Sind Atombefürworter in Wirklichkeit rechte Klimaleugner und Industrielobbyisten? Das meinte die Journalistin Susanne Götze jüngst im „Spiegel“. Doch das ist eine grobe Vereinfachung unserer Energie- und Klimadebatte.

Als ich im April 2019 für den „Spiegel“ interviewt wurde, drehte die Redaktion das Stück zwei Wochen lang durch den Faktencheck. Fehler fand sie keine in diesem kritischen, aber fairen Gespräch, aber man merkte der Prozedur an, wieviel Bammel man hatte, mit dieser Herausforderung der deutschen Antiatom-Diskurshegemonie etwas Falsches zu tun. Erst nach meiner Beschwerde wurde die Bezeichnung „Atomlobbyistin“ im Trailer des Interviews zurückgezogen, denn ich vertrete meine Auffassung nicht, weil mich ein Konzern oder Industrieverband dafür bezahlt. Bis heute steckt das Interview bei „Spiegel plus“ hinter einer Bezahlschranke.

Die Energiewendler toben

Dafür traute sich der „Spiegel“ am 14. Dezember vergangenen Jahres, unter dem Label „Atomkraft? Ja bitte! Forscher erfinden das AKW neu“ einen Beitrag über neue Reaktorkonzepte in den USA in die Print-Ausgabe zu heben, sehr zum Ärger der deutschen Energiewendler-Twitter-Blase um die Referentin des Ökostrom-Unternehmens EWS Eva Stegen, das erneuerbare WDR-Sturmgeschütz Jürgen Döschner und einige weitere Nuklearexperten, für die nur ein abgeschaltetes AKW ein gutes AKW ist. Sie waren not amused, dass ihre bislang unangefochtene Diskurshegemonie durchlöchert wurde, weil nun ganz vereinzelt auch pro-nukleare Stimmen zu Wort kommen. Stegen witterte eine US-Verschwörung unter Führung des Milliardärs Bill Gates, der selber an der Entwicklung neuer Kernreaktorkonzepte beteiligt ist, und des Harvard-Philosophen Stephen Pinker, der im „Spiegel“ die deutsche Atomangst als übersteigert kritisiert hatte.

Am meisten ärgerte Stegen, dass der Spiegel ein Foto reproduzierte, auf dem der Münchner Plasmaphysik-Doktorand Fabian Wieschollek zu sehen war, der in der ersten Reihe einer Fridays-for-Future-Demo ein „Kernenergie? Ja bitte!“-Schild hochhielt. Versehen mit einem #SpiegelGates-Hashtag motzte Stegen den „Spiegel“ an:  „Es ist höchst fragwürdig, einen Einzelnen, der mit einem besonders großen Schild versucht, eine 40-Tsd-Teilnehmer-Demo für seine Zwecke zu kapern, so prominent herauszustellen, wie es der Spiegel getan hat“.

Publizistik im Energiewendestaat

Jemand musste also ausgleichende Ordnung schaffen. Das übernahm Susanne Götze, die auch in anderen Zusammenhängen für das Gute (die Energiewende) und gegen das Böse (Klimawandel und Klimaleugner) kämpft. Götze ist Mitgründerin des „Klimajournalistenbüros“ und gehört zu einem Kreis von Publizisten, die sich für Klima- und Energiewende-Berichterstattung stark machen. Allerdings haben sie offensichtlich nicht verinnerlicht, wovor Hans-Joachim Friedrichs vor vielen Jahren die Zunft einmal warnte, die er auf dem Weg vom Berichts- zum Erziehungsjournalismus sah: Als Journalist dürfe man sich mit keiner Sache gemein machen, „auch mit keiner guten“.

Recherchiert man ein wenig in der Welt der Klimajournalisten, dann beginnt man zu verstehen, warum die Energiewende wenn auch nicht technisch, so doch diskursiv ein voller Erfolg ist. Energiewende-Journos, Umwelt-NGOs, Erneuerbare-Energien-Forschung, Parteifunktionäre und Ökostrom-Industrie bilden genauso Netzwerke aus und spielen sich gegenseitig die Bälle zu, wie das vor einem halben Jahrhundert noch die Atomlobby tat. Doch aus dem Atomstaat ist im Zuge des Generations- und Politikwechsels der letzten zwanzig Jahre längst der Energiewendestaat geworden. In ihm erfüllt Susanne Götze sozusagen die Rolle einer staatstragenden Journalistin. Sie sorgte für den Ausgleich beim „Spiegel“, mit einem Artikel, der die wohlbekannte Botschaft vermittelt: Atom böse, Energiewende gut.

