Die Terrororganisation Hamas hat ein Massaker an Israelis verübt. Dafür findet sie Verständnis auch bei Menschen in Deutschland. Man muss sich fragen: Woran liegt das?

„Der Antisemitismus ist genau das, was er zu sein vorgibt: eine tödliche Gefahr für Juden und nichts sonst.“ Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft

Worte sollte man ernst nehmen. Besonders dann, wenn mit wohl gewählten, aber abgefeimten Worten ganzen Menschengruppen der Tod angedroht wird – und zwar als Vorbedingung für das ersehnte Jüngste Gericht. Spätestens dann, wenn dieses angekündigte Morden in die Tat umgesetzt wird, sollte man sich an die entsprechenden Worte erinnern. Und Konsequenzen daraus ziehen. Oder sich verkriechen und schweigen.

Die Hamas, als Zweig der islamistischen Muslimbrüderschaft gegründet, hat sich in den 1980er-Jahren eine Charta gegeben. Darin erklärt sie in Artikel 7 das Töten von Juden – und nicht nur von Bürgern Israels, sondern eines jeden Juden – zur Pflicht aller Muslime. In Artikel 11 heißt es weiter, das Gebiet des Staates Israel sei allein den Muslimen anvertraut worden, und daher sei es religiöse Pflicht eines jeden Muslims, für die Eroberung Israels zu kämpfen. Sehr aufschlussreich ist auch der Artikel 13, denn darin lehnt die Hamas  „sogenannte Friedenslösungen und internationale Konferenzen“ als Zeitverschwendung ab; sie stünden im Widerspruch zu den „Prinzipien der islamischen Widerstandsbewegung“.

SCHEIN SCHLÄGT SEIN

All dies ist kein Geheimnis. Aus allen diesen Handlungsmotiven hat die Hamas (und auch der Iran oder die Hisbollah) nie einen Hehl gemacht. Jetzt aber hat sie begonnen, ihre Absichten mit aller Brutalität und diabolischen Konsequenz in die Tat umzusetzen. Trotzdem hat sie auch im Westen und also auch in Deutschland sehr viele Sympathisanten und Bewunderer. Wie kann das sein? Es gibt etliche Gründe. Es mag zum Beispiel bei manchen, die nicht genau hinschauen, daran liegen, dass die Netanjahu-Regierung seit Jahren eine völlig inakzeptable Siedlungspolitik im Westjordanland betreibt – und niemand weiß das besser als die israelische Zivilbevölkerung, die auch regelmäßig ihre Stimme dagegen erhebt. Aber in den meisten Fällen liegt es vor allem an zwei Dingen:

Erstens, es ist der Hamas über all die Jahre gelungen, sich als Anwalt der Palästinenser zu inszenieren. Dabei ist sie das gar nicht. Sie ist ein Gegner der PLO, der Palästinensischen Befreiungsorganisation. Nach blutigen Auseinandersetzungen mit der Fatah der PLO gebietet die Hamas seit 2007 allein über den Gazastreifen; die letzten Wahlen fanden 2006 statt. Seitdem hat die Hamas trotz Milliarden-Zahlungen von der EU, von arabischen Staaten wie Katar und von Tarnorganisationen im Westen den Gazastreifen in erster Linie zu einem Terrorcamp und einer Raketenabschussbasis ausgebaut. Der Gazastreifen könnte, wenn Wohlstand und Frieden das Ziel wären, wegen seiner günstigen Lage zu einem Leuchtturmprojekt für die arabische Welt werden. Aber die Hamas hat daran kein Interesse. Wie alle Fanatiker ist ihr das Volk, für das sie vorgeben, sich einzusetzen, völlig wurscht. Es geht ihr nur um eine totalitäre und totale Idee sowie einen teuflischen Vernichtungswillen. Sie handeln ohne Verantwortungsgefühle gegenüber den eigenen Leuten.

Dass sie trotzdem als Sachwalter palästinensischer Interessen gesehen wird, liegt auch daran, dass sie in Medien rund um den Globus lange als legitime Gruppe militanter Kämpfer und als eine Befreiungsbewegung gesehen wurde. Damit lag die Verantwortung für ihre Taten oder ihr Versagen in erster Linie bei Israel. Ein perfekter Deal für die Terrororganisation: Sie hat sich nicht allzu sehr anstrengen müssen, als etwas zu erscheinen, was sie gar nicht ist, weil alle, die meinen, mit den Juden oder mit Israel ein Hühnchen rupfen zu müssen, die Hamas zu edlen Kämpfern für die Freiheit des palästinensischen Volkes stilisiert oder – wie man heute im postmodernen Jargon sagt – „konstruiert“ haben. Das entbehrt natürlich nicht einer gewissen Komik, und man könnte auch darüber lachen, wenn es nicht so bitter und dämlich und gefährlich wäre, dass man die Despoten des Gazastreifens für Befreier von was auch immer hält. So haben wir auch hier wieder einen Fall, bei dem mit kräftigem Zutun bestimmter Akteure und Propagandisten im Ausland der Schein über das Sein siegt. Oder wie es Hannah Arendt so passend formulierte: „Den modernen Ideologien geht es immer darum, einen permanenten Sieg auf Kosten der Wirklichkeit zu erringen.“

Womit wir beim zweiten Grund für den ideologischen Erfolg der Hamas wären: Den größten Gefallen hat ihr nämlich eine an Universitäten und Medienanstalten grassierende Denkweise getan – die Rede ist vom sogenannten „Postkolonialismus“. Dieser will die Geschichte aus der Perspektive der „Unterdrückten und Marginalisierten“ neu schreiben, und das gehe am besten, wenn man die Welt antagonistisch einfach in Unterdrückte und Unterdrücker teilt.

