Der russische Patient
Putins Land ist wie ein Kleinkind, das seine Grenzen nicht kennt.
Wenn man noch etwas zum Operetten-Aufstand von Prigoschins Söldnertruppe sagen möchte, etwas, das noch nicht gesagt wurde, dann ist es diese Beobachtung: Für einen kurzen Moment – 24 Stunden, in denen sich das Land im Ausnahmezustand befand – hat der Westen tief in die russische Seele blicken dürfen, in dieses mythische Gebilde, das seit Dostojewski das westliche Bild von Russland geprägt hat: rätselhaft, religiös, widersprüchlich. Liebe, die ohne Vorankündigung in Hass umschlagen kann. Aufschäumende Gewalt unter Menschen, die sich eben noch betrunken im Arm lagen. Man lernt: Der Tod ist nur eine und nicht besonders wichtige Episode im russischen Leben.
Als Alexander von Humboldt für seine Sibirienreise vom Zaren einen Trupp Kosaken als Begleitschutz erhielt und dieser darauf erwiderte, er brauche so etwas nicht, weil er schon die Wildnis am Orinoco bereist habe, bekam er zur Antwort: Das sei nicht die Wildnis, das sei Russland. Wer als kultivierter Europäer auf die Ratio setzt, auf die Vernunft als gemeinsame Verständigungsgrundlage, wird sehr schnell eine Besseren belehrt – spätestens dann, wenn die vor Rührseligkeit feuchten Augen des Gastgebers, mit dem man gerade ein Wässerchen getrunken hat, plötzlich in kalte Wut umschlagen. Russland ist anders und schwer auszurechnen, aber warum?
Im materialistischen Westen hat man gelernt, seinen Gefühlshaushalt zu kontrollieren, in Russland kennt man ein solches Emotions-Management nicht. „Hass-Liebe“ ist dann auch das treffende Wort, um das Verhältnis von Russland zu Europa zu beschreiben. Je nach Status, Einkommen und Bildung ist es entweder mehr Liebe oder mehr Hass. Und auch wenn umgekehrt viele Europäer für Russland bestenfalls Desinteresse aufbringen, Russland braucht Europa, um sich selbst zu fühlen: Europa ist für Russland eine Art Gefühls-Barometer.
Es wäre ein Irrtum zu glauben, dass sich Russland selbst genügt – allein wegen seiner Größe. So wie die USA. Für die Amerikaner ist Europa nur ein erweiterter multilingualer Themenpark, den man routiniert und mit einem Reiseführer abpaternostert: Aha, da kommen wir her. Putzig! Und dann fliegt man zurück nach Dallas oder Denver und lebt sein Leben. Nicht so die Russen. Für die meisten von ihnen ist Europa ein unerreichbarer Sehnsuchtsort. Eine Art Schaufenster voll mit verführerischen Waren – und in dessen Scheibe man sich spiegelt. Was sie sehen, ist eine amorphe Figur, verschwommen und unklar. Russland ist wie ein Kleinkind, das seine Körpergrenzen nicht kennt und erst Schmerzen empfinden muss, um zu wissen: Aha, das gehört zu mir.
Wenn man Russland vermessen will, bekommt man Probleme. Im Osten liegt die unendliche Einöde aus Steppe, Taiga, Tundra – sibirisches Nichts. Im Westen liegt Europa mit seinen selbstbewussten Metropolen, Parlamenten und zivilen Institutionen – mit seinem festen Werte- und Regelsystem. Irgendwo dazwischen liegt Russland. Wo genau, weiß niemand, nicht mal die Russen. Deswegen versucht Russland sich aufzublasen, um endlich herauszufinden, wo es anfängt und wo es aufhört. Imperialismus als Selbstfindung. Einsammeln von Erde, nennt es der russische Nationalist. Aber kann man Erde ansehen, ob sie russisch ist oder nicht?
Wer kann, flieht aus diesem Land. Das war schon immer so. Die Bohème floh nach Paris, Die Intelligenzija nach Berlin, die Reichen nach London, die Aristokratie an die Côte d’Azur oder nach Baden-Baden. Nur die Schriftsteller blieben, weil ihr Sujet auch nicht weg kann. Sie erschufen die russische Seele, weil es sonst nichts gab, was man erschaffen konnte. Diese Seele ist von einer schwer zu durchdringenden alles umfassenden Traurigkeit erfüllt. Sie will gestreichelt werden. Und wenn sie nicht gestreichelt wird, läuft sie Amok! Sie putscht, sie überfällt fremde Länder, sie gehört eigentlich auf die Couch.
Das ist der russische Patient. Und keiner weiß, ob es für ihn Heilung gibt.