Anmerkungen zu Friedrich Reck-Malleczewens „Tagebuch eines Verzweifelten“

Es gibt Leute (übrigens nicht nur lächerliche Leute), die behaupten, Liebe sei besser als Hass. Wer seine Feinde hasse, der habe ihnen schon einen wichtigen Sieg verschafft: jene Feinde hielten dann unsere Gedanken besetzt. Hass, so meinen jene Leute, sei Zeitvergeudung, man solle sich besser mit angenehmen Dingen beschäftigen.

Solche Leute möchte ich immer fragen: Kennen Sie Friedrich Reck-Maleczewen?

Friedrich Reck war ein verarmter Adeliger, der Sohn eines ostpreußischen Rittergutsbesitzers, der in der Zeit der Weimarer Republik ökonomisch über seine Verhältnisse lebte (schnelle Autos, maßgeschneiderte Anzüge, teure Wohnungen) und sich mit Artikeln fürs Feuilleton, Reiseberichten und trivialen Jugendromanen durchschlug, die heute zurecht vergessen sind. Seine politischen Ansichten sind mir ziemlich fremd: Reck gehörte zum Umkreis der „konservativen Revolution“, verachtete die liberale Demokratie, dazu Großbritannien und die Vereinigten Staaten, sprach von der „Verniggerung“ des modernen Menschen, kurzum – er war ein wütender Reaktionär. Selbstverständlich war er Monarchist. Und anfangs begrüßte er die Nazis (ein bisschen), weil er im Nationalsozialismus eine Revolte gegen die westliche Moderne erblickte.

Aber er war sehr schnell von ihnen enttäuscht. Mehr noch: angewidert. Vielleicht deshalb, weil er nie in seinem Leben Antisemit war. Friedrich Reck, der geistig und politisch aus einer Ecke kam, die jener der Nazis nicht ganz entgegengesetzt war, lernte sie so zu hassen, wie nur jemand hassen kann, der das Objekt seiner Abscheu sehr genau kennt.

Er lebte in der Nazizeit mit seiner Frau auf einer Burg in Bayern. Das Ehepaar versteckte eine Jüdin (Albertine Gimpel), half mit, zwei weiteren Juden das Leben zu retten (Max Bachmann, Richard Marx), und wurde deshalb postum von Yad Vashem ausgezeichnet.

In der Nazizeit schrieb Reck – heimlich, heimlich –  sein wichtigstes Buch, das „Tagebuch eines Verzweifelten“. Dieses Buch ist immer wieder im breiten Strom der Neuerscheinungen untergegangen und wurde immer wieder neu aufgelegt. Ich besitze die Version, die in den Neunzigerjahren im Eichborn-Verlag erschien – eine Anschaffung aus dem Antiquariat –, und sollte eines Tages, Gott behüte, mein Haus abbrennen: dies gehörte zu den Büchern, die ich mir bei der Flucht unter den Arm klemmen würde.

Ein deutscher Patriot

Friedrich Reck schrieb sein „Tagebuch“ in den Jahren von 1936 bis 1944. Dann wurde er aufgrund einer Denunziation verhaftet, ins KZ Dachau deportiert. Er ist dort unter ungeklärten Umständen namenlos verreckt. Und die wichtigste Emotion im „Tagebuch eines Verzweifelten“ ist, wie gesagt – nicht die Liebe.

„Euch da oben hasse ich im Wachen und im Traum“, schrieb Friedrich Reck, „ich werde euch hassen und verfluchen in meiner Todesstunde, ich werde euch hassen noch aus dem Grabe heraus, und es sollen Eure Kinder und Kindeskinder sein, die an meinem Fluch zu tragen haben. Ich habe keine andere Waffe gegen Euch als diesen Fluch, ich weiß, dass er das eigene Herz verdorren lässt, ich weiß nicht, ob ich Euern Untergang überleben werde …“

Übrigens richtete sich Friedrich Recks Hass nicht nur gegen die Nazis. Auch über die Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944 hatte er wenig Freundliches zu sagen.