Für bestimmte Verfechter dieser Lehre ist Israel, das ein Schutzraum für alle Juden sein soll, schon länger eine fixe Idee, wo die tektonischen Platten „globaler Süden“ und „globaler Norden“, „weiß“ und „schwarz“, „arm“ und „reich“, „Paria“ und „Privilegierter“ aneinander reiben und der Konflikt mit allen Mitteln ausgetragen werden darf, ja, muss. Natürlich ist solch ein Denken in bloßen Gegensätzen anfällig für totalitäre Bewegungen. Aber es gibt keine Entschuldigung für die Verblendung, die darin liegt, Hamas und Hisbollah als linke, progressive, soziale Bewegungen zu bezeichnen – so geschehen vor einigen Jahren durch Judith Butler, die Heilige der Gender-Studien und des Queer-Feminismus.

An dieser Stelle darf auch als weiteres Beispiel der kamerunische Politikwissenschaftler Achille Mbembe, ein Vordenker des Postkolonialismus, nicht fehlen, der zuletzt einige Popularität in Deutschland erfuhr. Mbembe hält die „Besetzung Palästinas durch Israel“ für den größten moralischen Skandal unserer Zeit, deren Ziel wahrscheinlich die allmähliche Vernichtung (sic) der Palästinenser sei. Wenn er das glaubt, dann wundert es auch nicht, wenn er Sympathien für die BDS hegt, jener Kampagne, die Israel wirtschaftlich, politisch und kulturell isolieren und somit schwächen will. Deren Aktivisten giert es bei jeder Gelegenheit danach, Israel das Wort „Apartheid“ entgegenzuschleudern. Denn es vereint so praktisch die Theorien von Rassismus, Postkolonialismus und White Supremacy.

Achille Mbembe hatte übrigens auch dafür gesorgt, dass die israelische Friedensforscherin Shifra Sagy von einer Konferenz in Südafrika ausgeladen wurde. Sie wollte dort ihr palästinensisch-israelisches Friedensprojekt „Empathie gegenüber dem Anderen“ vorstellen. Aber nichts verabscheuen und fürchten Extremisten des Wortes und der Tat mehr als die Friedfertigen. Damit erweist sich Mbembe als guter Adept von Edward Said, einen weiteren Vordenker des Postkolonialismus, der schon das Osloer Friedensabkommen zwischen Israel und Palästinensern von 1993 ablehnte.

Ein anderes Beispiel: Als mutige iranische Frauen letztes Jahr gegen den Kopftuchzwang aufbegehrten und eine Revolution gegen die Mullahs anzetteln wollten – also eine wirkliche Befreiung! –, da bekamen sie von postkolonialistischen Autorinnen die bevormundende Warnung, sich nicht mit dem westlichen Feminismus einzulassen. Das war im Großen und Ganzen deren einzige Unterstützung für den iranischen Widerstand.

Man könnte solche Beispiele noch lange fortsetzen, aber es würde vermutlich nichts daran ändern, dass sich der Postkolonialismus im Westen weiterhin solcher Beliebtheit erfreut und eine mehr als heikle Wirkung erzielt: nämlich Verständnis für den islamistischen Totalitarismus und Antisemitismus. Als Mbembe für seine Thesen letztlich doch einmal Kritik erfuhr, stellten sich hunderte Verantwortung tragende Personen aus Wissenschaft und Kultur hinter ihn. Mbembe inszenierte sich in der taz als „ausländischer Sündenbock“ einer befremdlichen deutschen Diskussion. Und so kennen wir es auch von den indonesischen Documenta-Kuratoren, denen angeblich nicht auffiel, dass eine Figur mit Schweinskopf und Davidstern eventuell doch irgendwie antisemitisch sein könnte. Wie in diesem Milieu üblich, konterte man Kritik mit dem Vorwurf des Rassismus.

ES KÖNNTE NOCH SCHLIMMER KOMMEN

Ist der Boden so erst einmal bereitet, muss man sich nicht wundern, dass sich der Islamismus auch in Deutschland stark fühlt und frohlockend Süßigkeiten verteilt angesichts realer Massaker an Juden. Schließlich ist es das, was jedes Jahr am Al-Quds-Tag in Berlin und anderswo in der Öffentlichkeit gefordert wird: Tod Israels, Tod den Juden.

Da fällt es dem Beobachter schon schwer zu begreifen, dass die Bundesinnenministerin den Expertenkreis Islamismus und Antisemitismus mir nicht dir nichts vor einem Jahr auflöste. Dafür hat sie dann eine Studie in Auftrag gegeben: „Muslimfeindlichkeit – Eine deutsche Bilanz“. Schade nur, dass islamistische Verbände daran beteiligt waren. Und keiner will es gemerkt haben.

Aber es könnte noch schlimmer, noch grotesker kommen und Folgendes passieren: Die Vertreter des Postkolonialismus weigern sich, den Juden zu verzeihen, dass die Hamas an ihnen ein pogromartiges Massaker verübt hat. Denn deshalb mussten die Aktivisten für einen Moment im Kampf gegen Israel innehalten und schweigen und sich moralische Vorhaltungen anhören, was ihnen wie das Gefühl einer Schändung des eigenen Safe Spaces vorkommt, in den man doch so gerne flüchtet, wenn die falschen Begriffe den eigenen reinen Diskurs stören. Aber das geht vorbei. Und dann werden sie einfach weiter machen wie bisher. Als wäre nichts gewesen.