Der deutsche Atomausstieg ist eine Entscheidung wider besseres Wissen – und ein Triumph der Gegenaufklärung. Die Folgen dieses Pyrrhussieges der Grünen sind schwerwiegender, als die meisten wahrhaben wollen.

„Zu diesem Thema ist alles gesagt“ pampte Wirtschaftsminister Habeck vor kurzem einen Journalisten an, der nochmal nachfragte, ob es eine so gute Idee sei, wenn eine „Klimaregierung“ Kernkraftwerke statt Kohlekraftwerken abschaffe. Ja, eigentlich ist alles gesagt, auch von mir: Warum wir sie nicht retten konnten, die AKW, das habe ich an dieser Stelle bereits anlässlich der Abschaltung von Grohnde, Brokdorf und Gundremmingen am Silvestertag 2021 analysiert. Meine Prognosen von der immer dreckiger werdenden deutschen Stromwirtschaft und der mangelnden Krisenfestigkeit der Energiewende haben sich seitdem getreulich bewahrheitet. 

Inzwischen hatten wir ein disruptives Ereignis, den großen Krieg in Osteuropa, der die Deutschen sogleich zur n-ten Auflage ihrer unnachahmlichen Wende-Rhetorik getriggert hat: Nach der geistig-moralischen und der DDR-Anschluss-Wende die Energie-, Verkehrs-, Wärme-, Zeitenwende. Sagen Deutsche „Wende“, sollten alle anderen zügig in Deckung gehen, denn meistens kommt etwas ungeheuer Zynisches dabei heraus. 

Schlag ins Gesicht

Den letzten Klopper landete wieder Habeck, der das staunende deutsche Publikum aus Kiew wissen ließ, die Ukrainer würden selbstverständlich Kernenergie nutzen, denn dagegen sei nichts einzuwenden, solange die Anlagen sicher betrieben würden, „und die Dinger sind ja gebaut“. Das sagt der Mann im Angesicht der Verschrottung von aktuell drei, insgesamt zweier Dutzend deutscher Anlagen, die ja auch „gebaut“ waren bzw. sind und immer sicher betrieben wurden; andernfalls hätten sie von der Atomaufsicht nicht nach jeder Jahresrevision ihre Anfahrgenehmigungen bekommen. Anders als die Ukraine haben wir auch nie einen Reaktorunfall im eigenen Land erlebt, und auch durch den Atommüll, der friedlich in blauen Castor-Behältern in verbunkerten Hallen neben unseren Atomkraftwerken lagert, ist noch nie jemand zu Schaden gekommen. 

Habeck spuckte mit dieser Aussage nebenbei auch noch ein letztes Mal ins Gesicht der deutschen Atomtechniker, die auf eine international betrachtet exzellente Bilanz zurückblicken, und die samt ihren Stromerzeugungs-Weltmeister-Anlagen wie die Hunde vom Hof gejagt werden. Überflüssig zu sagen, dass sich keiner der am 15. April auf den sogenannten „Abschaltfesten“ jubelnden Sekttrinker dazu bequemen wird, die Bilanz dieser Anlagen zu erwähnen, die eben nicht einzig und allein aus Atommüll, sondern aus Hunderten Milliarden Kilowattstunden sauberem und billigem Strom, Zehntausenden vor dem Luftverschmutzungs-Tod geretteter Menschen, Dutzenden Milliarden Tonnen vermiedenem CO2 besteht.

Das ist umso bemerkenswerter, als das Tote- und Tonnenzählen doch sonst die Spezialität dieser Leute ist. Nichts haben sie gegen die um Größenordnungen schädlichere Kohlekraft als Backup ihrer flatterhaften Erneuerbaren, nichts hatten und haben sie gegen das Despotengas in derselben Funktion. Der Atomausstieg ist ein Fest der Heuchler. 

