Die Fridays-for-Future-Bewegung nimmt heute ihre Klimastreiks wieder auf. Doch sie ist unfähig, angesichts des Klimanotstands wirklich alles zu tun, was sie tun müsste: zum Beispiel sich vor die noch laufenden, klimafreundlichen deutschen Kernkraftwerke zu stellen. Stattdessen lässt man sich die eigenen Positionen von Altgrünen und Erneuerbare-Energien-Lobbyisten diktieren und bekommt am Ende Braunkohle und Erdgas.

„Stellt euch vor, es ist Klimanotstand, aber keiner geht hin.“ Das ist der erste Satz meiner aktuellen Klima-Demo-Rede. Ich bin sauer, dass nicht genug getan wird. Ich bin wütend, dass alle vom Klimanotstand reden, aber außer Symbolpolitik und Rhetorik keine Maßnahmen ergriffen werden.

Von der Wilstermarsch bis an die Isar

So weit könnte diese Rede auch von Greta Thunberg oder Luisa Neubauer kommen. Aber meine Rede wird nicht heute gehalten, am großen Klimastreiktag vom 25. September, ich habe sie schon vor einer Woche gehalten, am vergangenen Samstag vor dem bayerischen Kernkraftwerk Isar-2 und am Sonntag an der Donau vor dem Kernkraftwerk Gundremmingen. In der Woche davor hatte ich, nachtschicht-müde, am KKW Grohnde eine ähnliche Rede gehalten, davor in Brokdorf. Binnen zwei Wochen bin ich vom Elbdeich in der Wilstermarsch bis hinunter an die Isar gefahren, von einem KKW-Standort zum anderen. Und immer habe ich mit den Worten geendet: „Wer vom Klimanotstand spricht, darf vom Ende der Kernenergie in Deutschland nicht schweigen“. Ich war nicht allein, mit mir waren es mal zwölf, mal zwanzig, mal neunzig Aktivisten, die sich im Wortsinne vor die sechs noch laufenden deutschen Kernkraftwerke stellten – denn die sitzen schon im Todestrakt. Geht alles nach den Plänen der Bundesregierung, wird ab 1. Januar 2023 keine Kilowattstunde Atomstrom in Deutschland mehr produziert. Und deswegen haben wir ein Problem mit unserer Klimazielerreichung.

Klimaschutz und deutsche Kernkraft

Im Juli hatte ich zusammen mit dem Nuklearwissenschaftler Rainer Moormann ein Memorandum veröffentlicht, in dem wir darlegen, warum jetzt dringend geboten ist, die Energie- und Klimapolitik neu aufzustellen, den Kohleausstieg zu forcieren und stattdessen die Kernkraftwerke als CO2-arme Stromerzeuger zu erhalten. Sie sollten bis 2030 weiterlaufen, bis wirklich klar ist, ob Sonne, Wind und Stromspeicher die Last der Dekarbonisierung alleine tragen können. Wir gaben je nach Berechnungsgrundlage 50 bis 76 Millionen Tonnen CO2-Ersparnis pro Jahr an, das sind bis zu 10 Prozent des deutschen Gesamtausstoßes. Wir könnten, wenn wir wollten, auf einen Schlag die gesamte Braunkohle von Nordrhein-Westfalen verabschieden, wenn wir die KKW begnadigten. Stellt euch endlich vor die Kernkraftwerke!, riefen wir der Klimabewegung zu, ihr braucht sie! Andernfalls rutschen wir in die Abhängigkeit vom klimaschädlichen Erdgas als Backup der Erneuerbaren.

Anti-Atom feuert aus allen Rohren

Doch die Klimabewegung schwieg, während Grüne, Erneuerbaren-Industrielobby und Anti-Atom-NGOs unisono aufschrien. Schon vor uns hatte es immer einmal wieder Vorstöße für die Kernenergie gegeben, von Wirtschaftsführern und Ökonomen, aber keiner hat die Energiewendler so aufgescheucht wie unser Memorandum. Warum? Weil sich inzwischen herumgesprochen hat, dass die Energiewende in der Krise steckt; weil hier ein Kritiker der Atomindustrie und eine Kernergie-Befürworterin eine ungewöhnliche Koalition eingegangen sind, die auf die Dringlichkeit des Problems verweist; und weil unser Vorschlag so pragmatisch ist, dass er viel naheliegender erscheint als ungewisse Speicher-Infrastrukturen, denn man muss gar nichts neu bauen. Aber sein Pragmatismus macht unseren Vorschlag auch gefährlich für manche Menschen. Die Antiatomiker bekamen Angst, ihr historischer Sieg über die Kernenergie könne ihnen noch auf den letzten Metern entrissen werden. 