Verräterische Sprache

Götzes Artikel „Die Renaissance der Atomlobby“ wurde nicht hinter Paywalls versteckt, und wohl auch nie faktengecheckt. Die Autorin schafft es, den zentralen Punkt der Debatte, die Sachfrage „Kann die Kernenergie sinnvoller Teil eines klimaneutralen Energiemixes sein?“ erst gar nicht zu diskutieren. Das ist bemerkenswert, denn ausweislich ihres Selbstverständnisses geht es ihr ja ums Klima. Sie fertigt die Frage mit dem Kurzzitat eines energiewende-freundlichen deutschen IPCC-Experten ab, der die dort genannten Dekarbonisierungs-Pfade unter Einschluss der Kernenergie relativiert: Kernkraft spiele keine Rolle, viel zu teuer, viel zu gefährlich, viel zu unbedeutend für die Klimabilanz. Das steht zwar im eklatantem Gegensatz zur Situation in Deutschland, wo vor allem der Atomausstieg und das daraus resultierende Festhalten an der Kohle Schuld am Nichterreichen von Klimazielen ist, aber egal:  Es geht Götze nicht um die Sache, sondern um die Menschen, die sie vertreten. Ihr Artikel ist ein einziges großes Argumentum ad hominem. Und das setzt man immer dann ein, wenn man eine Diskussion um eine Sache verhindern will.

Schon aus Götzes Sprache spricht ihr Vorurteil. Wir lernen: wer für den Ausbau regenerativer Energien eintritt, ist Befürworter von Erneuerbaren oder Klimaschützer. Wer hingegen für Atomkraft ist, muss entweder komisch, fanatisch oder von jemandem dafür bezahlt worden sein. Daher laufen Befürworter der Kernenergie bei Frau Götze grundsätzlich nur als „Atomlobby“  oder (lies: irrationale) „Fans“ auf. Atombefürworter bilden keine Gruppen oder Vereine, sondern eine „Szene“, sie reden nicht, sie „poltern“, und medial erfolgreiche Atombefürworter wie der amerikanische Ökomodernist Michael Shellenberger sind „schillernd“, soll heißen: dubios.

Nach dem Rechten sehen

Damit nicht genug: Frau Götze sieht auch gleich richtig nach dem Rechten. Sie schiebt der kleinen, in Deutschland heterogenen und im Ausland vorwiegend linksliberalen pro-nuklearen Bewegung pauschal jene Verbindungen nach „rechts“ unter, die sie früher bereits bei den „Klimaleugnern“  feststellte. Überhaupt ist sie eine Meisterin des Plurals, obwohl ihre Belege immer nur im Singular auftreten. So wird aus einem einzigen Fachvortrag über radioaktive Strahlung, den ein pro-nuklearer Aktivist auf Einladung der AfD-Bundestagsfraktion hielt, ein Kontinuität suggerierendes  „lässt…sich gern zu AfD-Anhörungen einladen“. Götze entdeckt personelle „Überschneidungen“  zwischen den Klimaskeptikern von EIKE und der Kerntechnischen Gesellschaft, einer Art Standesorganisation der Atomingenieure, was mit Klima-Fragen aber weniger zu tun hat als mit der simplen Tatsache, dass beide Vereine sich für Kernenergienutzung aussprechen, es hier also nur um eine partielle Schnittstelle geht. Als Beleg liefert Götze lediglich eine einzige „Überschneidung“, nämlich Professor Helmut Alt, KTG-Mitglied und EIKE-Beirat – aber keinerlei Zitate, aus denen klimaskeptische Aussagen von Alt oder anderen Fachleuten der KTG abzuleiten wären.  Andere Zitate werden aus ihrem ursprünglichen Kontext gerissen, um die „Kernenergiefans“ zu Klimaleugnern zu machen.

Zum Lagerdenken tritt bei Götze Verschwörungs-Geraune über die Finanzierung all der „Pro-Atom-Vereine“: „Woher solche Thinktanks und Pro-Atomvereine ihr Geld beziehen, ist wenig transparent. Einige deutsche Atomvereine werden als langer Arm der Atomkonzerne gesehen, auch weil viele Mitglieder für die Atomindustrie arbeiteten.“ „Werden gesehen“; „langer Arm“:  Spätestens hier hätten „Spiegel“-Faktenchecker nachhaken müssen. Denn diese Aussage gibt lediglich her, dass Atomkritiker denken, die pronuklearen Aktivisten könnten doch nur von der Atomindustrie bezahlt sein. Frau Götze hat zwar keinen Beleg für ihren Verdacht, den sie unkritisch von der Anti-Atom-Bewegung übernimmt – aber zu groß war die Versuchung, ihn in ihren Artikel hineinzurelotisieren. Absurd ist das auch deswegen, weil sie kurz darauf selbst konstatiert, die Industrie wolle gar nicht wieder in die Kernenergie zurück, da sich bekanntlich mit staatsgeförderten Erneuerbaren auch prima Geld verdienen lässt.