Antimoderne und Atomkritik

Und er ist ein Triumph der Gegenaufklärung. Mich fragte neulich ein Schweizer Journalist fast ungläubig, wie es habe passieren können, dass einer High-Tech-Industrie ausgerechnet in der viertgrößten Volkswirtschaft der Welt der Stecker gezogen würde? Der Grund ist eine Trias deutscher Sonderwege im politischen, kulturellen und industriestrukturellen Bereich. 

Erstens haben wir einen gewichtigen Block von Anti-Atom-Parteien der linken Mitte, weil die deutsche Linke im Zuge ihrer Verbürgerlichung die Kernenergie, marxistisch gesprochen die fortschrittlichste Produktivkraft, den Rechten vor die Füße geschmissen hat. 

Das wiederum war nur möglich, weil sich, zweitens, ein ökologistischer Denkstil etablieren konnte, den es im deutschen Bürgertum immer gab und den die Bürgerkinder-Revolte von 1968 nicht zerschmettert, sondern verstärkt hat. Die anti-modernen, technik- und industriekritischen, öko-romantischen Denktraditionen des deutschen Bürgertums reichen bis ins gegenrevolutionäre 19. Jahrhundert zurück. Die Grünen als Partei des Bildungs- und Beamtenbürgertums haben dieser Strömung ihre politische Form gegeben. Es führt ein gerader Weg von der Heideggerschen Kehre zur Energiewende. Die Grünen sind, anders als es ihre Gegner behaupten, in diesem Sinne keine sozialistische, sondern eine konservative Partei, und das konnte jeder bemerken, der sich Persönlichkeiten wie Herbert Gruhl und Baldur Springmann genauer ansah, die nicht nur die Grünen mitgründeten, sondern auch in den feuchten grünbraunen Übergangszonen zur Heimatschutzbewegung gründelten.

Die linken grünen K-Gruppler vom Schlage Trittins, die das Kernkraftwerk als Inkarnation des rheinischen Kapitalismus angriffen, interessierten sich für die Antiatom-Thematik nur insofern, als ihnen das zwar nicht die Arbeiterschaft einbrachte, aber wenigstens die Imitation der Teilhabe an einer Massenbewegung. 

Doch egal, wo sie herkamen, die Grünen teilten einen Satz von nicht hinterfragten Aussagen, die – im Zuge des erfolgreichen Marsches in die diskursbestimmenden Positionen in Schule, Kirche, Medien, Wissenschaft – zunehmend den Diskurs über die Kernenergie beherrschten. Im Zentrum stand die Angstbotschaft: Angst vor der Bedrohung „ganzheitlicher“ Materie-, Lebens- und Sinnzusammenhänge durch die Kernspaltung, Angst vor der zersetzenden, allgegenwärtigen Strahlung; Angst vor dem Krebs; Angst vor der Komplexität der Atomanlagen, deren Verfahren bei dem in den Aktivistenkreisen üblichen Hang zum magischen Denken nur als alchemistisches Zauberlehrlingstum verstanden werden konnten; Angst vor der Ingenieurs-Hybris als eines Vergehens gegen höhere, natürliche Ordnungen. Zur Angst gehörte wie eine Zwillingsschwester die Vergottung des Kleinen, Dezentralen und daher angeblich Demokratischen als Selbstzweck, von Demeter-Hof bis Windkraftanlage. Und dazu gehörte auch die Verteufelung des Kernkraftwerks als autopoietisch autoritär bei gleichzeitiger Umgehung der Kritik am Kapitalverhältnis, welches der wahre Grund zum Fürchten wäre. 

All das war von A bis Z reaktionär. Die einst kernkraft-affine SPD ist im Zuge ihrer Entproletarisierung und Verstudienratisierung auf den Grünzug aufgesprungen, und abgesehen von der filzig-mackerhaften Fraktion ihrer Gazprom-Connection hat die SPD nach ihrem Atomausstiegsbeschluss nie wieder einen eigenständigen energiestrategischen Gedanken gedacht.

