Eine israelische Bodenoperation im Gazastreifen ist wahrscheinlich. Doch das Risiko ist hoch

Am 28. Juni 1914 erschoss ein blutjunger Serbe namens Gavrilo Princip den österreichischen Thronfolger und seine Gemahlin in der Provinzstadt Sarajewo. Es ist heute kaum noch vorstellbar, welche Empörung dieser Doppelmord damals hervorrief: Dass der Attentäter nicht nur Franz Ferdinand, sondern auch seine Frau Sophie kaltblütig abgeknallt hatte, war abscheulich. Und abscheulich war das Blutbad, das die Schwarze Hand — die Geheimorganisation, mit der Gavbrilo Princip liiert war — dreizehn Jahre zuvor im Königspalast in Belgrad angerichtet hatte. 

Die Terrorgruppe um Gavrilo Proincip wollte eine Überreaktion des Habsburgerreiches provozieren. Und diese Überreaktion bekam sie: Österreich-Ungarn erklärte dem Königreich Serbien den Krieg, Russland stellte sich hinter Serbien auf, das deutsche Kaiserreich erteilte dem österreichischen Verbündeten einen Blankoscheck, es folgte: der Weltuntergang. Am Ende waren sie alle nicht mehr da. Österreich-Ungarn, das russische Zarenreich, das deutsche Kaiserreich, das Osmanische Reich: verschwunden. Millionen Tote. Was dabei aber häufig vergessen wird, ist, dass Gavrilo Princip und Co. ihr Ziel voll und ganz erreichten: ein Königreich Jugoslawien, in dem alle Südslawen unter Herrschaft der Serben vereint waren.

Natürlich ist das, was die Hamas im Süden Israels verbrochen hat, so viel schlimmer als der Terroranschlag von Gavrilo Princip, dass es keine Worte dafür gibt. Es war ein versuchter Völkermord. Jedem muss klar sein: Wenn es die israelische Armee nicht gäbe, hätte die Hamas ganz Israel unter ihre Kontrolle gebracht und überall angefangen, jüdische Babys zu schlachten. Natürlich hat Israel alles Recht der Welt, sich zu verteidigen. Wer das leugnet, ist entweder dumm oder ein Antisemit, wahrscheinlich beides.

Hölle Häuserkampf

Da die israelische Armee nicht das tun wird, was die russische Armee in Tschetschenien getan hat — also Städte niederkartätschen und Hunderttausende Zivilisten massakrieren —, hat sie keine andere Wahl, als sich auf eine Häuserkampf einzulassen. Ein Häuserkampf ist die Hölle. Die Hamas hat ihren Überfall offenbar von langer Hand vorbereitet, sie wird sich, das dürfen wir getrost annehmen, auch auf den Häuserkampf eingerichtet haben. Israels Soldatinnen und Soldaten werden sich also Attacken von allen Seiten ausgesetzt sehen. Sie werden bei jeder Tür, die sie öffnen, nicht wissen, ob eine Großmutter oder ein Hamas-Kämpfer dahinter lauert; vielleicht wartet dort auch ein Hamas-Kämpfer, der Kinder vor sich herschiebt. Vermutlich ist mittlerweile der ganze Gaza-Streifen unterkellert. Israels Soldatinnen und Soldaten müssen damit rechnen, dass sie nicht nur von Dächern, sondern auch von unten her beschossen werden.

Israelische Soldatinnen und Soldaten sind keine Superhelden, sondern Menschen. Sie werden halb irre sein vor Angst und vollkommen irre vor Wut. Zum Adrenalin kommt noch die Traurigkeit. Viele Reservistinnen und Reservisten werden Leute kennen, die von der Hamas ermordet, entführt, vergewaltigt wurden. Manche haben Familienangehörige verloren. Es kostet Kraft, sich in einer solchen Situation nicht in einen Berserker zu verwandeln. Es kostet Kraft, nicht blind um sich zu schießen. Wer sicher ist, dass er in einer solchen Lage die Nerven behielte, der schreibe das erste antizionistische Flugblatt.

Zivile Opfer unter der palästinensischen Bevölkerung sind von der Hamas nicht etwa eingepreist — sie sind gewollt. Je mehr tote palästinensische Kinder im Fernsehen zu sehen sind, desto besser ist es aus Sicht der Hamas. Anders als die jüdischen Israelis und ihre Verbündeten haben sie keine Skrupel, ihre Leichen vorzuzeigen. Die Hamas verfolgt vermutlich folgende Ziele: Erstens, sie will als alleinige Vertreterin Palästinas anerkannt werden. Sie will die lasche, korrupte PLO beerben, die Israel offiziell anerkannt hat. Sie will Sitz und Stimme in der UNO. Zweitens, sie will die Abrahams-Abkommen kippen, die Israel mit verschiedenen arabischen Staaten geschlossen hat. Drittens, sie will verhindern, dass auch Saudi-Arabien Israel anerkennt. Ein solches Bündnis wäre aus der Sicht des Iran (und Chinas, das hinter dem Iran steht) ein Super-GAU: Es würde bedeuten, dass das Altmänner-Regime in Teheran sich einer vereinten prowestlichen Phalanx gegenüber sieht. Viertens will die Hamas, dass sich auf der ganzen Welt, nicht nur in islamischen Ländern, die Stimmung gegen Israel dreht. Fünftens, sie will mit Hilfe des Iran das Werk zu Ende bringen, das sie im Süden Israels begonnen hat: Es ging der Hamas nie um etwas Anderes als eine “Endlösung der Judenfrage” im Nahen Osten.

Das erklärte Kriegsziel Israels ist die Auslöschung der Hamas im Gazastreifen. Was, wenn dieses Kriegsziel utopisch ist? Wenn sich der Krieg immer mehr in die Länge zieht und die Hamas sich als ebenso unbesiegbar erweist wie die Taliban? Wenn die israelische Armee sich am Ende demoralisiert aus dem Gazastreifen zurückziehen muss? Wenn es den Mächten, die hinter der Hamas stehen, gelingt, einen größeren Konflikt vom Zaun zu brechen? Wenn die Unterstützung für Israel ins Wackeln kommt? Israel hat keine andere Wahl, als in den Krieg zu ziehen. Wer garantiert, dass Israel diesen Krieg gewinnt?

Was, wenn es eine Falle ist?