Seitdem feuern sie aus allen Rohren. Manche machen es sich ganz einfach und verleumden den Vorschlag gleich als AfD-Projekt oder Hirngespinst von Verrückten. Andere behaupten, die CO2-Ersparnis sei viel zu gering, und geben sich einige Mühe, sie herunterzurechnen. Der Erneuerbaren-Lobbyist Hans-Josef Fell, der seinerzeit das Erneuerbare-Energien-Gesetz mit schuf, wollte allerdings trotz mehrmaliger Nachfrage seinen Rechenweg nicht erläutern. Stattdessen gibt er alle möglichen strukturellen und politischen Bedenken gegen die Rettung der Kernkraftwerke und die Einmottung der Kohlekraft an, wohlgemerkt in einem Land, das im März 2011 nach Fukushima genau eine Woche brauchte, um sieben Reaktorblöcke unter dem falschen Vorwand der Gefahrenabwehr vom Netz zu prügeln. Die Ökonomin Claudia Kemfert wiederholte zum n-ten Male ihr Mantra, dass Kernenergie „teuer und gefährlich“ sei; sie machte sich erst gar nicht die Mühe, auf unseren Vorschlag überhaupt nur inhaltlich einzugehen. Die linkskatholische Zeitschrift Publik-Forum, in der Kemferts Text zusammen mit einem Beitrag meines Memorandums-Coautors Moormann erschien, schloss ihre Kommentarspalte und ihr Meinungsbarometer, weil sich auf die Veröffentlichung hin zu viele Kernkraft-Befürworter meldeten. Eine „Kampagne“ sei das, erläuterte das Publik-Forum, und die rechtfertige das Wegzensieren pronuklearer Reaktionen. 

Atomkosten-Bingo bei Greenpeace

Greenpeace, genauer: der kommerzielle Arm des Campaigner-Konzerns, der Ökostromvermarkter Greenpeace Energy, veröffentlichte indes eine neue Studie zu den Kosten „der Nutzung der Atomenergie zur Stromerzeugung“, in der er seine eigene frühere, bereits krass überhöhte Schätzung verfünffacht. Zur Erinnerung: 2010 gab Greenpeace diese Kosten mit 204 Milliarden Euro an, allerdings für einen Zeitraum von 1950 bis 2010; demnach haben die Erneuerbaren, deren Förderung mit rund 30 Milliarden Euro jährlich zu Buche schlägt, bereits im siebten Förderjahr die Marke geknackt, für die die Nukies sechzig Jahre brauchten. Das kann man natürlich nicht so stehenlassen. Nun, zehn Jahre später, soll alles plötzlich eine Billion Euro gekostet haben. Die Berechnung des Thinktanks „Forum ökosoziale Marktwirtschaft“ lässt vermuten, dass es hier niemandem um seriöse Forschung ging. Die Studie liest sich wie ein bizarres Atomkosten-Bingo. Auf die Bilanz der „Nutzung der Atomenergie zur Stromerzeugung“ werden nicht nur Wiedervereinigungskosten wie der Rückbau der DDR-Kernkraftwerke gebucht, sondern auch die Wismut-Uranabbau-Sanierung, de facto Kosten des sowjetischen Atombombenprogramms auf DDR-Boden. Auch die Beiträge der Bundesrepublik zu internationalen Organisationen wie IAEA und Euratom sowie die Hermes-Bürgschaften für ausländische Atomprojekte kommen auf die Liste, genau wie die prominent genannte Asse-Sanierung, bei der aber größtenteils gar keine Abfälle aus Kernkraftwerken involviert sind. 