Doch die reaktionäre Wurzel der Atomkritik ist letztlich auch das kulturelle Geheimnis des deutschen Atomausstiegs: Die von den Grünen zum Parteikern erhobene Antimoderne, die von ihrem progressiven bürger- und gender-rechtlichen Trendsetting nicht kompensiert wurde, die war eben anschlussfähig bis tief ins bürgerliche politische Lager, insbesondere dessen christlich geprägten Teil. Das ermöglichte es Angela Merkel 2011, ohne Parteirevolte den technokratisch-unternehmerischen Flügel der Union zu düpieren und den Atomausstieg durchzuziehen. 

Kurz, die Atomkraft musste nicht gehen, weil sie technisch gescheitert ist, sondern weil sie diskursiv gescheitert ist: Weil das Sprechen über sie irgendwann nur noch von Leuten erledigt wurde, die solche oben beschriebenen Gedanken über sie dachten, während unsere Ingenieursklasse dieser Erzählung nichts entgegenzusetzen wusste außer der Botschaft der technischen Perfektion – und der falschen Hoffnung, eine auf Ewigkeit als Kanzlerpartei gebuchte CDU würde schon die schützende Hand über die deutsche Atomwirtschaft halten. Die verständliche, gewinnende, menschennahe Kommunikation einer progressiven Gegenerzählung, Offenheit und Neugierde gegenüber begründeter Kritik, das hat man leider beim Studium der Kernverfahrenstechnik nicht gelernt.

Die erneuerbar-fossile Energiewende

Aber auch die antinuklearen Diskurshegemonen konnten ihre Botschaft nur deshalb in ein Ausstiegsprogramm umsetzen, weil es ihnen gelang, die Kernenergie als überflüssig und ersetzbar darzustellen. Und damit sind wir beim dritten Teil unserer Trias. Angst alleine reicht nicht, um eine Technologie nicht nutzen zu wollen – sonst würden sich sehr viele Leute, die fliegen, nicht in ein Flugzeug setzen: Sie haben zwar Flugangst, wollen aber auch nicht zu Schiff den Atlantik queren. Was eine Technologie kaputtkriegt, ist die Kombination aus einer Angstbotschaft und einer Freudenbotschaft, man hätte eine Alternative, einen viel besseren, sichereren, preiswerteren Ersatz. 

Und exakt das konnten Grüne und SPD tun, weil sie tatsächlich einen Ersatz hatten: nämlich neben den euphorisch begrüßten und als gänzlich unproblematisch wahrgenommenen Erneuerbaren vor allem Kohlekraft und Gas, die ihnen jene Sicherheit verschafften, welche die volatilen Erneuerbaren allein nie hätten garantieren können. Es war die Sicherheit der Aussage, dass die Lichter eben nicht ausgingen, wenn das AKW Wyhl nicht gebaut würde. Zugute kam ihnen hier die Doppelstruktur der deutschen Elektrizitätswirtschaft, in der neben den nuklearen eben auch die Kohle-Interessen so stark waren, dass Konzerne wie RWE noch in den 1960ern vom Staat zum Atom-Jagen getragen werden mussten. Es gab so gesehen also nie eine deutsche Nucléocratie oder eine systemische Abhängigkeit von der Kernenergie wie etwa in Frankreich, ganz abgesehen vom Fehlen eines militärischen Atomprogramms als Motivator. 

Die Idee, man hätte mit guter deutscher Kohle und „sauberer“ deutscher Kohlekraftwerkstechnik als Brückentechnologie der Energiewende eine ungefährliche Alternative zur Kernenergie, war die Lebenslüge der Energiewende, betrachtet man Umwelt- und Opferbilanz der Stromerzeuger im Vergleich.