Atom und links? Gibt’s nicht

Die Linken, Ökomodernisten, Klimaaktivisten  und Humanisten in der deutschen pro-Atom-Bewegung bleiben unerwähnt, weil sie so gar nicht ins rechte Bild passen wollen. Ökomodernisten und pro-nukleare Klimaschützer werden, wenn überhaupt, als etwas Exotisches, Ausländisches, aus den USA und Polen Kommendes dargestellt. Susanne Goetze scheint gar nicht zu bemerken, dass die False-Flag-Operation, die sie suggeriert, weder logisch noch politisch einen Sinn ergibt. Warum sollte das Argument der CO2-armen Kernenergie in Wirklichkeit ein U-Boot der Klimaleugner sein? In Wirklichkeit gibt es eben Klimaskeptiker und AfDler, die für Kernenergie sind – und Befürworter der Kernenergie, die sich in der Klimaschutz-Bewegung engagieren und AfD-Gegner sind. Während die Rechten die Kernenergie (genauso wie die Kohlekraft) vor allem als Standortfaktor, Symbol nationaler Grandeur und Gottseibeiuns für Grüne schätzen, sehen die Ökomodernisten sich selbst als Teil einer neuen, undogmatischen Umweltbewegung.

Sie setzen sich vom in Deutschland etablierten grünen Konservatismus ab, der nur die Wind- und Sonnenenergie der Vorfahren akzeptiert, und sich mangels technisch sinnvoller und bezahlbarer Speichertechnologie selbst ins Aus manövriert hat, weil nun zwangsläufig ein fossiles Backup für die volatilen Erneuerbaren her muss. Ökomodernisten hingegen verstehen Technologien wie Kernenergie oder Grüne Gentechnik nicht als Teil des Problems, sondern als Teil der Lösung. Sie erblicken in der Kernenergie jenen energiedichten Prozess, den man für die Dekarbonisierung von Industriegesellschaften benötigt. Statt für Demontage und Degrowth plädieren sie für Weiterentwicklung der industriellen Moderne. Ökomodernisten sind auch gar nicht prinzipiell gegen den Ausbau Erneuerbarer Energien; sie kritisieren nur die völlig übersteigerten Hoffnungen, die in Deutschland ausgerechnet auf unzuverlässig produzierenden regenerativen Erzeugern ruhen, und plädieren für einen nuklear-erneuerbaren Energiemix.  Doch in Deutschland müssen diese progressiven Atomfreunde an gleich zwei Fronten kämpfen: im angestammten grünen Milieu müssen sie sich gegen Strahlenhysteriker und doktrinäre Windkraft- und Solar-Lobbyisten behaupten, welche die Wahl zwischen Kernenergie und Erneuerbare als Nullsummenspiel verstehen. Im pro-nuklearen Lager hingegen müssen sie sich mit all jenen auseinandersetzen, die ihre Hoffnungen auf die AfD setzen. Und das sind viele.

Recherche? Nein danke

Frau Götze hätte nun diese Verwerfungen und inneren Widersprüche in den vorgeblich festgefügten Lagern der Energie- und Klimakontroverse herausarbeiten können. Das wäre guter Journalismus geworden. Doch sie hielt es für unnötig, jene Leute, über die sie schrieb, direkt zu befragen. In ihrer Selbstdarstellung klingt das anders: hier ist sie mit Fahrrad und Fotoapparat bei den Menschen, über die sie schreibt. Doch ich weiß nicht mal, ob sie überhaupt selbst auf der Demo am „heruntergefahrenen AKW“ Philippsburg am 29.12. 2019 war, über die sie berichtete, um einen Aufhänger für die Entlarvung der Atomlobby zu haben. Das Foto zum Artikel im „Spiegel“ ist jedenfalls nicht von ihr; die Quellen, die sie nutzt, kann man bei anderen Berichterstattern über die Demonstration finden. Wenn sie vor Ort war, hätte ihr auffallen können, dass der Block 2, um dessen Abschaltung sich alles drehte, zu diesem Zeitpunkt selbst für Laien unübersehbar noch lief. Sein Kühlturm dampfte, während die Eisbären der polnischen Klimaschutzgruppe FOTA vor dem Kraftwerkszaun tanzten. Doch wo auch immer Frau Götze war, ob mit Fahrrad in Philippsburg oder als Ferndiagnostikerin vor ihrem Rechner in Berlin: ihr Herz schlug wohl so heiß auf Seiten der Anti-Atom-Bewegung, dass sie das AKW in Gedanken schon vom Netz schrieb – und seine Verteidiger in die rechte Ecke.