Hinzu kommt die Staatshaftung für nie passierte Atomunfälle, also  fiktive, aber dafür schön hohe Summen, die genau wie die Ausgaben für Polizeieinsätze bei Castortransporten und AKW-Bauprojekten als externe Kosten interpretiert werden, die eigentlich in den Atomstrompreis integriert gehörten. Man muss sich das wirklich auf der Zunge zergehen lassen: Die Auftraggeberin einer Studie lässt die Kosten von Demonstrationen, die sie selbst als Berufsorganisatorin von Anti-Atom-Demos mit verursacht, als Kosten der Kernenergie ausweisen. Wohlgemerkt sagen das dieselben Leute, die noch nicht einmal die technischen Systemkosten der Erneuerbaren Energien, also Netzstabilisierungs- und Speicherkosten, in den Strompreis der Windkraft und Sonnenenergie einbeziehen möchten. Nach diesem Verursacherprinzip lege Greenpeacis kann man gleich die syrischen Flüchtlinge für den Polizeischutz von Pegida-Demos haftbar machen, und den Christian Drosten für die ideellen und realen Kosten des Heilpraktikerinnen-cum-Nazi-Reichstagssturms. 

Klimaaktivisten als Mikrofonständer

Sie haben also Angst vor unserem Vorschlag und akzeptieren die Braunkohle als kleineres Übel – die alten Grünen, die vom Staat verwöhnte Erneuerbaren-Industrie, aber auch die jungen Klimaschützer, die sich mit Kernkraft eigentlich nur deswegen noch nie befasst haben, weil ihnen Eltern, Schule, Kirche und Regierung bedeuteten, sie sollten die Finger davon lassen. Brave Klima-Aktivistinnen hören natürlich auf diese Autoritäten,  und lassen sich inzwischen von Anti-Atom-NGOs ihre Reden ins Mikrofon diktieren. So die Münchner Forstwirtschafts-Studentin Antonia Messerschmidt, die als „TonivomDienst“ für FFF twittert. Sie erläutert in einem Video des Campaigner-Vereins „Ausgestrahlt“, warum die Kernenergie keine Lösung fürs Klimaproblem sei: Das machten uns Leute vor, die sagten, „… dann können wir hier einfach ein bisschen was spalten, und dann haben wir voll viel Energie und haben alle Probleme gelöst.“ Und, so schnattert Toni weiter,  „planetenschädliche“ Formen der Stromerzeugung hätten in Deutschland nichts zu suchen. Liebe Toni, vielleicht solltest du einfach mal mit Leuten darüber reden, die anders als die Ausgestrahlten, für die du den Mikrofonständer gibst, über „ein bisschen was spalten“ ein bisschen was wissen? 

AKW zu WKA: Ein Windpark von der Größe Münchens

Aber „voll viel Energie“ ist ein guter Aufhänger, um von den Alten eingetrichterte Kindergewissheiten der FFF-Jugend zu überprüfen. Bleiben wir doch gleich bei München, der Heimat von Toni vom Dienst. Das AKW Isar-2, vor dem ich neulich meine Klimarede gehalten habe, hat 2019 auf der Fläche von ein paar Fußballfeldern rund 12 Terawattstunden (das sind 12 Milliarden Kilowattstunden) Strom erzeugt. Kernenergie hat eine ähnliche CO2-Bilanz wie Windkraft, laut IPCC 12 g CO2-Äquivalent pro Kilowattstunde. Isar-2, dem Experten bescheinigen, zu den technisch ausgereiftesten und sichersten Anlagen der Welt zu gehören, muss nach Tonis Meinung weg, weil „planetenschädlich“. Also muss man es durch nicht „planetenschädliche“ Technologie ersetzen.

