Abschied von Europa
Ein Exil-Pole in Guatemala: Nicht ohne Grund misstraute Andrzej Bobkowski europäischen Intellektuellen – und war doch selbst einer. Dazu jedoch auch ein selfmade-man und ein großartiger Prosa-Autor.
„Als freie Menschen der Pariser Dächer erkennen wir die Tyrannei der Höhlenfrau aus der Loge im Parterre nicht an.“ Der im Frühjahr 1939 zusammen mit seiner Frau und Lebensliebe Basia aus Polen nach Frankreich emigrierte Schriftsteller Andrzej Bobkowski (1913-1961) war nicht furchtsam wie der „Mieter“ in Roman Polanskis gleichnamigem Thriller, jedoch sogar noch mittelloser als dieser: „Dort oben gibt es keinen Gasanschluss und keinen Strom, nur den Wind, die Sonne, den Mond und die Sterne… Die Abende dauern hier länger als dort unten.“ Ebenso wie mit dem Argentinien- und Frankreich-Emigranten Witold Gombrowicz hatte die offizielle polnische Kultur (die kommunistische ebenso wie die nationalistisch-katholische) lange mit Andrzej Bobkowski gefremdelt, der indessen zeit seines Lebens auch im Westen unbekannt geblieben war.
Ein stolzer Außenseiter
Nach Lektüre des jetzt in der Anderen Bibliothek unter dem Titel „Hinter dem Wendekreis. Erzählung vom Abschied aus Europa“ erschienenen Prosabandes – in elegantes Deutsch übertragen von Ron Mieczkowski – versteht man, weshalb dieser Autor ein Solitär geblieben war. Seine Gefühls- und Wahrnehmungs-Melange, sein Schreibstil aus Poesie und Wut, Zärtlichkeit und Aufbegehren lässt sich nämlich nicht domestizieren und kategorisieren. Nach dem deutschen Einmarsch 1940 war eine Flucht nach England gescheitert, also schlug sich Bobkowski auf dem Schwarzmarkt durch, organisierte jedoch auch Hilfsaktionen für in Frankreich lebende polnische Arbeiter. 1948 kehrte dann das Ehepaar Bobkowski Europa den Rücken und langte nach einer abenteuerlichen Schiffspassage und einer Bahnreise durch Panama (die danach natürlich literarisiert wurde als Hommage auf den Roman „Nostromo“ des gebürtigen Polen Joseph Conrad) in Guatemala-Stadt an. Mit nicht mehr als 150 Dollar in der Tasche – und in erneuter stolzer Zurückweisung von Hilfsfonds, Autoren-Auslandsstipendien etc – bastelte Andrzej Bobkowski Modellflugzeuge (sic!), verkaufte diese und eröffnete schließlich sogar einen eigenen Laden.
„Die Franzosen hatten nie einen Charles Dickens“
Was für eine abenteuerliche, freie Existenz, von der er dann in seinen Prosatexten eindrucksvoll Zeugnis ablegt – und zwar nicht in plattem Naturalismus, sondern voll sinnlicher Impressionen und in rasanten, oft situationskomischen Dialogen. Und nicht zuletzt in Reflexionen, deren polemische Schärfe im Blick auf das „immer weinerlicher werdende Europa“ noch heute Relevanz besitzt. „Der Totalitarismus beginnt, wenn nicht nur der Durchschnittsbürger auf der Straße, sondern ganze Gesellschaften aus vollster Überzeugung sagen: ‚Die Regierung muss, der Staat sollte‘ usf. Erst dann beginnt der echte Totalitarismus. Der Totalitarismus ist nicht die Staatsform – er ist der Seelen- und Verstandeszustand des Bürgers. In Europa unterliegen schon ganze Gesellschaften dem Glauben, dass die Regierung muss.“ Bereits in seinem Weltkriegstagebuch 1940/41 (auf Deutsch 2002 unter dem Titel „Wehmut? Wonach zum Teufel?“ erschienen und damals hierzulande völlig untergegangen) hatte Bobkowski am Beispiel des kapitulierenden Frankreich das Fatale einer Mentalität beschrieben, die keineswegs der Vergangenheit angehört. „Sie kritisieren Politiker, kritisieren soziale Einrichtungen, kritisieren andere, aber nie sich selbst. Denn die französische Nation ist groß, wunderbar, genial, aber sie ist diesem oder jenem ausgeliefert, dieser Institution, diesen Menschen usw… Die Nation also ist nie schuldig?“ Nach Kriegsende, innerlich bereits auf dem Absprung vom alten Kontinent, legt er dann noch einmal nach. Dass in Frankreich „das Verhältnis von Beamten zu Steuerzahlern beständig in Richtung der Ersteren kippt“, ist dabei, wiewohl aktuell geblieben, noch der geringste Vorwurf, da anderes noch viel schwerer wiegt in der selbsternannten „Heimat der Menschenrechte“.
