Mit Erika Steinbach gibt eine ehemalige Heimatvertriebene ihre politische Heimat auf. Endlich, muss man sagen – auch aus Sicht eines Heimatvertriebenen.

Eigentlich war sie auch meine Chefin: Erika Steinbach, bis 2014 Präsidentin des Bundes der Vertriebenen (BdV) und bis vor kurzem noch Mitglied der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag. Meine Großeltern väterlicherseits kamen aus Reichenberg/Sudetenland, heute Liberec, und hatten sich in der Textilmetropole einen bescheidenen Wohlstand erarbeitet. Kurz nach dem Krieg wurde mein Großvater nach den sogenannten BenešDekreten von den Tschechen vertrieben, seine beiden Söhne ebenfalls, was mich praktisch auch zu einem Vertriebenen machte, denn damals vererbte sich dieser Status noch dominant und fand sichtbaren Ausdruck in einem Flüchtlingsausweis, Güteklasse A. Ausgehändigt wurde mir der Ausweis unmittelbar nach dem Abitur 1976. Warum, weiß ich nicht mehr, denn unmittelbare Vorteile wie kostenloser Kinobesuch oder freier Eintritt im Schwimmbad waren damit nicht verbunden, während man selbst seinen Sitzplatz im Bus für einen Inhaber des Schwerbehindertenausweises räumen musste. „A“ galt für all jene, die schon vor 1938 in den deutschen Ostgebieten lebten. Ich tat das nicht! Aber das schien offensichtlich niemanden zu interessieren.

Jimi Hendrix statt Blasmusik

Mir waren diese Feinheiten auch herzlich egal. Die Heimat meines Vaters lag unerreichbar fern hinter vielen Rollen Stacheldraht und dieses Getue der Vertriebenen, die alljährlich mit großem Tamtam unter Blasmusik und im Trachtenfummel ihre Volksbräuche in gesichtslosen Mehrzweckhallen zelebrierten, tat ein übriges, um mich vom Daseinszweck der Vertriebenen zu entfremden. Trotzdem war ich praktisch von Vertriebenen umzingelt, denn mein Vater, den ein glücklicher Umstand mit der letzten Ostseewelle, dem Kessel am Kurischen Haff entkommend, an die Küste vor Lübeck spülte, war nicht alleine. Lübeck war voller Vertriebener: Böhmen, Balten, Pommern, Ostpreußen … Es gab ein Haus der Danziger, ein Pommernhaus, eine Ostseeakademie, in der das Ideengut weitergepflegt wurde, und jede Menge Trachtenvereine. Nur ich ließ mich da nie blicken ­– und meine Klassenkameraden, ebenfalls viele Vertriebene Status A, auch nicht. Wir gingen in den Kaisersaal, wo damals zeitgemäße Musik gespielt wurde: Jimi Hendrix, The Doors, Grand Funk Railroad …

Nicht, dass man mich falsch versteht. Ich hätte schon gerne die Villa aus Reichenberg wiedergehabt oder den kleinen Hof meiner Urgroßmutter, aber angesichts der politischen Realitäten erschien mir das ziemlich aussichtslos. Die Henlein-Bewegung, wie sich die semi-terroristische Nazigruppierung im Sudetenland nannte, hatte mit ihren „Heim ins Reich“-Parolen und diversen Gewaltakten gegen Tschechen schon vor der Besetzung ganze Arbeit geleistet – und den Rest besorgte bis zu seiner Ermordung Heydrich, danach kam Lidice. Da wächst nichts Deutsches mehr nach.

