Über eine Integrationsgeschichte mit Happy End, die an vielen Stellen hätte scheitern können — und was Erdogan damit zu tun hat.

Das ist die Geschichte eines jungen Mädchens jugoslawischer Einwanderer, das in Deutschland aufwuchs. In Eislingen – einer gutbürgerlichen Kleinstadt zwischen Ulm und Stuttgart. Es ist die Geschichte einer gelungenen Integration, die an vielen Stellen hätte scheitern können. Das Mädchen bin ich.

Es waren wenige deutsche Wörter, die ich kannte, bevor ich in den Kindergarten kam. Sie beschränkten sich weitestgehend auf: “Duldung”, “Aufenthalt” und “Ausländerbehörde”. Wobei mir Letzteres beim Aussprechen Probleme bereitete. Am liebsten mochte ich “Duldung”. Das sagte meine Mutter ständig mit ihrer dunklen Stimme und dem jugoslawischen Akzent, indem sie das “u” immer sehr lang zog. Sie hatte eine “Duldung”. Ich begriff früh, dass ihre “Duldung” nicht so gut war wie der “Aufenthalt” meines Vaters. Das eine bedeutete Arbeit, das andere Schwarzarbeit. Mit meinen Deutschkenntnissen kam ich also im Kindergarten nicht sonderlich weit. Ein paar tränenreiche Wochen später sang ich meinen Eltern jedoch bereits “Sonne, liebe Sonne, komm ein bisschen runter!” vor. Der erste Schritt in Richtung Integration war somit getan. Dachte ich.

Dort, wo ich wohnte, hießen die Kinder Ali, Lacrecha, Dejan oder Dimitri. Einige von ihnen waren die verlassenen Kinder amerikanischer Soldaten, die während des Kalten Krieges dort stationiert und längst wieder in die USA zurückgekehrt waren. Die anderen waren wie ich – einfache Migrantenkinder. Die halb-amerikanischen Kinder waren vom Gefühl her deutlich cooler als wir. Sie hatten die besser klingenden Namen und sie sprachen die eindeutig coolere Sprache. Doch ein Schicksal teilten wir alle gemeinsam – wir lebten im Ghetto. Eislingen Nord – hartes Pflaster (für schwäbische Verhältnisse), heruntergekommene Wohngegend, ausgegrenzt, Plattenbauten. Am schlimmsten ist dann noch, wenn man im Plattenbau nicht einmal die tolle Aussicht genießen kann, sondern im Erdgeschoss wohnt. So wie ich. Glücklicherweise putzte meine Mutter das gesamte Haus. Wenn ich ihr dabei half und mit dem Besen den Staub zusammenkehrte, schaute ich gerne im 15 Stock aus dem Fenster.

Wir Migrantenkinder blieben unter uns. Kindergeburtstage wurden hinter dem Haus auf einer öffentlichen Wiese gefeiert. Wir spielten auf dem Schulhof oder auf der Straße, teilten Fahrräder und Skateboards miteinander und gingen nur zum Essen nach Hause. Mittlerweile sprachen wir alle Deutsch miteinander. Nur, wenn wir uns an unsere Eltern wandten, griffen wir zu unserer jeweiligen Muttersprache.

Was der Religionsunterricht mit Integration zu tun hat

In der Grundschule lief es so gut für mich, dass ich eigentlich alles besaß, um zur Vorzeige-Streberin zu mutieren. Ich hatte nur Einsen im Zeugnis, besuchte freiwillig den Förderunterricht, um den schwächeren Kindern zu helfen und ging – obwohl nicht getauft – ebenso freiwillig in den evangelischen Religionsunterricht. Letzteres geschah, weil Alper, der Moslem war, und ich uns nach vielen miteinander verbrachten Zwangsfreistunden nichts mehr zu sagen hatten. Aber vor allem machte ich es, weil ich dazugehören wollte. Ich wollte so sein wie die anderen Kinder und lernte dafür sogar das “Vaterunser” auswendig. Nun musste Alper allein vor der Tür warten, während wir alle Religionsunterricht hatten.

