Der Historiker Stephan Lehnstaedt schildert die Geschichte von Belzec, Sobibor, Treblinka. Diese erste Gesamtdarstellung der sogenannten „Aktion Reinhardt“ in deutscher Sprache erscheint, während die Erinnerung an die Vernichtungslager verblasst.

Auschwitz ist zum Synonym für die Ermordung der Juden Europas geworden. Alljährlich besuchen über eine Million Menschen die Gedenkstätte. In staatsmännischen Reden und zahllosen Kunstwerken wird an Auschwitz als Tiefpunkt deutscher Barbarei und Ort des absoluten Bösen erinnert.

Dass die Erinnerung wach gehalten wurde, ist den 8.000 Menschen zu verdanken, die noch am Leben waren, als die Rote Armee das Lager befreite. Sie hatten überlebt, weil Auschwitz eine Mischung aus Vernichtungslager und Arbeitslager war. Die schwächeren Ankömmlinge trieb man nach Ankunft sofort in die Gaskammern, die anderen sollten sich zu Tode schuften. Häftlinge wie Primo Levi konnten später der Welt berichten, was sie in Auschwitz erlebt und gesehen hatten.

Keine Chance zu überleben

Über Belzec, Sobibor und Treblinka gibt es kaum Zeugnisse – mangels Zeugen. Weniger als 150 Menschen überlebten diese drei Vernichtungsorte, die die SS im Zuge der sogenannten „Operation Reinhardt“ (benannt nach Heydrichs Vornahmen) installiert hatte. Hier gab es nur wenige Baracken für Zwangsarbeiter. Die Mordanstalten lagen tief in den ostpolnischen Wäldern. In ihrer Nähe existierten keine Steinbrüche oder Fabriken, in denen man die Juden vor ihrem Tod hätte ausbeuten können. Wer dort ankam, wurde solgleich getötet, egal ob Kind, Greis oder arbeitsfähiger Erwachsener.

Die einzigen Menschen, die man dort zwecks Zwangsarbeit eine Weile am Leben ließ, mussten den Ankömmlingen die Wertsachen abnehmen, sortieren, registrieren und stapeln. Oder den Toten die Goldzähne ausbrechen. Oder Massengräber schaufeln und mit Leichen füllen.

Doch auch diese Häftlinge wurden nach Schließung der Lager 1943 erschossen. Außer ihnen arbeiten in den drei Mordfabriken noch „Trawniki“, nicht-jüdische kriegsgefangene Helfer aus den eroberten Gebieten. Über diesen standen nur wenige deutsche SS-Leute, so dass auch die Zahl der Augenzeugen auch auf Täter-Seite gering blieb. Nach Ende der Mordkampagne ließ man die Gebäude planieren und die Areale mit Bäumen bepflanzen.

Brave deutsche Mörder

Belzec, Sobibor, Treblinka waren im Grunde keine Lager, sondern Gaskammern und Erschießungsplätze mit Gleisanschluss. Einer Form organisierten Massenmords, die in Ausmaß und Kälte einzig ist. Zweck der „Aktion Reinhardt“ war es, die jüdische Bevölkerung Polens auszulöschen.

Die Gedenkstätten, die heute an den Orten des Grauens stehen, wurden spät errichtet und werden nicht sehr häufig besucht. Lehnstaedts Buch ist ein wichtiger Beitrag gegen das fortschreitende Vergessen. Hoffentlich lesen es viele Menschen, obwohl das Thema so schwer erträglich ist.

Denn es macht einen großen Unterschied, ob man den Holocaust pauschal verdammt und sich dadurch innerlich distanziert. Oder ob man sich auf die Details einlässt. Erst durch die Genauigkeit entsteht ein Bewusstsein dafür, dass all dies wirklich geschehen ist. Und dass es keine Aliens waren, die dies taten, sondern brave deutsche Staatsdiener.

Stephan Lehnstaedt
Der Kern des Holocaust
Belzec, Sobibor, Treblinka und die Aktion Reinhardt
C.H. Beck, München 2017,
208 Seiten, € 14,95