„Ein wenig spät, Ihr Herren, die Ihr diesen Erzzerstörer Deutschlands gemacht habt, die Ihr ihm nachliefet, solange alles gut zu gehen schien, die Ihr, alle Offiziere der Monarchie, unbedenklich jeden von Euch verlangten Treueid schworet, die Ihr Euch zu armseligen Mamelucken des mit hunderttausend Morden, mit Jammer und Fluch der Welt belasteten Verbrechers erniedrigt habt…“

Mit großer Wärme sprach Reck dagegen von den Widerstandskämpfern der Weißen Rose. Er träumte davon, dass eine deutsche Partisanenarmee mit der Waffe in der Hand gegen die Nazis kämpfen sollte, und wusste natürlich, dass es eine solche Partisanenarmee nie geben würde.

Friedrich Reck war ein deutscher Patriot, der gleichzeitig fähig war zu schreiben, „dass Deutschland heute den infernalischsten Pöbel der Welt birgt“. Dieser Pöbel, beobachtete er, stammt nicht aus dem Proletariat, sondern „dem kleinen Beamtentum, der Elementarlehrerschaft, dem mittleren Postbeamten … Wir, eine Historiographie des Dritten Reiches vorbereitend, werden es notgedrungen den ‚Aufstand der Briefträger und Volksschullehrer‘ betiteln müssen.“

Hass macht mitunter hellsichtig. An verschiedenen Stellen seines „Tagebuches“ sprach Reck davon, dass die ganze Nazibagage mit dem Tode bestraft gehöre. Keinen aber hat er mehr gehasst als Albert Speer, der, nachdem er eine lächerlich geringe Gefängnisstrafe verbüßt hatte, in Westdeutschland – unter anderem von Joachim Fest – als „guter Nazi“ hofiert wurde. Friedrich Reck nannte ihn „diesen Lümmel, der … in seiner konstruktiven Visage diese widerlich mechanistische Bubenseele seiner Generation offenbart. Ich gestehe, nächst diesem Papen … ist mir dieser Schnösel, der sich wie eine Reinkarnation Leonardo da Vincis vorkommt, das Widerwärtigste, was in der Peripherie der eigentlichen Räuberhauptleute der Nazismus geboren hat. Geht es nach mir, werden wir ihn zwanzig Füße höher hängen als die anderen.“

Kein Antisemit

Großartig auch, wie Friedrich Reck nebenbei – mit einer Handbewegung, als würde man eine Fliege erschlagen – den von den Nazis sehr geschätzten Dirigenten Wilhelm Furtwängler erledigt. „Man kann nämlich auch blond dirigieren“, schreibt er. „Und diese körperliche und seelische Haarfarbe hat sich selbst kompromittiert.“

Seine Kurzdefinition des Nationalismus ist bis heute unerreicht. „Nationalismus: eine Gemütsverfassung, bei der man nicht so sehr das eigene Land liebt, als im Schlafen und Wachen davon brennt, im Anhassen des fremden Landes sich die Hosen zu nässen.“

Mir fällt dabei immer das berühmte Foto von dem Nazi ein, der sich in Hoyerswerda – oder war es in Rostock? – vor dem brennenden Asylantenheim in die Trainingshose pisste.

Es handelte sich bei Friedrich Reck, wie schon angemerkt, um einen Reaktionär, der alles andere als ein Antisemit war. Zu den stärksten Teilen dieses „Tagebuches“ gehören drei Seiten, auf denen Reck das Schicksal von „Fräulein X.“ schildert, einer älteren alleinstehenden Jüdin in München, auf deren Zweizimmerwohnung ein bekannter Schauspieler ein Auge geworfen hatte. Also denunzierte er sie bei der Gestapo. Die Dame sollte ins KZ deportiert werden. Weil sie genau wusste, was das bedeutete, bat sie eine Freundin, eine Frau von Zumbusch, um Gift, das jene Frau von Zumbusch – ihr Mann war mit einem Pharmakologen befreundet – dann auch beschaffte.