“Deana, woher kommst du eigentlich?” Ganz selbstbewusst antwortete ich meiner Grundschullehrerin Frau Gummel darauf vor der gesamten Klasse: “Aus Jugoslawien.” “Jugoslawien gibt es nicht mehr”, entgegnete sie, was mich völlig verwirrte, da ich erklärte, ich sei erst vor kurzem dort gewesen. Als ich mich an diesem besagten Tag im Jahr 1994 nach der Schule auf den Heimweg machte, rannte ich förmlich, um meiner Mutter so schnell wie möglich davon zu berichten, dass es Jugoslawien gar nicht mehr gebe. Völlig wertfrei wollte ich ihr diese neue Erkenntnis vermitteln. Doch sie schaute mich nur lange an, begann zu weinen, schwieg und zündete sich eine Zigaretten an. Ich verstand nicht, warum.

Ebenso verstand ich ihre Tränen nicht, als ich ihr kurze Zeit später davon erzählte, dass mich jugoslawische Nachbarskinder gefragte hatten, ob meine Muttern Kroatin sei. Ein Wort, das ich zuvor noch nie gehört hatte. Außerdem solle mein Vater Serbe sein, was wohl ein Problem war. Na toll, dachte ich, jetzt gibt es selbst unter uns Jugo-Kindern schon irgendwelche Unterschiede. Aber das ist eine andere Geschichte.

Der Kampf mit der deutschen Grammatik

Als sich die vierte Klasse dem Ende neigte, sah es für mich nicht gut aus. Zumindest nach Meinung von Frau Gummel. Die Gespräche über die weiterführenden Schulen standen an. Ich hatte zwar immer noch einen Durchschnitt von 1,0, aber Frau Gummel glaubte, ich sei auf einem Gymnasium nicht richtig aufgehoben. Also, drückte sie meiner Mutter eine Empfehlung für die Hauptschule in die Hand. Angeblich weil mein Deutsch nicht gut genug war. Dabei hörte ich schon lange keinen Unterschied zwischen mir und den anderen Kindern mehr. Sogar das rollende “R”, das für die serbo-kroatische Sprache von Bedeutung ist, hatte ich mittlerweile verlernt. Es kostete mich viele Tränen und die Überzeugungskünste einiger Verwandter, bis sich meine Mutter dazu entschloss, sich über den Kopf von Frau Gummel hinwegzusetzen und mich auf das einzige Gymnasium der Stadt zu schicken.

Bis heute verdanke ich Frau Weigel – meiner ersten Gymnasial-Klassenlehrerin – die Fähigkeit, Fragen zur deutschen Grammatik wie aus der Pistole geschossen zu beantworten. Selbst wenn ich mitten in der Nacht aufgeweckt werden würde, sollte ich wissen, wie das Plusquamperfekt gebildet wird – die Wichtigkeit dieser Fähigkeit leuchtete mir ein. So wurde in jeder Deutschstunde ein_e Schüler_in an der Tafel abgefragt. Sie nannte den deutschen, die Schüler den lateinischen Begriff. Das von Frau Weigel eingeführte “Zufallsprinzip”, nach welchem der / die betroffene Schüler_in ausgewählt wurde, führte dazu, dass ich in 95 Prozent aller Deutschstunden an der Tafel stand. Zufälle lassen sich eben nicht beeinflussen.

Für einen Deutsch-Eklat sorgte ich zu einem späteren Zeitpunkt, als ich in einem Aufsatz das Wort “parkieren” verwendete. Ich meinte “parken”, hatte die Sprachen jedoch ein wenig durcheinander gebracht und das “jugoslawische” Wort auf Deutsch konjugiert. Diskutiert wurde mein Fehler vor der ganzen Klasse – ein solcher Fauxpas sollte nicht noch einmal vorkommen. In späteren Klassenstufen würde sich das Blatt jedoch wenden und ich zum Beispiel gelungener Integration, vielleicht sogar zur Inkarnation der deutschen Grammatik und Rechtschreibung werden. So hieß es fortan: “Nehmt euch ein Beispiel an Deana! Sie ist Ausländerin und macht trotzdem keine Fehler.” Damals war ich stolz. Und sagen wir, heute denke ich differenzierter über diese Aussage. Auch dass ich von jedem neuen Lehrer gefragt wurde, ob ich meinen Namen tatsächlich richtig geschrieben hätte, sehe ich erst mit Abstand kritisch.