Doch war diese Idee anschlussfähig an alle Milieus und Akteure, von den Grünen über die Gewerkschaften bis hin zur Union und zur „Ethikkommission“, die nach Fukushima 2011 Merkels schon beschlossenen Ausstieg zu legitimieren hatte. Diese Anschlussfähigkeit reicht auch ins Hier und Jetzt bis zu Robert Habeck, der RWE lieber die Erlaubnis gibt, die Kohle unter Lützerath abzubaggern, als das RWE-AKW Emsland laufzeitzuverlängern, das den Strom-Gegenwert dieser Kohle binnen 16 Monaten produzieren könnte – zur Klimabilanz der Windkraft, versteht sich.

Das Ende der Freuden

Inzwischen ist die Freudenbotschaft von der leichten Ersetzbarkeit der Atomkraft wie ein Soufflé in sich zusammengefallen. Auch dem Letzten ist klargeworden, dass die Etablierung der Erneuerbaren als Selbstzweck beileibe nicht sanft und grün ist, sondern eine Materialschlacht nicht gekannten Ausmaßes. Ein paar hundert Milliarden Euro Energiewende-Fördergelder und ein Dutzend aus der Reserve geholte alte Kohlekraftwerke später spricht sich auch die Klimabilanz unserer Elektrizitätswirtschaft herum, die trotz 22 Jahren Energiewende zu den schlechtesten in der EU gehört.

Der Atomausstieg ist so gesehen das einzige Projekt der deutschen Energiewende, das erfolgreich war, weil es brachial und ohne Rücksicht auf geänderte Randbedingungen durchgesetzt wurde. Weg ist der deutsche kerntechnische Maschinenbau, weg sind die dazugehörigen Lehrstühle an unseren Hochschulen, weg sind nun bald auch die Anlagen, die Fachleute und das Know-how. Je mehr kaputtgeht, desto unwahrscheinlicher wird ein Neubeginn – und das ist gewollt. 

Auch die krass geänderten Randbedingungen haben nichts an diesem kategorischen Zerstörungswillen geändert: nicht die Unterzeichnung des Pariser Klimaschutzabkommens 2015 (damals wären noch neun Top-Anlagen mit über 12.000 Megawatt installierter Leistung rettbar gewesen), nicht der exorbitant steigende Strombedarf für die Dekarbonisierung unserer Industriegesellschaft, nicht die jüngste Energiekrise.

Der Energiewendestaat und seine Konventionen

Dass es so gekommen ist, ist auch Resultat einer einzigartigen Verfilzung von Staat, Medien und Wissenschaft zu einer Unisono-Kommunikations- und Affirmationsmaschine für die Interessen des Energiewende-Kapitals. Was der Atomstaat, den die Atomgegner immer an die Wand malten, nie geschafft hat, das schafft nun der Energiewendestaat: die Domestizierung der Kritik in Gestalt der Medien und der Umweltbewegung. Letztere ist zur Legitimationsinstanz der Erneuerbare-Energien-Industrie verkommen, die auch die dreistesten Aushöhlungen von Planungsrecht, Naturschutz und Artenschutz durchwinkt. 

Die deutschen Journalisten ergrünten in den 1980er Jahren so rapide, dass sie seitdem über Energie nicht mehr schrieben und sendeten, was ist, sondern was ihrer Meinung nach sein sollte. Keine Aussage über Kernenergie mehr ohne vorgeschaltete Verwerflichkeits-Präambel, keine Visualisierung des Kernkraftwerks ohne daruntergelegte Dräu-Musik. Ich habe einer Gruppe von Filmstudenten, die einen Film über den Atomausstieg planten, daher vorgeschlagen, doch mal eine Kamerafahrt auf das Kernkraftwerk mit einem Bach-Choral zu unterlegen. Man stelle sich vor, was da los wäre.

