Es gab viele schwarze Tage in der ruhmreichen Geschichte der deutschen Sozialdemokratie. Das Ermächtigungsgesetz, die Zwangsvereinigung der Ostgenossen mit den Stalinisten der KPD, die Wahl Adenauers zum Bundeskanzler mit seiner eigenen entscheidenden Stimme und den Fall Guillaume. Und es gibt den 30. November 2019.

All diesen historischen Ereignissen war bisher eines gemein. Es waren politische Feinde und Gegner, die der Partei schicksalhafte Schläge oder eine politische Niederlage (Adenauer) einbrockten. Über ein Kaiserreich, einen mutigen Republikversuch und zwei Diktaturen hinweg hatte die SPD Bestand und formte das Land mit – auch das wiedervereinte. Bis zu dem Tag, an dem sie auf den Selbstvernichtungsknopf drückte.

Über zwei Generationen hinweg haben meine Vorfahren ihren Kopf für die beste aller demokratischen Ideen hingehalten – und Gefängnis sowie Entehrung, Vertreibung und Exil hingenommen für diese eine heilige Sache: eine soziale Demokratie in Deutschland. Keiner der jüdischen Gründerväter und keiner unter ihren späteren Verteidigern hat gewiss vorhersehen können, welchen Verrat die Partei im 20. und 21. Jahrhundert an ihnen und an der eigenen Sache betrieben hat.

Wo bleibt das jüdische Erbe?

Bis auf wenige aufrechte Genossinnen und Genossen, und neuerdings die Jusos, gibt es keine Mehrheit mehr in der einst so stolzen Partei, die sich des jüdischen Erbes besönne oder öffentlich für Israel einstünde. Im Gegenteil: Der Trend der sozialdemokratischen Internationale, in der Führung einerseits zu vergreisen und andererseits gern auch antizionistische Positionen einzunehmen (Sanders in den USA, Corbyn in Großbritannien), hat zumindest in der Altersfrage jetzt auch die deutsche SPD erreicht.

Denn an diesem 30. November stimmte jener Rest des übrig gebliebenen Parteivolks (54 Prozent), der eine etwa zwei Minuten Zeit in Anspruch nehmende Online-Abstimmung für nicht zeitlich und intellektuell unzumutbar hielt, mit 53,06 Prozent für den eigenen Untergang. Ein Politrentner – Norbert Walter-Borjans, für die, die sich das nicht merken können, gibt es das anbiedernd-joviale Kürzel NoWaBo – sowie eine gänzlich Charisma-freie Absolventin der „Akademie für Datenverarbeitung Böblingen“, deren Hauptmerkmal in TV-Runden aus schmallippigem Oberlehrer-Attacken à la „Das habe ich Ihnen vorhin doch schon erklärt“ bestand, sollen die SPD nun aus der Krise holen.

Suizidales Basisvotum

Zwei aus der Deckung der kompletten politischen Bedeutungslosigkeit durch ein suizidales Votum der Basis an die Macht gespülte Personen, die sich – frei von der Verantwortung und Verpflichtung, die eine Regierungsbeteiligung nun einmal mit sich bringt – irgendwo diffus als „links“ verorten und damit dem gänzlich verunsicherten Parteivolk einen Lichtschein der Hoffnung auf die 14-Prozent-plus-x-Umfragen projizieren. Ein Flackern, das bei genauerem Hinsehen zum Elmsfeuer dieser Partei werden wird. Vizekanzler Olaf Scholz stark beschädigt, trotz aller tönernen „Wir halten zusammen“-Beteuerungen nach dem Wahlergebnis, die Große Koalition – trotz der Vereinnahmung der Union die einzige Plattform, auf der die SPD noch positiv von sich Reden machen kann – wohl Makulatur: Was Walter-Borjans und Esken, zusammen im Schnitt 62,5 Jahre alt, als jugendlich-schwungvolle Erneuerer der Partei an Lösungen anbieten, liest sich wie ein Gebrauchsanleitung für eine neuerliche „Rote Socken“-Kampagne der CDU. Sozialistische Kollektivträume aus der Mottenkiste des längst als überwunden geglaubten StaMoKap-Flügels, die der Partei vielleicht bei ihrem Nachwuchs ein paar neue Fans bescheren mögen, im bundesdeutschen Wahlgefüge aber dazu führen werden, irgendwo zwischen Linkspartei und Grünen auf acht Prozent minus y zerrieben zu werden.

Karnickelzuschlag und Abschaffung von Hartz IV

Populistische Positionen wie der Karnickel-Zuschlag – der „Familientarif mit Kinderbonus“, der das Ehegattensplitting bei der Steuer ersetzen soll, kinderlose Ehepaare, die beide erwerbstätig sind, also abstraft zugunsten einer Volks-Vermehrung im Sinne der neuen Spitzengenossen, die Abschaffung von Hartz IV und andere abgewetzte Utopien sollen also die SPD wieder zur Volkspartei machen. Noch mal: Dass weder Diktaturen noch schlimmste politische Rückschläge diese einst wichtigste Partei Europas zerstören konnten, sondern dass ihr jetzt ein gutes Viertel der eigenen Genossen den Todesstoß versetzt – ein Suizid aus Angst vor dem Exitus, ist zum Heulen.

Da gäbe es eigentlich nur noch eins: den Austritt. Doch der kann auch nur einmal erfolgen. Effektiver also ist der Arschtritt. Drinbleiben und weitermachen, schlimmer, Genossen, kann es nach diesem 30. November nicht mehr werden. Und wohl niemals zuvor wünschte sich der Autor mehr, Unrecht zu haben. Sieht aber leider nicht danach aus im Moment. Denn in einem Punkt hat Walter- Borjans leider völlig recht, auch wenn dessen öffentliche Formulierung exemplarisch für den Irrsinn steht, der die Partei nun erwartet: Unter dieser Führung braucht die SPD in der Tat keinen eigenen Kanzlerkandidaten. Von uns zieht die neue Zeit …