Freya Klier zum 70. Geburtstag

DDR-Bürgerrechtler – so will es das Stereotyp – sind höchst verdienstvolle Mitmenschen, die zu gewissen Anlässen und Jubiläen aus der Versenkung geholt werden, damit sie über ihre Verdienste sprechen und mitunter auch so manche Gegenwartsklage führen. Es ist hier nicht der Moment, darüber zu sinnieren, ob solches Klischeebild nicht vielleicht doch ein paar Realitätspartikel aufweist, wohl aber für die Feststellung: Freya Klier, deren 70.Geburttag heute zu feiern ist, ist nicht zur Archivarin der eigenen Vergangenheit geworden, und erst recht ist sie als Autorin und Filmemacherein keine, die allein die eigene Biographie und das eigene Umfeld im Blick hätte. Das Wort von der „Ausnahmeerscheinung“ – in ihrem Fall hätte es wohl  Gültigkeit, klänge es nicht allzu ätherisch-pathetisch und wäre deshalb unangemessen beim ohnehin fragwürdigen Versuch, in nur wenigen Minuten ein Leben, einen Menschen zu beschreiben, dessen unverstellte Herzlichkeit immer wieder Staunen macht – dabei nicht zu vergessen die erfrischenden und effizienten Wutanfälle, wann immer es Machtmissbrauch anzuklagen gilt und die Nebelkerzen diverser Diktatur-Schönredner ausgepustet werden müssen. 

Die Liste von Freya Kliers essayistischen Veröffentlichungen – „Sachbücher“ höchstens in dem Sinne, in dem es ihr immer um die ganz konkrete Sache der Menschenrechte und des verfolgten Individuums geht – ist ebenso eindrucksvoll wie ihre Filmographie, die längst zu einem Panorama der Gewalt-, aber auch Widerstandsgeschichte des 20. Jahrhunderts geworden ist.  

Die Namen der Ravensbrück-Überlebenden und Schriftstellerin Anja Lundholm, des 1956 von den Stalinisten ermordeten antinazistischen Widerstandskämpfers und SED-Kritikers Robert Bialek oder der Dresdner Holocaust-Überlebenden Johanna Krause, die späterhin von ihrem ehemaligen, nun bereits in die SED eingetretenen SS-Peiniger erneut denunziert und ins Gefängnis gebracht wurde – sie alle sind Dank der Filme Freya Kliers dem Vergessen entrissen worden. Das gleiche gilt für die an der bulgarischen Grenze erschossenen DDR-„Republikflüchtlinge“, für die vom Stalin-Regime in sibirische Arbeitslager verschleppten Frauen, die Opfer der Menschenversuche von Ravensbrück oder für die aus Nazi-Deutschland ans andere Ende der Welt geflüchteten Juden, deren Geschichten Freya Klier in ihrem Buch „Gelobtes Neuseeland“ erzählt.

Genauigkeit und Empathie

Allerdings: Es sind keine bloßen „Themen“, die hier routiniert „bearbeitet“ würden. Wer die Bücher Freya Kliers gelesen und ihre Filme gesehen hat – ganz zu schweigen von ihren öffentlichen Auftritten und Lesungen – konnte und kann etwas entdecken, was in Deutschland so häufig nicht zu finden ist: Genauigkeit und Empathie, Leidenschaft und Verstand – oder wie es der Schriftsteller Hans Sahl einst formulierte, der 1933 aus Berlin flüchten musste und nach Mauerfall als Hochbetagter zurückkehrte nach Deutschland, wo ihm die DDR-Dissidenten und Bürgerrechtler emotional besonders nahe waren: „Gescheit sein und gütig – und nie das eine ohne das andere.“

Pathetisches Tremolo wird man also im Werk Freya Kliers ebenso wenig finden wie jenen großäugigen Instant-Humanismus, der angesichts jeder neuen Scheußlichkeit ein naives „Warum?“ auf Pappschilder kritzelt. Freya Klier, am 4. Februar 1950 in Dresden geboren, hatte nämlich schon früh die schreckliche Schlagkraft menschlicher Bosheit erfahren und in den nachfolgenden Jahrzenten einen genauen Blick dafür bekommen, welche gesellschaftlichen Strukturen und Institutionen jenes immer und überall und real existierend Böse einzudämmen vermögen – oder es im Gegenteil noch machttechnisch befeuern.

Wer als Kleinkind in ein Kinderheim der Ulbricht-DDR kommt, weil der eigene Vater verhaftet worden ist, wer dann selbst mit gerade einmal 18 Jahren wegen „versuchter Republikflucht“ eingekerkert wird, der entwickelt schon frühzeitig ein feines Sensorium für jene Mechanismen von Willkür und Repression, ohne die keine Diktatur auskommt. Unzählige sind daran physisch zerbrochen. Oder haben es aufgrund erfahrener Verletzungen späterhin nicht vermocht, die eigene Geschichte auch als Exempel zu sehen für das Unrecht, das anderen angetan wird – zu allen Zeiten und in nahezu allen Teilen der Welt. 

