Eine ungehaltene Rede von Hubert Aiwanger

Guten Tag, mein Name ist Aiwanger, Hubert Aiwanger. Ich bin stellvertretender Ministerpräsident des Freistaates Bayern und möchte gern wiedergewählt werden. Gleichzeitig bin ich ein ganz normaler Mensch, der seine Frau und seine zwei Kinder liebt. Freunde nennen mich einen Pfundskerl, ich selber hoffe, dass ich ein Menschenfreund bin.

Mit 17 Jahren war ich ein Nazi. Ich trug ein Hitlerbärtchen und grüßte mit hochgerecktem Arm. Ich habe auf einer Schreibmaschine ein Flugblatt getippt, auf dem ich mir vorstellte, dass meine Feinde in Auschwitz vergast werden wie die Juden. Ich habe antisemitische Witze erzählt, die ich damals lustig fand; heute würgt mich die Scham, wenn ich an sie denke.

Bis heute habe ich diese Episode tief in mir vergraben. Auch mit meiner Familie sprach ich nie darüber, ich wollte mit dem Teenager von damals nichts mehr zu tun haben, er war mir peinlich. Ich habe mit niemandem darüber gesprochen. Neulich fand ich eine Sentenz bei einem deutschen Philosophen namens Nietzsche, die mir durch Mark und Bein fuhr: “Das habe ich getan, sagt mein Gedächtnis. Das kann ich nicht getan haben, sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich – gibt das Gedächtnis nach.”

Vor ein paar Tagen hat die “Süddeutsche Zeitung” die schmachvolle Episode von damals ausgegraben. Am Anfang war ich natürlich wütend, weil mir diese Enthüllung so kurz vor dem Wahlkampf überhaupt nicht ins Konzept passte. Heute bin ich dankbar dafür. Die Enthüllungen der “Süddeutschen Zeitung” haben mich gezwungen, mich endlich wieder mit dem Hubert Aiwanger von damals zu beschäftigen. Natürlich sind seine politischen Überzeugungen längst nicht mehr die meinen: Ich glaube nicht mehr an den Führerstaat, in dem ein Diktator durch Beifallklatschen des Volkes in seinem Amt bestätigt wird, sondern an die liberale Demokratie mit ihren “checks and balances”. Ich glaube, dass Minderheiten verbriefte Rechte haben und im Notfall auch vor der Mehrheit geschützt werden müssen. Ich habe Yad Vashem in Jerusalem besucht. Vor allem das Denkmal für die ermordeten jüdischen Kinder hat sich mir in den Schädel gebrannt. Ich sage es Ihnen offen, obwohl ich doch ein gestandenes Mannsbild bin: Ich bin dort völlig zusammengebrochen und konnte lange nicht aufhören zu weinen.

Wer war der 17-Jährige, der es wagte, darüber Witze zu machen? Witze, die mir heute nicht mehr über die Lippen kommen würden? Was hat ihn bewogen, das idiotische Horst-Wessel-Lied zu singen, das einen braunen Schläger zum Märtyrer verklärt? Der jugendliche Hubert Aiwanger ist mir gründlich fremd geworden – und doch war er ich. Ich muss mich zu ihm bekennen. Ganz und gar unredlich wäre, wenn ich seine Taten von damals auf jemand anderen abwälzen würde.

Die Enthüllungen der “Süddeutschen Zeitung” haben mich gezwungen, mich selbst in Frage zu stellen. Wer bin ich – wer ist eigentlich dieser Hubert Aiwanger? In der Debatte um Impfungen gegen die Covid-Seuche habe ich, obwohl ich selber geimpft bin, vor einer “Apartheiddiskussion” im Hinblick auf jene Leute gewarnt, die sich der Spritze verweigerten. Wirklich? Apartheid? Echt jetzt? Schwarze konnten sich im Südafrika der sogenannten Rassentrennung nicht aussuchen, ob sie schwarz sein wollten. Im Übrigen stand nie zur Diskussion, ob man Leuten, die sich nicht impfen lassen wollten, bürgerliche Rechte, etwa das Wahlrecht, entziehen sollte. Welcher Teufel hat mich damals geritten?

