Ausgerechnet in der Hochphase der Pandemie entdeckt Deutschland seine Freiheitsliebe. Unsere Autorin meint, dass da gehörig etwas durcheinandergeraten ist.

Dass Deutschland es nicht so mit dem Freiheitsgedanken hat, ist nicht sonderlich neu. Im Zweifel setzt man lieber auf die wohlige Wärme des Vollkasko-Staates, der neue Erdenbürger mit einer Steueridentifikationsnummer begrüßt und jeder noch so mühelos lösbaren Herausforderung mit zehn neuen Gesetzen begegnet. Der seinen eigenen Bürgern weder Altersvorsorge noch mündiges Einkaufen und Essen zutraut und dafür im Gegenzug viel Zuneigung erhält. Liberalismus als Idee wiederum verortet man landläufig an Kapitalmärkten oder in der Nähe von Ellenbögen. Kurzum: Freiheit in Deutschland beginnt bei Freibier und endet mit freier Fahrt für alle.

Wie weiland in der DDR

Es bedurfte erst einer Pandemie, um den Freiheitsgedanken der Deutschen zu entfesseln. Eine Maske tragen? Weihnachten bei Rekord-Inzidenz nur im kleinen Kreis? Einfach mal daheim bleiben? Nicht nur eine Zumutung sondergleichen, sondern ein eklatanter Angriff auf die Freiheit! Und nun: sich impfen lassen? Ein noch viel gravierenderer Angriff auf die Freiheit von geradezu Diktatur-gleicher Dimension. Wie damals in der DDR! Fortgeschrittene Seuchen-Experten mit scheinbar unschlagbaren Immunsystemen verweisen indes vergnügt und ganz unironisch auf Eigenverantwortung. Eine schöne Idee für ein Land voller Mieter und Angestellter, das bei jeder Gelegenheit nach dem Staat ruft, sich für Quoten ebenso wie für Gleichheit begeistert und für jedes private Lebensrisiko eine staatliche Absicherung erwartet. Aber im Fall einer hoch ansteckenden und tödlichen Virus-Erkrankung wird es klappen mit der Eigenverantwortung, ganz sicher. Auch dann, wenn Freiheit für ein Drittel der Deutschen bedeutet, die eigenen Viren munter durch die Gegend zu tragen, Schwächere erkranken zu lassen, den nächsten Lockdown für alle zu provozieren und die praktische Intensivmedizin an ihre Grenzen zu bringen.

Lieber Tubus als Impfung

Womöglich rächt es sich gerade ein bisschen, dass nicht nur die Deutschen, aber eben vor allem sie ein Volk praktizierender Liberalismus-Analphabeten sind. Dass Freiheit und Verantwortung zusammen gehören, hat sich noch nicht hinreichend herumgesprochen. Dass die eigene Freiheit dort endet, wo sie mit der Freiheit des Anderen kollidiert, auch nicht. Neben staatlichem Handeln existiert nur ein einziger Faktor, der die Freiheit des Einzelnen limitiert: Gesundheit, beziehungsweise ihre Abwesenheit. Möglicherweise beeinträchtigt ein Tubus die eigene Freiheit dann doch etwas stärker als eine Impfung? Ein verwegener Gedanke, der den Neo-Freiheitskämpfer freilich nicht irritieren muss. Denn dank limitierter politischer Durchsetzungsfähigkeit dort, wo sie angebracht wäre, sowie ausgeprägter Wurschtigkeit der Mehrheit, die auch sonst einen allgemeinem Hang zu Verschwörungstheorien und Zuckerkügelchen kultiviert, sind es genau sie, die nun über die weitere Karriere von SARS-2 entscheiden. Menschen, die Freiheit am wenigsten begriffen haben, definieren sie nun nicht nur, sondern verfügen über sie. Ungefähr so, als hätte man Harald Juhnke mit der Leitung der „Anonymen Alkoholiker“ betraut.

Freiheit zur Pandemie

Und so hat sich Deutschland nach knapp zwei Jahren Pandemie und nun sogar ohne jeden Impfstoff-Mangel inzwischen soweit einsortiert, dass es vor einer bedeutenden Frage steht: Was wiegt schwerer? Die Freiheit des Impfverweigerers, die Pandemie munter am Leben zu erhalten? Oder die Freiheit des (geimpften) Mitt-Fünfzigers, einen plötzlichen Herzinfarkt dank ausreichender Intensivkapazitäten vergleichsweise unbeschadet zu überstehen? Gar nicht so einfach.

Wer heute oder morgen zwischen Erzgebirge, München und Rosenheim ein Schädel-Hirn-Trauma erleidet, benötigt dazu zweifelsohne nur noch eines: Glück. Dem neu entdeckten deutschen Freiheitsdrang und seinem politischen Support-Service sei Dank.