Wenn wir heute zu Freya Kliers Geburtstag über ihr gelungenes Lebenswerk sprechen, sollten wir deshalb eines immer im Auge behalten: Selbstverständlich ist das alles keineswegs. Denn besonders Würdigungen und Laudationes neigen oft dazu, angesichts einer beeindruckenden Biographie eine Art logische Zwangsläufigkeit im Nachhinein zu konstruieren, ein häufig allzu gefälliges „Es musste ja so kommen“, das den individuellen Entscheidungs- und Handlungsspielraum und die Faktoren Mut und Risiko sträflich unterschätzt. „Es“ hatte jedoch mitnichten alles „so“ kommen müssen. Freya Klier, die nach ihrer Haftentlassung studieren durfte, im Theater reüssierte und 1984 mit ihrer Adaption von Ullrich Plenzdorfs „Legende vom Glück ohne Ende“ sogar den DDR-Regiepreis erhielt, hätte es sich nämlich auch im halb-kritischen Milieu der verdrucksten DDR-Intelligenzia bequem machen können – ein kleines, subtil verrätseltes Widerwort da und dort, ansonsten jedoch ein Mitmachen, das sich – der intellektuellen Selbstmanipulationen sind viele – mit einem Verweis auf das angeblich „utopische Potential des Sozialismus“ in die eigene Tasche lügt, wieder und wieder. Sie hätte nämlich auch nicht zu einer der bekanntesten Aktivistinnen der DDR-Friedensbewegung werden, hätte nicht den totalen Bruch riskieren müssen, der sie und Stephan Krawczyk dann schließlich innerhalb der DDR zur persona non grata gemacht hatte, wo ihre systemkritischen Text- und Musikprogramme nur noch unter dem Schutzdach der Kirche aufgeführt werden konnten. (Und auch dort wiederum gab es Pfarrer, die sich entscheiden mussten: Für jene abwiegelnden Worte, die seit jeher für jedes Wegschauen zur Verfügung stehen und sich häufig sogar plausibel anhören, oder für die Solidarität mit zwei Menschen, die sich nicht den Mund verbieten lassen.)

Möglichkeiten für Irrwege

Wir sind gewiss vertraut mit jenen Ereignissen vom Januar 1988 in Ostberlin, den Verhaftungen zahlreicher Oppositioneller im Zuge der Liebknecht-Luxemburg-Demonstration, denen die durch Manipulation und Stasi-Lügen erzwungene Ausreise von Freya Klier und Stephan Krawczyk folgte. Bürgerrechtliches Engagement, Verhaftung, Ankunft im Westen und dort schließlich – bis heute – viele weitere  Aktivitäten. Doch auch hier suggeriert das kursorische Nacherzählen die falsche Logik einer angeblich zwingenden Konsequenz.

Machen wir deshalb kurz ein weiteres kleines Gedanken-Experiment. Wäre es damals nicht ungleich bequemer gewesen, unter beibehaltener DDR-Kritik nun mit ein paar gefälligen Plattitüden über „den Westen“ jene hier medial Einflussreichen zu bauchmietzeln, die es sich zwischen den Stühlen bequem gemacht hatten auf dem Sessel der Äquidistanz und die nicht müde wurden, mit selbstgerechtem Lächeln zu behaupten, was im Osten Partei und Geheimdienst wären, seien im Westen eben das Geld und die Banken? In diesem Fall – um zu Ehren der Regisseurin eine imaginäre Drehbuchszene zu entwerfen – wäre dann eben der 70. Geburtstag einer derart diskursiv Gefügigen wahrscheinlich von der Ebert-Stiftung ausgerichtet worden und als Laudator hätte womöglich Manfred Stolpes Schützling Matthias Platzeck bereit gestanden – mit ein paar kalkuliert netten Worten über „Ostwest-Versöhnung“ und „unseren Nachbar Russland“. Wieviel Möglichkeiten für Wege und Irrwege!

Oder, um weiterhin im Konjunktiv zu bleiben: Angeödet von der DDR-Verklärung, die noch weit über 1989 hinaus in ein sich als aufgeklärt-progressiv missverstehendes Milieu wirkte, hätte unsere Jubilarin damals ja auch in die vermeintlich verständnisoffeneren Arme jener ultrakonservativen Zirkel sinken können, deren männerbündischer Antikommunismus kaum liberal-universell grundiert war und nicht selten ebenfalls einherging mit ranzigem Ressentiment gegenüber der westlichen Demokratie. Aber auch in diese Falle ist Freya Klier nicht getappt, sondern ist sich treu geblieben. (Nebenbei bemerkt: Die Tatsache, dass jene eben erwähnten Ultras inzwischen längst in einer im unangenehmsten Sinne ganz anderen, nämlich einer Putin-affinen Partei herumschimpfen und simplifizieren, hat wiederum der CDU neue aufgeschlossene Wählerschichten beschert – und dazu erweiterte Macht- und Koalitionsoptionen über Jahre hinaus. In der Tat, auch dafür: Danke, Angela Merkel.)