„Die Franzosen hatten nie einen Charles Dickens, sie hatten so viele andere nicht, die die verhärteten Herzen aufzuweichen und ihren Egoismus zu schleifen imstande gewesen wären – oder sie zumindest gelehrt hätten, wie man den Anderen verstehen und neben ihm leben kann ohne zu hassen, voller Rachsucht für die anderen Schichten, parteiisch für die eigene. Ihnen fehlte auch die Schlacht um England, und sie wird ihnen immer fehlen.“
Dabei ist Andrzej Bobkowski alles andere als ein „Grollender aus dem Osten“, sondern bestens vertraut mit den Nuancierungen und feinsten Verästelungen der französischen Kultur; in einem Text lässt er sogar verstorbene Geistesgrößen von Gustav Le Bon über Michelet bis hin zu Balzac und Flaubert gegen sich antreten – und in ihrem in Jahrhunderten erlernten, wohlgesetzten Redeschwall natürlich auch siegen. „Flaubert betrachtete mich mit geschürzten Lippen und unterzog mich einer Vivisektion.“ (Einige Jahrzehnte später, kurz vor seinem Suizid 1978, würde ein anderer großer Unbehauster, der Schriftsteller Jean Améry, in seinem letzten Buch „Charles Bovary, Landarzt“ in Bezug auf die Flaubert’sche Kälte ganz ähnliche Worte finden.) Kurz vor der Abreise in Marseille notiert Bobkowski dann 1948 in Cannes: „Die letzten Nähte platzen auf. Die letzte Nacht. Jetzt aber wirklich.“ Ähnlich wie in New York der exilierte deutsch-böhmische Schriftsteller Johannes Urzidil, der in seinem Brotberuf als Lederkunsthandwerker arbeitete (und darüber wunderschöne, vom Respekt für praktische Arbeit zeugende Essays schrieb) oder wie der aus dem KZ Auschwitz nach Turin heimgekehrte Primo Levi in seiner Begeisterung für die Arbeit des Chemikers, sah auch Andrzej Bobkowski in seiner Tätigkeit als Flugzeugmodellbauer keineswegs etwas „Entfremdetes“ oder gar eine Schande. Im Gegenteil. Der berechtigte Stolz, „eine Metall- von einer Nagelpfeile zu unterscheiden (womit ich mich wiederum von den ‚realistischen‘ und marxistischen Schriftstellern im heutigen Polen unterscheide)“, gibt ihm die Kraft, nun in Guatemala wieder einmal ins kalte Wasser zu springen und sich zusammen mit seiner Frau eine neue Existenz aufzubauen. Und wenn Zukunftsangst in ihm hochsteigt – und natürlich tut sie das – dann hat selbst diese die Ehrlichkeit, entblößt vor ihm zu stehen, „ohne in so aufsehenerregende Kleider gehüllt zu sein wie etwa die kecke ‚Furcht vor intellektueller Leere‘ oder ‚uninspirierender Umgebung‘, ohne mit all den europäischen Naschereien behangen zu sein“.
Deshalb ein ums andere Mal ein geradezu lustvoll gestreckter Mittelfinger gegenüber den heuchlerischen Verschmocktheiten des „Alten Kontinents“: „150 Dollar sind mein ganzes Kapital, aber es geht mir gut. Ich fühle mich, als hätte ich mich aus der muffigen Provinz losgeeist, als wäre ich aus einem Moor gewatet, das gerne Quellwasser wäre, aus der Gesellschaft der Heulpeter, die tagein, tagaus bittere Tränen vergießen über den Niedergang Europas mitsamt seiner Kultur, gesprochen mit einem gedehnten ´U´ am Ende, und die darauf warten, dass ihnen Heil zukommt in Form der Waren aus dem flegelhaften Amerika.“
Ein Strauß polnischer Gegenwartskritiker
Polen, Deine weltweit verstreuten Diaristen und luziden Mentalitäts-Diagnostiker: Witold Gombrowicz in Buenos Aires, Vence und Westberlin, sodann Gustaw Herling in Neapel und Czesław Miłosz in Berkeley – und Andrzej Bobrowski in eben jener Guatemala-Stadt! (Und wie unterscheidet sich deren Präzision von den illiberalen Tiraden eines Alexander Solschenizyn, der in seinem Vermonter US-Exil von einem „sauberen Russentum“ halluzinierte und die Fehler des Westens kaum je prägnant auf den Punkt zu bringen wusste.) Schließlich war es dann ein anderer Exilant, der ehemalige Weltkriegssoldat und Verleger Jerzy Giedroyc, der in seiner bis ins Jahr 2000 existierenden, bei Paris ansässigen legendären Zeitschrift „Kultura“ diesen Autoren Platz und Stimme gegeben hatte. So konnten deren Texte schließlich sogar ins kommunistische Polen hineingeschmuggelt werden, wo sie eine junge liberale, nicht-nationalistische Oppositions-Elite prägten, von Adam Zagajewski bis Adam Michnik, der bis heute einer der wortmächtigsten Kritiker der jeweiligen Regierungen ist. Was für eine emanzipatorische Tradition, die in Deutschland völlig fehlt…