Will man die Stromproduktion von Isar-2 durch modernste 5-MW-Windkraftanlagen mit bis zu 160 m Nabenhöhe, rund 160 Meter Rotordurchmesser und bis 230 Meter Gesamthöhe erledigen lassen, müssten wir bei der durchschnittlichen Arbeitsverfügbarkeit von Onshore-Windkraftanlagen (zugrundegelegt habe ich die 22 Prozent aus der Windkraftstatistik 2018 in „Wind energy in Europe in 2018 – Trends and statistics, 18“) 1245 Anlagen errichten; legt man die meist über-optimistischen Herstellerangaben zugrunde, die bei auf Schwachwindlagen optimierten Anlagen mit sonst nur auf See erreichbaren Arbeitsverfügbarkeiten von ca. 37 Prozent rechnen, sind es immer noch 810 Anlagen. Das ist eine ganze Menge Beton, Stahl, nicht recyclebarer Carbonfaser-Verbundstoff, diverse Metalle und Seltene Erden; die Rohstoffe werden zumeist aus ziemlich planetenschädlichen Extraktionsindustrien in Asien bezogen. Betrachten wir jetzt die in der Branche üblichen Abstandsregeln, nämlich das 5-fache des Rotordurchmessers in Hauptwindrichtung und das 3-fache in Nebenwindrichtung,  (Fachagentur Wind an Land, 2019), können wir berechnen, welche Fläche wir mit dem Isar-2-Ersatzwindpark belegen müssten: es wäre eine Fläche von je nach Berechnungsgrundlage 311 bis 478 Quadratkilometern, auf der die 230-Meter-Giganten zu stehen kämen. Das ist im günstigsten Fall die Fläche Münchens, im ungünstigeren Fall das rund 1,5 fache davon. Oder ein Quadrat mit 17 bis 22 Kilometern Kantenlänge. 

Die Lebenslüge der deutschen Energiewende

Die Bundesregierung möchte bis 2030 84 Terawattstunden onshore-Windstrom mehr produziert sehen als heute. Das ist siebenmal Isar-2, das ein paar Fußballfelder benötigt, oder sieben bis zehn Münchens, belegt mit Mega-Windkraftanlagen. Und das ist ja nur der Anfang – klimaneutral sind wir auch 2030 so noch lange nicht. Aber diese Betrachtung gibt uns eine ansatzweise Vorstellung, was wir da ohne Not, aber zum Schaden unserer Klimaziele verschrotten. Denn die Kernkraftwerke könnten ja neben dem Windkraftausbau weiterlaufen,  ihn absichern und so eine schnellere Erreichung der Klimaziele bewirken. Doch auch unsere Natur- und Landschaftsschutzziele leiden, wenn wir die Material- und Flächenschlacht einer ausschließlich auf extensive Erneuerbare fixierten Lösung betrachten. Zwar kann unter Windkraftanlagen Land- und Forstwirtschaft betrieben werden, aber Naturschutz- und Biodiversitätsbelange schränken die für den Ausbau wirklich geeigneten Flächen stark ein. Es ist also ein quälend langer Standortfindungsprozess zu erwarten, inklusive Naturschützer- und Bürgerprotesten. Eine solche Verzögerung wiederum ist nicht gut für die Erreichung von Klimazielen.

Würden wir nun die Kernkraft weitermachen lassen und die Windkraft parallel ausbauen, müssten wir sie nicht in dem oben geschilderten Ausmaß in unsere Landschaften stellen. Dem Klima ist es egal, welche Erzeuger CO2-armen Strom produzieren – der Kulturlandschaft, den Wäldern, den Tieren und auch sehr vielen Menschen nicht. Doch die Windindustrie hat kein Interesse daran, ein Stück vom Kuchen zugunsten des Landschaftsbilds, der Artenvielfalt und des sozialen Friedens, in der Diktion der Klimabewegung: zugunsten „des Planeten“ abzugeben: sie möchte die nukleare Konkurrenz verboten sehen, die ja an einem künftigen Strommarkt mit scharfer CO2-Bepreisung dieselben Vorteile hätte wie die Windkraft. Um das zu verhindern, kann den EE-Lobbyisten der Atomausstieg gar nicht schnell genug kommen. Sie spielen seit Jahren das Nullsummenspiel Erneuerbare gegen Kernenergie, bei dem es nur einen Gewinner gibt, nämlich fossile Energieträger, die bei gleichzeitig ungewisser Entwicklung der Speicherlösungen als Backup einspringen. Kein Klimaziel leitet sie, sondern der Ausbau der Erneuerbaren als Selbstzweck-Ziel, das vor allem der Profitsteigerung dient. Das Todesurteil für die deutsche Kernergie wird daher teuer bezahlt werden: wer es unterzeichnet und bejubelt, nimmt in Kauf, dass dreckige Braunkohlekraftwerke bis ins vierte Jahrzehnt dieses Jahrhunderts weiterlaufen werden, und dass Putins Gazprom als lachender Dritter übrigbleibt, wenn schließlich auch die Kohle gehen muss. Das ist die Lebenslüge der deutschen Energiewende. Und Fridays for Future lügt sie mit.