinungsfreiheit – gegen die Instrumentalisierung des Antisemitismusvorwurfs“. Eine ältere Besucherin redet von Schlägertrupps der „Antideutschen“, eine lose Gruppierung linker Israelfreunde, die womöglich anrollen könnten. Aber es seien ja „genügend junge Männer“ da. Man fühlt sich im Belagerungszustand. Ein Mann vom Ex-SED-Blatt „Junge Welt“ verteilt Exemplare, eine Geschichte ist mit „Stimmungsmache gegen Links“ übertitelt.

Als wir dem schlechtgelaunten jungen Mann mit der Ordner-Binde offenbaren, dass wir von BILD sind und gerne an der Konferenz teilnehmen würden, sagt er „das Gespräch ist hiermit beendet.“ Er will offenbar nicht mit der „Lügenpresse“ reden, Ähnliches haben wir sonst von Rechtsradikalen in Cottbus gehört, sagen wir ihm.

Als wir ihm noch sagen, dass es schwer werden würde mit dem Projekt Aufklärung, wenn man nicht reden will, schweigt er weiter.

Der Saal ist voll, wir tragen uns ziemlich weit oben auf einer Warteliste ein. Aber als Nachrücker aufgerufen werden, die noch rein dürfen, um etwa Rolf Becker (82) dem Vater des Schauspielers Ben Becker (53) zu lauschen, der über „diffamierende Antisemitismusvorwürfe“ doziert, lässt man uns außen vor. Auch über einen weiteren Programmpunkt, die Verbindungen von Rechten mit Israel, die es gibt – etwa wenn Pegida-Leute einen israelischen Merkava-Panzer auf Facebook posten und damit meinen, keine Antisemiten sein zu können – können wir nichts hören. Laut Flyer sind Fotos, Film- und Tonaufnahmen nicht gestattet. Wieder keine Aufklärung.

Nachdem der schlecht gelaunte junge Ordner uns etwas grob rauskomplimentiert hat und wir in der Kälte vor der Tür warten, lässt er sich doch noch auf ein Gespräch ein. Was denn für uns in Bezug auf Israel Antisemitismus sei, fragt er.

Zweierlei Maß

Wenn etwa mit zweierlei Maß gemessen wird, sagen wir. Wenn bei allem Schlachten auf der Welt zum Beispiel von den Vereinten Nationen (UN) immer wieder einzig und allein der Staat Israel zum Sündenbock gemacht wird als Jude unter den Staaten. Er fordert dafür Beweise.

Wir googlen im Smartphone und finden nach ein paar Sekunden einen Artikel aus dem Jahr 2016. Von 24 UN-Resolutionen, die 2015 gegen UN-Mitgliedsstaaten unterzeichnet wurden, richteten sich 20 gegen den Staat Israel. In den Jahren davor waren die Verhältnisse sehr ähnlich. Während in jenen Jahren nur hundert Kilometer weiter der syrische Diktator Baschar al-Assad (52) sein eigenes Volk pulverisierte.

Der nun nicht mehr ganz so schlecht gelaunte junge Mann nickt. Das scheint ihm einzuleuchten. Da wir nun im Gespräch sind und gerne aufgeklärt werden möchten, fragen wir ihn, was denn seine Definition des Antisemitismus in Bezug auf Israel wäre.

Er sagt, die stehe im Buch „Dialektik der Aufklärung“ der Philosophen Theodor Adorno und Max Horkheimer. Ob er diese Definition erklären könnte? Nein. „Das ist so dicht geschrieben, dass es verfremdend wäre, das in einer Formel auszudrücken“, sagt er. Wieder keine Aufklärung.

Da wir nicht rein dürfen, warten wir weiter in der Kälte vor der Tür. Bei einer Pause ergibt sich doch noch ein Gespräch mit einem Konferenzteilnehmer, der zum Rauchen rauskommt. Er, groß und resolut, ist deutscher Entwicklungshelfer, sagt er, lebt in Ramallah im palästinensischen Autonomiegebiet und spricht fließend Hebräisch und Arabisch.

Als wir ihm sagen, dass wir von BILD sind, redet er sich in Rage. „Wir sind gegen Israel, für Palästina. Gegen die militärische Besatzung. Die BILD-Zeitung ist für Israel und lügt, da tropft das Blut raus.“

Wo denn die Juden hinsollten, fragen wir ihn, wenn sein Traumstaat Palästina gegründet werden würde.

Er hat darauf keine Antwort, sagt nur formelhaft „ich bin gegen die Besatzung. Wer gegen Netanjahu ist, ist kein Antisemit“. 1995, als der Oslo II-Friedensprozess im Gange war, hätten die Palästinenser im Übrigen in Ramallah Blumen in Gewehrläufe gesteckt. Dann geht er wieder rein und klärt sich mit den anderen selbst auf.

Dieser Text erschien in kürzerer Form bei BILD und B.Z.