Nicht minder stark war Bobkowskis Verachtung für gewisse westeuropäische Intellektuelle und einen Kulturbetrieb, der sich aus öffentlichen, das heißt auf dem freien Markt erwirtschafteten Steuergeldern finanzieren lässt, jedoch mit vermeintlicher Staatsferne und einem wohlfeilen Antikapitalismus kokettiert. Bobkowskis Blick aus der Ferne ist gnadenlos und präzis – auch weil er weiß, dass seine Sätze nicht nur im stalinisierten Ostblock, sondern auch in bestimmten tonangebenden Milieus des freien Westeuropa seine sofortige Marginalisierung bedeuten würden. „Die ökonomische Bildung nicht nur des durchschnittlichen Europäers, sondern sogar eines intelligenten fußt noch immer auf ein paar Floskeln, die erst von der Französischen Revolution gebrüllt wurden und danach bis heute in marxistischen Abhandlungen wiederholt und durchdekliniert werden.“
Nicht ohne blinde Flecke
Doch so poetisch Bobkowkis Beschreibungen seiner neuen Heimat Guatemala auch sind – für das schreiende soziale Elend und das neo-feudale Treiben der berüchtigten „United Fruit Company“, zeitgleich packend beschrieben in den Romanen von Miguel Àngel Asturias, scheint der polnische Auswanderer irritierend blind zu sein. Vielleicht aber gibt es ja dennoch Texte von ihm über den furchtbaren, von der CIA initiierten Militärputsch von 1954 gegen die Regierung des christdemokratischen(!) Reformpräsidenten Jacobo Árbenz – einen Coup, den seinerzeit der jung-nihilistische Che Guevara als „Beweis für klare Fronten“ sogar bejubelt hatte, während 2016 der altliberale Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa dem entsetzlichen Geschehe den Roman „Harte Jahre“ gewidmet hatte. Man hofft es beinahe inständig, da Andrzej Bobkowski beim Anblick des Panama-Kanals doch Klartext geschrieben hatte, aus einem ethischen Entsetzen heraus, das keineswegs mit einem „antikolonialistischen Diskurs“ prunken musste: „Ich denke an die Tausende Arbeiter, die hier gestorben sind wie die Fliegen…Von allen, die hier ihr Leben gegeben haben, kann man eigentlich nur diese Arbeiter bewundern. Denn kann man ähnlich von den Spaniern denken? Oder den Piraten von Henry Morgan? Balboa, Pizarro? Die sind in diese Tropenhöllen um des Geldes willen reingelatscht. Im Grunde ist die ganze Anstrengung der Konquistadoren, diese ganze übermenschliche, von abgrundtiefer Gier freigesetzte Kraft, aufrechterhalten bloß von Goldklumpen am Horizont, eigentlich widerwärtig und alles andere als bewundernswert. Zum Heroismus lässt sie sich jedenfalls nicht zählen. Und wenn doch, dann zu dem der Saufbolde.“ Und danach tatsächlich kein Tagebuch-Wort zur unerträglichen Lage der schamlos ausgebeuteten guatemaltekischen Landarbeiter, zum (bis heute fortdauernden) strukturellen Rassismus gegenüber der dunkelhäutigen Maya-Bevölkerungsmehrheit? Das wäre mehr als unwahrscheinlich. Doch selbst in diesem Falle: Fast tröstlich, dass dann also selbst ein solch kluger Kopf wie Andrzej Bobkowski keineswegs unfehlbar war und ebenfalls seine blinden Wahrnehmungsflecke hatte. Übrigens: Inzwischen gilt er längst als einer wichtigsten polnischen Autoren des 20. Jahrhunderts. Nach seinem vor über zwei Jahrzehnten auf Deutsch erschienenen Weltkriegstagebuch ist er hierzulande nun auch als Prosa-Autor zu entdecken. Und das ist wahrlich eine gute Nachricht.
Andrzej Bobkowski: Hinter dem Wendekreis. Erzählung vom Abschied aus Europa.
Aus dem Polnischen von Ron Mieczkowski. Die Andere Bibliothek, Berlin 2023. geb.,
383 S., Euro 44,-
(nur noch antiquarisch erhältlich: Wehmut? Wonach zum Teufel? Tagebücher aus
Frankreich. 1940-41. Aus dem Polnischen von Martin Pollack und mit einem
Nachwort von Basil Kerski. Rospo Verlag, Hamburg 2000. geb., 359 S.)