Direkte Demokratie ist ein Störfall. Sie ist in unserer repräsentativen, parlamentarischen Demokratie systematisch falsch, ein Delfin unter den Fischen. Und doch kann sie konstruktiv an der res publica mitwirken – wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind

Der Berliner Volksentscheid zur Klimaneutralität der Stadt bis 2030 ist zuletzt auf besondere Art und Weise gescheitert – es sind einfach zu wenige hin. Ist das nur Demokratieübersättigung, dass die Berliner*innen ihr fundamentalstes Bürgerrecht nicht wahrgenommen haben? Wahrscheinlich nicht. Vielmehr stand die mangelnde Anschlussfähigkeit der Initiative dem Begehren selbst im Weg.

Der Normalweg der Demokratie in Deutschland ist das Parlament. Ihm überträgt das Volk (read: Staatsvolk) den Großteil seiner Macht, sorgsam eingehegt durch das Verfassungsrecht. Das politische System holt sich dann alle vier oder fünf (oder teilweise sechs oder acht) Jahre seine Legitimation, wurschtelt aber ansonsten vor sich hin. Das ist nicht despektierlich zu verstehen, die innere Funktionsweise von Politik hält unseren Staat am Laufen und über das Mittel der Wahlen stehen Abgeordnete unter Druck, die öffentliche Meinung mittelfristig zu berücksichtigen, ohne aber jeder Stimmung nachzugeben. Dabei entsteht politische Programmatik, die bestenfalls eine gewisse Kohärenz hat.

Aber natürlich sind wir nicht bei einem Politik-Planspiel für Schüler*innen oder Studierende. Was eine Regierung oder ein Parlament beschließen, hat ganz reale Auswirkungen auf die Welt da draußen, außerhalb der politisch-journalistischen Blase. Niklas Luhmann, Zettelkasten-Ikone und Bielefelder Säulenheiliger der systemtheoretischen Soziologie, hätte es Resonanz genannt: In einem System, dem politischen, passiert etwas, das außerhalb eine Wirkung entfaltet. Diese Wirkung kann, obwohl politisch innerhalb der Spielregeln, katastrophale Auswirkungen auf Wirtschaft, Gesellschaft oder natürliche Umwelt haben. Oder es passiert – nichts. Oft genug geht nämlich die Planung der Politik nicht auf, die Resonanz: bleibt aus.

Und so politisiert Politik in sich geschlossen, aber bestenfalls mit einem Blick für die Auswirkungen ihres Handelns. Und ihre Umwelt, also alles außerhalb der Blase, reagiert darauf mehr oder weniger intensiv.

Und dann kommt da so ein Volksentscheid. Der ist nicht innerhalb der Politik, der kommt von draußen. Der liegt quer zu allen Regeln. Er dreht den Spieß um: Er will die Politik verändern.

Und dabei kann er zerstörerische Kraft entwickeln, wie das Brexit-Referendum gezeigt hat. Aber warum sind diese Fälle so problematisch? Weil man mit ihnen nicht umgehen kann.

Der politische Betrieb arbeitet nach Regeln. Die offensichtlichste ist das Recht: Politik muss legal handeln. Auch kann sie nicht unendlich Geld ausgeben. Und sie kann nicht langfristig kontrafaktisch arbeiten, sonst kommt die Peitsche der Resonanz aus ihrer Umwelt zu tragen. Eine Politik, die in sich zwar operativ, aber in ihrer Wirkung zerstörerisch ist, kriegt irgendwann die Quittung.

Aber diese Verantwortlichkeit hat der Volksentscheid nicht. Oder anders ausgedrückt: Er kann enthemmt fordern und beschließen, was er will.

Enthemmt von den Regeln der Ministerialbürokratie und der Rechnungshöfe kommen Fragestellungen und Beschlüsse zustande, mit denen keiner etwas anfangen kann. Entweder sprengt es dann den Laden – siehe David Camerons fatale Idee des Brexit-Referendums – oder es passiert gar nichts: Der Berliner Volksentscheid zur Enteignung großer Wohnungskonzerne vom Herbst 2021 wabert in Arbeitsgruppen vor sich hin und überschattet trotzdem alle anderen notwendigen wohnungspolitischen Maßnahmen.

Der Klimaentscheid war da sehr klar: „Der Politik Ziele setzen“ war einer ihrer zentralen Kampagnen-Slogans. Aber für viele Berliner*innen schien unklar, was das in der Praxis bedeuten sollte, genauso wie für die Politik. Und so hielten sich die Parteien raus, nur die Jusos und die Grüne Jugend riefen zur Unterstützung auf. Und die Berliner*innen blieben auf Distanz. Man kann diese Strategie wohl „Versandung“ nennen – und sie ging auf.

Dabei kann ein Volksentscheid ein wichtiges Korrektiv darstellen. Er kann strittige Fragen befrieden und politische Blockaden auflösen – wenn er denn richtig gemacht wird.

Entscheidend dafür ist, die Anschlussfähigkeit an den Beschluss aufrecht zu erhalten. Der Volksentscheid ist nur ein momentaner Eingriff in den Betrieb. Am Ende soll die Politik ja wieder übernehmen. Also muss ihr das auch ermöglicht werden. 

Es bietet sich dafür an, auf Bündnisse zu setzen. Wenn der Volksgesetzgebungsprozess nämlich frühzeitig nicht nur ein Bündnis der Überzeugten, sondern bis weit über seine Initiator*innen hinaus um die Formulierung ringt, entsteht eine gute Vorlage. Das bietet sich vor allem dann an, wenn die Politik blockiert ist, dann greift die Volksgesetzgebung.

Die Frage, wann Klimaneutralität für eine Metropole angestrebt werden soll, ist zu wichtig, um sie mal eben en passant zu beschließen. Man stelle sich vor, die knappe Mehrheit hätte knapp das Quorum überschritten: Der wahrscheinliche schwarz-rote Senat hätte genug Argumente gehabt, um das Anliegen zu verschleppen. Wenn eine Regierung eine Volksinitative tatsächlich umsetzen soll, braucht sie gerade bei weitreichenden Fragen eine breite Unterstützung in der Gesellschaft und konkrete Handlungsoptionen. Und mit einer breiteren Unterstützungsbasis von Anfang an hätte die Initiative auch außerhalb der Innenstadt und der schon Überzeugten Rückhalt gewinnen und insgesamt genug Menschen zur Urne bewegen können.

Diese Chance hat der Volksentscheid zur Klimaneutralität verpasst. Und die Berliner*innen haben zu Recht gesagt: Gebt euch mehr Mühe.

Marcel Rohrlack ist Kommunikationsberater, Grüner und lebt in Berlin. Ist zu jung zu politisch geworden und dann einfach geblieben.
(Foto: Andreas Gregor)