Meinem Vater war das ebenso bewusst. Er hatte mit diesem Kapitel abgeschlossen. Seine Heimat hat er nach dem Krieg nie mehr besucht. Aber wie sehr sie in seinem Kopf noch eine Rolle spielte, zeigte mir ein kleiner Umstand, als ich mit Freunden im Winterurlaub auch in Liberec vorbeikam und das Haus meines Großvaters suchte. Stadtpläne existieren natürlich nicht mehr – alles, was ich hatte, war ein vergilbtes Foto und eine Wegbeschreibung meines Vaters, die er aus dem Kopf hersagen konnte. Tatsächlich habe ich es so gefunden. Es steht noch – acht Parteien wohnen inzwischen darin, von denen einige mich misstrauisch beäugten. Ich habe mich nicht zu erkennen gegeben. Danach habe ich das Thema ad acta gelegt.

Zwei Jahre pommersche Heimat

Erika Steinbach ist offensichtlich anders sozialisiert. Sie war bei Kriegsende zwei Jahre alt. Ihr Geburtsort liegt im ehemaligen Pommern, heute Polen, in das ihr Vater 1941 als ein aus Hessen stammender Feldwebel der Luftwaffe abkommandiert wurde. Ob die paar Jahre ausreichen, um eine Pommersche Heimat zu begründen? Ich habe keine Ahnung.

Neben ihrem Vertriebenen-Job ist Erika Steinbach auch noch Sprecherin für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, was besonders irritierend ist, weil sie in den letzten Monaten keine Gelegenheit ausgelassen hat, gegen die Flüchtlingspolitik und die unkontrollierte Zuwanderung, die ja vor allem einem humanitären Impuls geschuldet war, fortwährend zu hetzen. Einen besonders bizarren Einblick in ihre tiefschwarze, verbitterte und vermutlich auch verwirrte Seele erhielt man vor einiger Zeit, als sie ein Bild auf Twitter postete: Darauf zu sehen war ein kleines blondes Mädchen in einer Gruppe von dunkelhäutigen Kindern, die lachend auf das erstaunte Kind zeigten. Auch, wenn nicht ganz geklärt ist, wie und wo dieses vielgeteilte fröhliche Bild zustande kam, hat es doch eine klare Botschaft: Fremd ist der Fremde nur in der Fremde (Karl Valentin). Aber was macht Steinbach daraus: „Deutschland 2030 – woher kommst Du denn?“.

Vertriebene aus dem völkischen Dunstkreis

Sie gehört zu jenen Politikern der Rechten, die jede Aussage in ihr Gegenteil verdrehen, denen der Anlass nur Mittel zum Zweck ist, die Humanität und Menschenrechte nur denen angedeihen lassen wollen, die zum eigenen völkischen Dunstkreis gehören, die Vertriebene nur dann achten, wenn sich daraus ein politischer Anspruch herleiten lässt. Dabei hat sie vergessen, dass nach dem Krieg die Vertriebenen aus den deutschen Ostgebieten ebenso wie heute die Syrer alles andere als willkommen waren. Denn auch in Lübeck waren wir Vertriebenenkinder in den Klassenzimmern oft unter uns ­– es gab die Lübecker Patrizier, die ihre generationsübergreifende Anwesenheit in der alten Hansestadt durch arrogante Bemerkungen und schnöselhaftes Gehabe demonstrierten und uns Neuankömmlinge nur selten in ihre Kreise ließen.

Und wenn jetzt jemand daherkommt und schlaumeierisch erklärt, unter den Vertriebenen wären auch keine Terroristen gewesen, dann irrt er sich. Der „Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten“ (BHE) war ebenso wie die bald verbotene ‚Sozialistische Reichspartei“ (SRP) ein Sammelbecken aus unbelehrbaren Altnazis, Front- und Waffen-SS-Kämpfern. In Lübeck hatte der BHE hohe zweistellige Ergebnisse nahe 30 %, ehe er irgendwann in der CDU aufging und dort den rechten Rand bildete. Dieses Thema wurde beim BdV nie angesprochen, geschweige denn aufgearbeitet.

Jetzt verlässt mit Steinbach eine prominente „Heimatvertriebene“ die CDU. Endlich, muss man sagen – auch aus Sicht eines Heimatvertriebenen.