„Die Dame begibt sich mit dieser letzten Gabe zu Fräulein X., die ja nun eigentlich schon eine Sterbende ist, und nun begibt sich das Furchtbare, dass sie, die unter Tränen für das Gift dankt, noch eine weitere Bitte äußert: die, Frau von Zumbusch, die ja auch Sängerin ist, möge ihr Brahms’ ‚Ernste Gesänge‘ zum Abschied singen. Es geschieht. Die beiden Frauen trennen sich, und heute, beim Mittagessen, erhalten wir die Nachricht, dass man das alte Fräulein X. tot in ihrer Wohnung gefunden habe, vor der offenbar in Ungeduld schon dieser Denunziant, eben dieser Schauspieler P., wartet … Ob die Cocktails, die Herr P. in der also ergatterten Wohnung zu sich nimmt, nicht manchmal nach einem Gemisch von Curarin und Zyankali schmecken … ob es nicht manchmal jene ‚Ernsten Gesänge‘ sind, die ihm durch das Marschgeschmetter des Radios ins Ohr klingen?“

Diese Passage zeigt, was dem Hass des Friedrich Reck zugrunde lag: eine tiefe und ganz ungekünstelte Menschenliebe. Und darum ist sein Hass nicht hässlich. Er verzerrt nicht die Züge. Mich ergreift diese Episode womöglich auch aus einem ganz persönlichen Grund: Meine Großmutter sel. A., die in München lebte (und überlebte), hat die Ernsten Gesänge geliebt. „Denn es gehet dem Menschen wie dem Vieh…“ Und: „O Tod, wie bitter bist du“.

Der Grund, warum mir in diesen Tagen Friedrich Recks „Tagebuch eines Verzweifelten“ einfällt?

Einmal dürfen Sie raten.

Ich weiß ganz gut: Donald Trump ist nicht Hitler. Er ist nur ein geisteskranker Schwächling, den ein irrer geschichtlicher Zufall an jene Stelle befördert hat, wo eigentlich der Anführer der freien Welt sitzen sollte. Die Vereinigten Staaten überfallen keine fremden Länder. Sie liefern nur die Kurden totalitären Schlächtern aus und machen eine Außenpolitik, die dem russischen Regime nützt. Wir stecken keine kleinen Kinder in Gaskammern. Wir sperren sie nur in Käfige und lassen sie auf dem nackten Zementboden schlafen und bringen ihre verwaisten Eltern in Länder zurück, wo sie gute Chancen haben, von Gangs abgeknallt zu werden.

Und Mitch McConnell ist kein Hindenburg. Er ist nur ein Mann ohne Seele und ohne Rückgrat.

Und ich? Es gab eine Zeit, da habe ich stark bezweifelt, dass die Klimaerwärmung menschgemacht ist; und meine Furcht vor dem islamischen Totalitarismus hat mich nach dem 11. September dazu verführt, alle Muslime für gefährliche Irre zu halten. Eine Zeitlang habe ich sogar das Märchen geglaubt, dass Muslime in Europa irgendwann die Mehrheit der Bevölkerung stellen würden. Ich war für den Krieg in Afghanistan und später auch für den Irakkrieg. Nachdem ich Amerikaner geworden war, wurde ich Mitglied der Republikanischen Partei. Voilà, ich bin kein Linker.

Und just darum – nicht trotzdem – hasse ich Trump und seine Anhänger mit einer Inbrunst, die mich manchmal selbst erstaunt. Und ich hasse ihre Geistesverwandten in Deutschland: die Etepetete-Nazis, das AfD-Pack, die Pegida-Trottel. Und diese Heftigkeit im Hassen, eigentlich muss man sogar von Abscheu sprechen – diese Heftigkeit finde ich in Friedrich Reck-Malleczewens „Tagebuch eines Verzweifelten“ wieder. Und so kommt er mir wie ein fremder Bruder vor.