Kaum ein Artikel über Atomabfälle kommt ohne ein Bild von rostigen, gelben, aber falschen Fässern aus, und keine Woche vergeht ohne einen ÖRR-Blog oder Talk-Auftritt der Ökonomin Claudia Kemfert, die uns predigt, die Atomkraft sei teuer, gefährlich, unflexibel und allenfalls militärisch motiviert (alle vier Aussagen sind nachweislich falsch). Kritik diffamiert Kemfert als große Verschwörung einer übermächtigen Fossillobby, zu der sie die pro-nuklearen Stimmen einfach dazuzählt. Die Befürworter der Kernenergie werden als Klimaschädlinge dargestellt, nur weil sie nicht jeden Euro in die Erneuerbaren pumpen würden. Dieses manichäische Weltbild ist der Tod jeder differenzierten und fairen Debatte

Der Staat macht es genauso. Kaum eine behördliche Aussage über die Überflüssigkeit und Gefahren der Atomkraft ohne die immer gleichen und allesamt stramm antinuklearen Quellen oder Gutachter: Öko-Institut, Kemferts DIW oder Agora Energiewende. 

Wenn wir dann noch bedenken, dass in den Funktionsstellen der von Amts wegen mit unserer Kernenergie befassten Behörden – z.B. dem Umweltministerium, dem Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE), dem Umweltbundesamt – wiederum entweder grüne Parteisoldaten sitzen oder aber Amtsträger, deren Rhetorik sich nicht wesentlich von der der Parteisoldaten unterscheidet, dann erkennen wir, was eine Konvention ist: Eine solche liegt vor, wenn bestimmte Machtstrukturen, Verhaltensweisen und Sprachregelungen derart verinnerlicht werden, dass sie niemand mehr prüft und in Frage stellt. Unter anderem aus diesem Grunde hat man Habeck, Lemke und ihren nachgeordneten Behörden in der Laufzeitverlängerungsdebatte 2022/23 so viele Unwahrheiten durchgehen lassen: weil sich alle dran gewöhnt haben. Weil es niemand, selbst der Präsident des BASE, mehr besser weiß. Weil die, die es besser wissen, resigniert schweigen. Und weil die wenigen, die nicht schweigen, im Nullkommanix als Rechtsabweichler stigmatisiert werden. Ich habe in der letzten Zeit auf Twitter viele Aufklärungs-Threads über Kerntechnik geschrieben, von AKW-Kühlung über Streckbetrieb bis zum Prüfwesen, und kann ein Lied davon singen. Man erkennt Konventionen an den hohen Kosten, sie zu brechen. 

Aus diesem Grunde sind auch die neuerdings wieder vernehmbaren pro-nuklearen Stimmen in der FDP und CDU/CDU (vereinzelt soll es sie auch bei SPD und Grünen geben), so verdruckst und konzeptlos: weil sie sich gar nicht mehr trauen, mit vernehmlicher, selbstbewusster Stimme über dieses Thema zu sprechen und eine kühne, kraftvolle Klimastrategie für Atomkraft und Erneuerbare vorzulegen. Offensichtlich auch, weil das immer noch als Karriererisiko wahrgenommen wird. Einer der wenigen nuklearen Dissidenten bei den Grünen, der Ex-Fraktionsgeschäftsführer Hubert Kleinert, sagte mir kürzlich im Gespräch, das Problem sei die zunehmende Selbst-Abdichtung des Politikbetriebs gegen frische Ideen und konstruktive Neinsager. Das sei unter Kohl und Merkel mit zunehmenden Jahren an der Macht geschehen, und so geschehe es auch mit Habeck und Scholz.

Neckarwestheim für Tschernobyl

Wir sahen in der zurückliegenden Debatte, von der falsch dargestellten Sachlage um die Periodische Sicherheitsüberprüfung abgesehen, keine Argumente gegen deutsche Kernkraftwerke, die auf den konkreten technischen Gegebenheiten dieser Anlagen gefußt hätten. Die Regierung hatte schlicht keine. Es waren vielmehr Erfahrungen aus französischen, sowjetischen oder japanischen Atomanlagen, die unzulässigerweise auf unsere Anlagen projiziert wurden. 

