Der Braunschweiger Landesbischof warnt am Reformationstag davor, auf die falschen Stimmen zu hören, etwa denen von Antisemiten – und Neoliberalen.

Ein ganzes Jahr Lutherjubiläum bietet eine Menge Möglichkeiten, öffentlich Unsinn zu produzieren. So behauptete die NPD auf einem Wahlplakat, Martin Luther würde heute die NPD wählen. Kanzlerin Angela Merkel wiederum kam bei ihrer Festrede zum 500. Jahrestag des Thesenanschlags in Wittenberg ausgerechnet von Luther zur Bedeutung von Meinungsvielfalt und Toleranz – immerhin bezeichnete sie den wahrlich nicht sehr toleranten Reformator nicht als Vorreiter dieser Tugenden.

Eine besondere Qualität hatten aber einige Aussagen des Braunschweiger Landesbischofs. Bei den Feierlichkeiten am Reformationstag auf dem Braunschweiger Burgplatz warnte Christoph Meyns laut der Braunschweiger Zeitung in seiner Rede im Dom, im „Lärm der Moderne“ den „falschen Stimmen“ zu folgen: „nationalistische und chauvinistische Stimmen, völkische und antisemitische Stimmen, patriarchale und neoliberale Stimmen.“ Stattdessen müsse die Kirche für „Menschlichkeit, Gerechtigkeit und Frieden, für kranke und behinderte Menschen, für Flüchtlinge, für die Armen und Ausgebeuteten dieser Welt“ sprechen.

Es wäre spannend, zu erfahren, wie um alles in der Welt der Bischof dazu kommt, „neoliberale“ in eine Reihe mit antisemitischen, völkischen und patriarchalen Stimmen zu stellen. Und in welcher Form der Neoliberalismus im Widerspruch zu Menschlichkeit, Gerechtigkeit und Frieden steht.

Grundlagen der Sozialen Marktwirtschaft als Widerspruch zu Gerechtigkeit und Frieden?

Laut Wikipedia bezeichnete Neoliberalismus bei der Schöpfung des Begriffs im Jahr 1938 eine neue Form des Liberalismus, „jedoch nicht im Sinne eines Marktradikalismus, sondern vielmehr als antikommunistischer und antikapitalistischer Dritter Weg“. Speziell der deutsche Neoliberalismus gelte als „eine wesentliche theoretische Grundlage der Sozialen Marktwirtschaft“.

Hält der Bischof es allen Ernstes für nötig, im selben Atemzug vor den Ideen von Wilhelm Marr, Julius Streicher und Co. auf der einen und denen des Nobelpreisträgers Friedrich August von Hayek oder gar des ehemaligen Bundeskanzlers Ludwig Erhard auf der anderen Seite zu warnen? Zumal der an diesem Tag gefeierte Luther mit seinen antijüdischen Hetzreden ersteren ideologisch deutlich näher stand als letzteren, welche die Freiheit des Individuums ins Zentrum ihrer politischen Überzeugung stellen.

Nun hat die Bedeutung des Wortes Neoliberalismus in den vergangenen Jahrzehnten einen Wandel erfahren. Aus der Bezeichnung für eine wirtschaftspolitische Denkschule wurde ein polemischer Kampfbegriff. Dessen Funktion besteht vor allem darin, mit einem Minimum an Inhalt und Konkretheit ein Maximum negativer Assoziationen zu erzeugen. Wer über Neoliberalismus schimpft, hat meist nur eine sehr vage Vorstellung davon, was genau er eigentlich meint – irgendwas mit Ausbeutung, Marktradikalismus und so.

Von einem Bischof sollte man aber eigentlich die intellektuelle Tiefe und Redlichkeit erwarten können, sich nicht solch billiger Schlagworte zu bedienen, die einzig die Diffamierung einer Denkrichtung zum Ziel haben und in diesem Fall einen Begriff mit völlig unpassenden Assoziationen aufladen. So hingegen durfte ich als überzeugter Neoliberaler am Reformationstag erfahren, dass der Landesbischof meiner Heimatstadt es für nötig hält, meine Mitbürger ebenso vor mir zu warnen wie vor Judenhassern und Männern, die Frauen unterdrücken.