Bei einer öffentlichen Demonstration habe ich geschrieen, die schweigende Mehrheit des Landes müsse sich “die Demokratie zurückholen”, die Regierung in Berlin habe “den Arsch offen”, die Mehrheit werde “die Berliner Chaoten vor sich hertreiben”. Warum ist mir damals nicht aufgefallen, dass man für “Berliner Chaoten” auch “Novemberverbrecher” einsetzen könnte, dass die Leugnung der Tatsache, dass wir in einer Demokratie leben, an die Polemik der Nazis gegen das “System” der Weimarer Republik erinnerte? Hat damals vielleicht – für Minuten nur, verführt vielleicht von der Begeisterung, die mir entgegenschlug – der junge Hubert von damals aus mir gesprochen? Der mit dem Hitlerbärtchen, der mit den obszönen Judenwitzen?

Ich glaube, dass ich ein guter stellvertretender Ministerpräsident gewesen bin. Ich glaube das wirklich. Mir liegt das Gemeinwohl des Freistaates Bayern am Herzen. Ich bin in vielen Fragen grundsätzlich anderer Meinung als meine grünen und sozialdemokratischen Freunde. Ich liebe sie heiß und innig, aber ich glaube, es wäre besser, wenn meine Seite die Wahl gewinnen würde. Gleichzeitig arbeiten natürlich sämtliche demokratischen Parteien in Bayern am selben Ziel. Wir wollen, dass es allen Bayern besser geht: den christlichen Bayern, den muslimischen Bayern, den jüdischen Bayern, den Atheisten, den hetero- und homo- und transsexuellen Bayern, den mehr linken und mehr rechten Bayern und jenen in der politischen Mitte. Wir gehören alle zusammen, wir sind eine Familie, auch wenn wir uns manchmal streiten und mit den Türen knallen, wie das manchmal in einer Familie so ist.

Aber heute stehe ich vor Ihnen als ein Beschämter. Es war nicht gut, was ich damals als Teenager getan habe. Und es wäre billig, von einer Pressekampagne gegen mich zu sprechen. Ich bin hier nicht das Opfer. Ich schäme mich. Es tut mir leid, ich bitte um Entschuldigung. Vor allem bitte ich die Opfer von damals und ihre Nachfahren um Vergebung. Nicht nur die Juden, auch die Sinti und Roma, die Polen, die sowjetischen Kriegsgefangenen, alle, die damals durch die Schornsteine von Auschwitz geflogen sind. Ich bin, wie Sie vielleicht wissen, ein katholischer Christ. Als katholischer Christ darf ich die Hoffnung haben, dass der Jude Jesus, der von den Römern gekreuzigt wurde, mir helfen wird, meine Schuld von damals zu tragen. Vielleicht kann ich mit Gottes Hilfe sogar in dem Teenager, der ich damals war, nicht nur eine verabscheuungswürdige Kreatur erblicken, sondern einen bemitleidenswerten Jungen. Einen kleinen Dummkopf, der sich selber hässlich fand und versuchte, wenigstens als Mitglied einer geträumten Volksgemeinschaft schön und mächtig zu sein. Aber dafür ist jetzt nicht die Zeit. Jetzt muss ich als bayerisches Mannsbild zu meinen Taten stehen. Es tut mir leid. Ich hoffe, dass ich mich geändert habe.

Es kann sein, dass meine politische Karriere beendet ist. Sollte es so sein, würde ich ohne Murren ins Privatleben zurückkehren und mich künftig nur noch dem widmen, was das Wichtigste in meinem Leben ist: meiner Familie. Ich werde aber nicht zurücktreten, sondern in aller Demut wieder kandidieren. Und ich werde versuchen, meine Verfehlungen durch Dienst an der Allgemeinheit wiedergutzumachen. Vor allem für Vertreter von Minderheiten werde ich künftig ein offenes Ohr haben. Vielleicht hilft mein Beispiel anderen jungen Menschen, die politische Irrwege gehen, zur Vernunft, zum Anstand und zur Menschlichkeit zurückzufinden. Man kann sich ändern, man kann um Verzeihung bitten, und manchmal wird diese Verzeihung auch gewährt. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass man sich zu seinen Taten bekennt.

Diese Rede hat Herr Aiwanger nie gehalten.