Unsere Wohnung befand sich Luftlinie 200 Meter von der Schule entfernt. Auf der schlechten Seite der Bildung. Für mich dennoch gut genug, da ich an den Tagen mit Ganztagsunterricht zum Mittagessen nach Hause gehen konnte. Gut war es auch für einige meiner Mitschüler_innen, die ich regelmäßig zum Essen mitbrachte, da meine Mutter sowieso immer zu viel kochte. Wenig hingegen kochten anscheinend die Eltern einiger Klassenkamerad_innen. Denn, wenn ich dort zu Besuch war und es Abend wurde, hieß es: “Deana, du musst jetzt gehen. Wir essen gleich zu Abend.”

Pause.

Als Jugendliche begann sich mein Verhältnis zu Deutschland zu verändern. Wie viele Pubertierende in diesem Alter fragte ich mich, wer ich sei. Ich fragte aber auch: Bin ich deutsch oder jugoslawisch? Das Jugoslawisch-Sein gab es tatsächlich nicht mehr, aber was war ich denn jetzt? Ich entwickelte in dieser Zeit eine Abneigung gegen Deutschland und alles Deutsche. Wenn die deutsche Nationalmannschaft bei der WM gegen Frankreich spielte, war ich für Frankreich. Ich wäre auch für Burkina Faso gewesen. Hauptsache für den Gegner. Ich wollte für Deutschland jubeln, aber ich konnte nicht. In mir sträubte sich etwas dagegen. Plötzlich mochte ich das Essen der Deutschen nicht mehr, ihre Sprache, ihre Schulen und Straßen, ihr Wesen, ihre Knauserigkeit, die Tatsache, dass sie kein Temperament hatten, ihre Korrektheit und Organisiertheit, ihre Arroganz mir gegenüber, ihre höhere Stellung innerhalb der Gesellschaft als die meinige, mich nervte für alles mehr kämpfen zu müssen als andere, ihre Sticheleien, dass sie meinen Namen nie richtig schrieben, dass sie fragten, ob in meiner Heimat immer noch Krieg herrsche, die Betonung meiner Andersartigkeit, die Frage, was ich denn nun eigentlich sei, ihr Vermögen, ihre Häuser, ihr Glück – ihre Ausgrenzung wurde zu meiner Abgrenzung.

Doch um alles, was sie waren, beneidete ich sie in Wahrheit. Ich wollte so sein. Wollte eigentlich deutsch sein. Wusste jedoch, dass ich es niemals sein würde. Ich wollte keine Unterschiede mehr hören, nicht mehr sehen. Ich wollte dazugehören. Doch wirklich deutsch war ich nur, wenn ich im ehemaligen Jugoslawien war. Nur dort sagten sie zu mir: “Da kommt die “Švabica”, die Deutsche.” Schließlich habe ich nicht einmal ein “ić” im Nachnamen. Ein Paradoxon, das viele Migranten kennen.

