Was sich so in meinem Notizbuch angesammelt hat – 22. Oktober 2019

Eine Leserin schreibt mir in Reaktion auf meinen Blogeintrag vom letzten Monat, in dem ich mich mit der meist falschen Verwendung des Begriffs „Technologie“ befasse, und macht mich auf ähnliche Fälle aufmerksam: Die häufige Benutzung des Wortes „Olympiade“, wenn eigentlich die Olympischen Spiele gemeint sind, oder der inflationäre Gebrauch des Begriffes „Persönlichkeit“, wenn es eigentlich „Person“ heißen müsste. Letzteres Beispiel scheint mir allerdings zumindest in Norddeutschland nicht ganz eindeutig zu sein. Jeder Mensch ist eine Person. Und jeder Mensch hat seine eigene Persönlichkeit. Aber ist auch jede Person eine Persönlichkeit? In meiner Kindheit konnte man ältere Menschen Dinge sagen hören wie: „Also diese Meier – so eine Person! Ihr Mann ischa man ganz anders. Der is ne richtige Persönlichkeit.“

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Es scheint mir nicht angemessen zu sein, über Boulevardjournalismus die Nase zu rümpfen, und ich kann an dem offensichtlich weit verbreiteten Bedürfnis, über Belanglosigkeiten aus dem Privatleben von Medienmenschen informiert zu werden, erst einmal nichts Schlimmes finden. Dennoch kann man sich manchmal eines gewissen Kulturpessimismus‘ nicht erwehren: Neulich las ich auf der Internetseite einer angesehenen sogenannten Qualitätszeitung die Schlagzeile: „Die Bachelorette rülpst.“

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Auf dem berühmten Cover des Beatles-Albums „Abbey Road“, das die vier auf dem Zebrastreifen vor dem Aufnahmestudio in London zeigt, hält, wie man beim genauen Hinsehen erkennen kann, Paul McCartney eine Zigarette in der Hand. Auf manchen späteren Veröffentlichungen des Bildes ist die Zigarette nicht mehr zu sehen. Man könnte über eine solche Albernheit lachen, wenn sie einem nicht bekannt vorkäme: Was unterscheidet diese Praxis eigentlich noch von Orwells Wahrheitsministerium, in dem laufend historische Zeitungsausgaben umgeschrieben werden, damit sie mit dem gegenwärtigen Weltbild übereinstimmen?

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Kommentar des Lesers „LostinBruges“ im „Guardian“: „Wir schreiben das Jahr 2269. Wieder einmal hält die Europäische Union die geheimnisvolle ‚Verlängerungs-Zeremonie‘ ab, deren Anfänge im Dunkeln liegen. Die Delegation des Vereinigten Königreichs, angeführt von der konservativen Partei, wird, wie es die Tradition verlangt, ‚Gebt uns Kuchen zum Essen und Behalten, oder geht unter‘ rufen. Die Delegation der anderen EU-Länder wird traditionsgemäß antworten: ‚Keine Rosinen!‘ Die Brexit-Partei (in diesem Jahr angeführt von Nigel Farage XIV) wird dann den traditionellen „Hintern-Salut“ erweisen, die Labour-Partei das rituelle ‚Zaungast-Stehen‘ aufführen (wobei die Zäune in diesem Jahr aus 250 Jahre alten Bäumen gefertigt wurden, die noch von Jeremy Corbyn gepflanzt worden sind). Als besondere Geste wurde in diesem Jahr Schottland, das seit 2021 unabhängig ist, ausgewählt, feierlich die Verlängerung zu gewähren.“ Mir scheint das ein ganz realistisches Szenario zu sein.

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Der fast 90-jährige Peter Scholl-Latour schrieb, zu Recht selbstzufrieden, in seinen Lebenserinnerungen, er sei nie der Illusion erlegen, die Welt verbessern zu können: „Im Angesicht unerträglicher politischer Heuchelei im Namen von Menschenrechten und Demokratie blieb ich mir stets der Sentenz des genialen Komödienschreibers Molière bewusst: ‚Der Freund des Menschengeschlechts ist niemandes Freund.‘“ Mit anderen Worten: Rette sich wer kann vor den Rettern der Welt. Beneidenswert ist, wer sich ein so großes Ansehen erarbeitet hat, dass er dies vor einem großen Publikum aussprechen kann, ohne dass eben jene Weltretter über ihn herfallen.

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Renate Köcher berichtet von einem Autoaufkleber, den sie kürzlich gesehen hat, mit der Aufschrift: „Rettet den Wald – esst mehr Spechte!“ Das ist – abseits der Salonkolumnisten versteht sich – der vernünftigste Beitrag zur Umweltdebatte, den ich seit langem gehört habe.

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Der „Verein für Medieninhaltsanalyse“ war ein kleiner Club von vielleicht zwei Dutzend Sozialwissenschaftlern und Statistikern, die sich für die Nutzung dieser Methode in der gesellschaftspolitischen Forschung einsetzten. Für die routinemäßige Vereinssitzung im Januar 2000 hatte die Konrad-Adenauer-Stiftung freundlicherweise einen kleinen Konferenzraum in ihrem Haus am Berliner Tiergarten zur Verfügung gestellt. Der Zufall wollte es, dass am Tag der Vereinssitzung im selben Haus und zur selben Uhrzeit Wolfgang Schäuble eine kurzfristig angekündigte Pressekonferenz abhielt. Die CDU-Spendenaffäre befand sich auf ihrem Höhepunkt, und es wurde allgemein erwartet, dass Schäuble auf der Pressekonferenz seinen Rücktritt als CDU-Vorsitzender erklären würde (was er nicht tat, der Rücktritt erfolgte ein paar Wochen später). Durch diesen Zufall konnten wir, die Vereinsmitglieder, beim Betreten des Hauses etwas erfahren, was sonst nur Politiker und andere Prominente erleben, und was dem normalen Fernsehzuschauer entgeht: Die körperlich spürbaren Stoßwellen der Bedrohung, die von einer Meute blutgieriger Journalisten ausgehen.

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Manche kulturellen Verluste schlagen sich in der Alltagssprache nieder. Meine Großmutter, Jahrgang 1909, verfügte über einen kleinen Fundus von Verballhornungen klassischer Zitate, die sie im täglichen Gespräch immer wieder anbrachte. Nahm man in ihrer Gegenwart ein Messer in die Hand, konnte man sich darauf verlassen, dass sie gleich sagen würde: „Was wolltest Du mit dem Dolche, sprich – Kantüffeln schäl’n. Versteihst mi nich?“ Das war kein Kokettieren mit Bildung, sondern ganz natürlich. Im Elternhaus meiner Großmutter gab es durchaus gute Bücher, doch eine besonders herausragende Bildung hatte sie nicht genossen. Von Beruf war sie Schneiderin. Ihre zugegebenermaßen müden Witze funktionierten, weil das Original, auf das sie anspielten, allgemein bekannt war. Heute kann man von Glück reden, wenn meine formal – und in vielerlei anderer Hinsicht sicherlich auch tatsächlich – viel höher gebildeten Studenten den Namen Schiller überhaupt schon einmal gehört haben.