Deutschlands Kernkraftwerke werden in einer Art Sühne-Ritual stellvertretend geopfert: Wir geben Brokdorf für Three Mile Island, Neckarwestheim für Tschernobyl und Isar-2 für Fukushima, Emsland für zu warmes Kühlwasser in Frankreich, Grohnde für die russischen Panzer vorm AKW Saporischschja. Dann wird die Angst gebannt sein, meinen die Urheber des Autodafé.

Wehe den Siegern

Doch genau das wird ihnen am Ende auf die Füße fallen: die folgenreiche Symbolpolitik, das Festhalten an einer überlebten antinuklearen Parteiidentität, die geistige Trägheit, die Abwesenheit eines Korrektivs, die Selbst-Abdichtung gegen Kritik, der Kult der Angst, die Unkultur der Unwahrheit, die aggressive Abweisung der Evidenz, die Demütigung der aus dem Prozess Ausgestoßenen. All das wird sich am Ende rächen. Günstigenfalls in einer Abwahl der Ausstiegskoalition; schlimmstenfalls in einer viel tieferen Spaltung unserer Gesellschaft, als die Atomkontroverse sie je hätte bewirken können. Denn der Stil der Atomdebatte, die Austragung von gesellschaftlichen Konflikten mit Technik-Symbolen, vergiftet längst auch andere Kontroversen. 

Es ist die soziale Spaltung zwischen einer Energiewende-Bourgeoisie, die sich ihre PV-Dächer, E-Vehikel und Wärmepumpen längst hat vom Staat mitbezahlen lassen, und der großen Mehrheit jener, die das bezahlen und die sich all die Transformations-Attribute nicht leisten können, bis sie dazu auf Kosten anderer Lebensbereiche gezwungen werden. Die Debatte um die Heizungs-Abschaffung und ihre Kollateralkosten ist nicht deswegen bedeutend, weil hier ein weiteres Mal unfachlich, unsachlich und polarisierend über evidente Dinge geredet wird, nämlich dass jede gute Klimastrategie auch eine Abkehr von Gewohnheiten und Besitzständen verlangt, und dass ein Volk von Ölheizungskeller-Monaden noch nie der Weisheit letzter Schluss war (dieser Seitenhieb sei mir als Ex-Nutzerin einer ukrainischen sozialistischen Fernheizung, powered by uranium, erlaubt).

Gefahr droht vielmehr, weil die Leute beginnen zu verstehen, dass die einen von ihren Besitzständen lassen sollen, aber die anderen bestimmen, was ein überflüssiger Besitzstand sei, ohne aber die eigenen Besitzstände anzuzweifeln. Der Besitzstand des grünen Bürgertums ist der Glaube an die Legitimität und Notwendigkeit des Atomausstiegs. 

Hätte man diesen Glauben aufgegeben, dann hätte man sich vielleicht vergegenwärtigt, dass alleine die Abschaffung der sechs letzten AKW klima- und strombilanziell dasselbe bedeutet wie das Sprengen von 15.000 Windrädern. Das erkennend, hätte man innehalten und umkehren können. Nur so hätte man sich auch Glaubwürdigkeit und Respekt bei denen zurückholen können, die dem Klimaschutz indifferent und abwartend gegenüberstehen, weil er in ihren Augen unbezahlbar ist. Es wäre ein Befreiungsschlag gewesen.
Man hat es nicht getan. Mit der FDP ein Tempolimit gegen eine AKW-Laufzeitverlängerung aushandeln? Nicht mit uns. Man hat den kairos mutwillig verstreichen lassen, im Gegenteil eine bräsige Machtdemonstration des Verhinderns und Verschleppens ausgelebt – und die Chance verspielt. Doch wenn die Reform nicht kommt, wird eine andere Antwort kommen. Es wäre schlimm, wenn zusammen mit dem System Energiewendestaat und seinen eng verflochtenen und lern-abstinenten Trägergruppen dann auch mit in den Abgrund gerissen würde, was gut ist an den Erneuerbaren Energien. Wehe den Siegern.