Warum erzähle ich das alles eigentlich? Deshalb, weil mein 15-Jähriges Ich wahrscheinlich auch für Erdogans Präsidialsystem gestimmt hätte. Und weil eine misslungene Integration – obschon nicht nur – sehr wohl genau damit etwas zu tun hat. Warum also so viele Deutsch-Türken für Erdogan gestimmt haben? Einfach, weil sie es können. Und weil sie wissen, dass die Deutschen es scheiße finden würden. Diese Analyse klingt zu kurz gegriffen, zu plump formuliert, doch steckt darin zumindest ein Teil der Wahrheit. Wer über Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte hinweg das Gefühl vermittelt bekommt, immer mehr leisten zu müssen als der Rest und dennoch nicht gut genug ist, entwickelt eine Abneigung. Im schlimmsten Fall sogar Hass. Erdogan ist in diesem Fall Mittel zum Zweck. Und wenn die Türkei stark ist und Europa sogar auf der Nase herumtanzt, dann fühlt man sich als in Deutschland lebender (ausgegrenzte_r) Türke/Türkin eben auch stärker. Weil man das Gefühl hat, durch diese Stärke jemand zu sein. Manchmal sind die Dinge banaler, als wir annehmen. Auch ich empfand diese Abneigung, obwohl es mich vergleichsweise noch gut getroffen hat. Eine solche Abneigung führt zu Trotzreaktionen – zu Reaktionen, die mitunter nicht die klügsten sind.

Integration ist keine Einbahnstraße

Zurecht erwarten wir, dass Menschen, die zu uns kommen, sich unserer Lebensart anpassen. Ohne eine gemeinsame Basis kann kein Zusammenleben funktionieren. Darauf gründen schließlich alle menschlichen Beziehungen. Aber Integration ist keine Einbahnstraße. Den Namen eines Menschen richtig zu schreiben, hat wenig mit dessen Herkunft, aber sehr viel mit Respekt zu tun. Schließlich versuche ich doch auch alle Filipps, Philipps, Phillips, Phillipps und Philips auseinanderzuhalten. Ich hätte nach der vierten Klasse theoretisch die Hauptschule besuchen können, wenn es nach meiner Klassenlehrerin gegangen wäre. Vielleicht hätte ich auch dann alle Steine aus meinem Weg geräumt, um dort anzukommen, wo ich heute bin. Die Wahrscheinlichkeit spricht eher dagegen. Integration funktioniert folglich nur als Gemeinschaftsprojekt. Ich hatte Eltern, die mich zwar stets in allem unterstützt und mental gestützt haben, doch inhaltlich konnte mir keiner helfen – weder in der Schule, noch in allen anderen Bereichen des späteren Lebens. Oft hatte ich mir gewünscht, dass mich jemand, beispielsweise ein_e Lehrer_in an die Hand nimmt und sagt: “Falls du Probleme haben solltest, dann helfe ich dir.” Ich habe es auch ohne Hilfe geschafft und meine Abneigung in Wohlwollen umgewandelt. Nicht, weil ich besonders bin, sondern weil ich einen unbeugsamen Willen habe. Doch den hat nicht jeder. Und das sollte wir in unserer Integrationsdebatte berücksichtigen.

Bis heute frage ich mich, warum ausgerechnet bei Diskussionen um das Thema Integration und Migration eigentlich wenige bis keine Migranten befragt werden. Warum heißen die vermeintlichen Experten, die sich eine Meinung in Zeitungen und Fernsehsendungen darüber bilden, so häufig Stefan Müller oder Heike Bauer und nicht Alper Güney oder Deana Mrkaja? Es gibt ein Sprichwort, das meistens Gandhi zugeschrieben wird, dessen Ursprünge aber eigentlich auf Zentralafrika zurückgehen: “Was du für mich tust, aber ohne mich, das tust du gegen mich.” Dieses Sprichwort trifft gut, was in unserer Gesellschaft häufig passiert

Ich bin immer noch nicht zu 100 Prozent deutsch. Wie denn auch? Aber ich liebe dieses Land, liebe es für alles, wofür ich es lange Zeit nicht mochte und betrachte es als meine Heimat. Heute bin ich 30 Jahre alt, arbeite als Journalistin und bin dort angekommen, wo ich ankommen wollte. Trotzdem gibt es immer noch Situationen, bei denen ich weiß, dass ich benachteiligt werde. Nicht nur, weil ich Migrantin bin, sondern auch, weil ich eine Frau bin. Letzteres dann bald noch einmal ausführlicher.