Von Zeit zu Zeit hört man aus unberufenem Munde die Mär von Tausend Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte. Was ist da dran? Eine Bilanz

Deutschland hat Geschichte. Ohne Zweifel. Das zeigen beispielsweise die Venus vom Hohlefels, die erste figürliche Darstellung eines Menschen, hergestellt auf der Schwäbischen Alb vor ca. 40.000 Jahren, oder die Himmelsscheibe von Nebra aus der Bronzezeit, die zweitälteste Himmelsdarstellung der Menschheit. Natürlich haben sich die Künstler, die diese Artefakte schufen, noch nicht als Deutsche gefühlt. Wir wissen nicht, wer sie waren. Aber es war noch etwas hin, bis es ein Deutschland gab oder zumindest ein Nationalgefühl, das man mit Deutschsein verbinden konnte.

Trotzdem dürfen wir das als unser Erbe verstehen. Nach heutigem Stand der Dinge kommt der Mensch aus den afrikanischen Savannen, und niemand wird behaupten, das wäre ein verirrter Europäer gewesen, außer vielleicht Erdogan, der hält die Türken ja für so etwas wie ein Urvolk, dass seine Zeugnisse überall auf der Welt hinterlassen hat.

Schwer zu sagen, wann das Deutschsein genau begonnen hat. Wahrscheinlich mit dem gemeinsamen Kampf germanischer Stämme gegen die Römer im ersten Jahrhundert v. Chr. Die sogenannte Varus-Schlacht im Jahre 9 erinnert daran. Aber es dauerte bis Karl der Große, bis man von einer veritablen historischen Bedeutung des Deutschen sprechen kann.

HEILIG? EIN REICH?

Aber bleiben wir einfach mal bei den letzten 1000 Jahren, weil jüngst davon die Rede war: Kann man sie als erfolgreich bezeichnen? Unter den Ottonen gab es durch Eroberungen eine Ausdehnung, die bis nach Italien reichte. Die Kirche unterstützte das in einem Pakt; und das Reich, das so entstand, nannte sich hochmögend „Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation“. Offiziell existierte es bis 1806. Aber es hielt nie seine Gestalt: Von außen wurde es ständig durch aufstrebende und wenn auch meist flüchtige Mächte erfolgreich attackiert; von innen zersetzte sich die Macht im Gerangel zwischen Königtum und Kirche bzw. zwischen den Herrschergeschlechtern. Heraus kam ein Flickenteppich aus kleinen Herrschaftsbereichen, die alle unbedeutend blieben. Beschleunigt und verfestigt wurde das durch den Dreißigjährigen Krieg von 1618 bis 1648. Danach zerfiel das Reich in 382 Entitäten, die ihrem kleinstaatlichen Absolutismus frönten. Der französische Philosoph Voltaire beschrieb in seiner spitzen und treffenden Art die Realität im 18. Jahrhundert so: „Dieser Korpus, der sich immer noch Heiliges Römisches Reich nennt, ist in keiner Weise heilig noch römisch noch ein Reich.“ Immerhin ließen sich hier erste Anklänge eines föderativ verfassten Gemeinwesens erkennen. Doch Deutschland war eher eine Kulturnation denn eine politische Macht. Das änderte sich erst mit dem Aufstieg Preußens. Doch als in England die Industrialisierung Mitte des 18. Jahrhunderts begann, war „Deutschland“ nur schlicht ein Agrarland. Erst mit der Verspätung eines halben Jahrhunderts folgte die Industrialisierung auch hier, gewann dann aber bahnbrechende Fahrt nach der Reichsgründung 1870/71. Dann begann allerdings in Deutschland eine Blütezeit mit einer wissenschaftlichen und kulturellen Entwicklung, die sogar vom Ersten Weltkrieg nicht beendet werden konnte – und von deren Restbestände wir heute noch profitieren. Was und wer diese imposante Entwicklung zu dem damals in vielleicht jeder Hinsicht produktivsten Staat auf Erden beendete, dürfte bekannt sein: Das war, als ein Haufen von Verführern und Fanatikern, Sadisten und Mördern in Deutschland die Herrschaft übernahm – halb geschenkt, halb an sich gerissen. Sie stürzten durch ihre Diktatur aber nicht nur Deutschland ins Verderben, sondern ermordeten Millionen Menschen in industriellem Maßstab, verheerten halb Europa und lieferten letztlich die missbrauchten Länder im Osten der nächsten, einer roten Diktatur aus.

Die Worte reichen immer noch nicht an dieses Grauen heran.

DIE BILANZ

So fällt die historische Bilanz für uns Deutsche und für Deutschland mager aus. Die Griechen dürfen sich noch etwas auf ihre Antike einbilden, auf die unfassbar großartigen Werke ihrer Kultur und auf die Erfindung der Demokratie. Von den Römern haben wir alle die Elemente republikanischer Verfasstheit geerbt. Die Briten können stolz sein auf die Magna Charta und das House of Parliament. Und die Amerikaner – hoffen wir, dass sich das unter dem aktuellen Präsidenten nicht ändert, denn die Krise bliebe nicht auf das Land beschränkt – sind seit über 200 Jahren in vielen Bereichen Vorbild für die prägende Kraft der Freiheit und der Gewaltenteilung, fußend auf den Ideen der Federalist Papers, der Unabhängigkeitserklärung und der US-Verfassung.

Was haben wir nun zu bieten? Die Werke der klassischen Musik, der Literatur, der Philosophie – die Welt mag sie zurecht nicht missen. In der Politik haben wir ein Vorbild abzugeben in einem relativ erfolgreichen Föderalismus und einem liberalen Rechtsstaat. Und auf das, was wir „Aufarbeitung der Geschichte“ nennen, haben schon Länder geschaut, die sich selbst ihren Verfehlungen stellen wollten und wollen. Aber wir selbst, wenn wir denn einen inneren Bezug zu diesem Land haben wollen, werden trotzdem nicht an diesem einen großen Splitter in der Seele vorbeikommen. Er wird noch auf lange Zeit schmerzen angesichts seiner Herkunft: jenen epochemachenden Verbrechen schier unvorstellbaren Ausmaßes in den Jahren 1933 bis 1945. Wer sich damit nicht abfinden mag und das in Abrede stellt, an den möchte ich mich mit der dringenden und eindringlichen Bitte wenden: Bitte, bitte, einfach mal die Schnauze halten!

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