Freya Klier, die seit vielen Jahren und vor allem in Zusammenarbeit mit der Konrad-Adenauer-Stiftung im ganzen Land Schullesungen und Projekttage veranstaltet, ist deshalb natürlich genauso wenig „rechts“ geworden wie eine modernisierte CDU plötzlich nach „links“ gedriftet wäre. Mit geradezu traumwandlerischem Gespür – doch Halt, das wäre bereits wieder Laudatio-Lyrik, denn Freya Klier selbst würde es eher mit gesundem Menschenverstand und ihrem aus dem Theater herrührenden schnellen Blick für Situationen und Konstellationen erklären – hat sie, die durchaus Streitbare und Polemische, ideologische Untiefen seit jeher vermieden. Hat stattdessen immer wieder einem der historischen Erinnerung und engagierten Empathie verpflichteten common sense eine Gasse geöffnet – nicht zuletzt bei den erwähnten, inzwischen fast zahllosen Projekten mit Schülern und Jugendlichen. Gerade dort beweist Freya Klier, dass die Nachgeborenen keineswegs so desinteressiert sind wie es jene grämlichen Älteren behaupten, die lediglich noch nicht die richtige Sprache gefunden haben für das quasi zeitlose Thema von Unterdrückung versus Widerstehen. Ja, das muss man nämlich erst einmal hinbekommen, als inzwischen 70jährige Menschenrechts-Aktivistin einer jüngeren Generation nicht auf die Nerven zu gehen und ihr stattdessen geduldig und niemals herablassend zu erläutern, dass zum Klima eben auch das politische Klima gehört und es deshalb einen fundamentalen Unterschied macht, ob man in einer demokratischen Gesellschaft freitags angstfrei demonstrieren kann oder als friedlicher Demonstrant in Putins Russland, in Erdogans Türkei, Xi´s China oder im Mullah-Iran brutal zusammengeschlagen und auf Jahre weggesperrt wird!

Blinde Flecken des eigenen Weltbildes

Noch immer erklärungsbedürftig – und dies über alle Altersgrenzen hinweg – auch die simple Tatsache, dass es selbstverständlich einen Zusammenhang gibt zwischen einem nur oberflächlich „neuen“ Rassismus und der Sozialisierung in einer gleichmacherischen Diktatur, für die jegliches Anders-Sein schon per definitionem etwas Feindliches und Bedrohliches darstellte und die mit ihrer quasi system-immanenten Phobie mitunter sogar jene infizierte, die sich selbst als „kritisch“ wahrnahmen. Zahlreiche Essays und Radiobeiträge hat Freya Klier über den bis heute fortwirkenden DDR-Rassismus verfasst, und wer sich wundert, dass in den meisten Schulen der neuen Bundesländer dies eben nicht diskutiert wird, lese ihr bereits 1988 erschienenes Buch „Lüg Vaterland“, für das sie in der DDR der achtziger Jahre und unter beträchtlichem Risiko recherchiert hatte. 

Wer überdies erfahren möchte, wie jene späte DDR-Zeit zwischen Berufsverbot, Verhaftung und der völlig unvorbereiteten Ankunft im Westen auf Freya Kliers damals 15-jährige Tochter eingewirkt hatte und wie viel Jahre es brauchte, um diese ganz frühe Bruch-Erfahrung seelisch zu verarbeiten, lese Nadja Kliers beeindruckendes Buch „Wilde Jugend“, das vor ein paar Wochen erschienen ist.

Freya Klier wurde für ihre Verdienste um Aufklärung und Aufarbeitung u.a. mit der Sächsischen Verfassungsmedaille, dem Bundesverdienstkreuz und dem Franz-Werfel-Menschenrechtspreis ausgezeichnet. 1996 hatte sie das „Bürgerbüro“ mitbegründet, einen Verein zur Aufarbeitung von Folgeschäden der SED-Diktatur, und leitet seit vielen Jahren die Sektion „Writers in Prison“ des PEN-Zentrum deutschsprachiger Autoren im Ausland -vor allem aber hat sie immer wieder und ganz konkret Menschen geholfen, denen sie privat oder durch ihre Arbeit begegnet ist. Hat – worüber sie übrigens selbst kaum spricht, um sich nicht zu rühmen – über die Jahrzehnte hinweg Unterstützungsbriefe geschrieben, Kontakte hergestellt und Aufmerksamkeit geschaffen und bei all dem auch jene emotionale Hilfe geleistet, die wahrscheinlich mitunter sogar professionelle Therapeuten überfordert hätte. 

Dazu kommt etwas durchaus Erheiterndes: Selbst gestandene und bejahrte Wertkonservative, die in aller Redlichkeit mitunter so wirken, als hätten sie ein Lineal verschluckt, werden in Freya Kliers Gegenwart – oft zur Verblüffung ihrer Gattinnen – ganz locker, ja sogar selbstironisch. Während gleichzeitig auch so manche, ihrer selbst allzu gewissen westlichen Linksliberalen angesichts von Freya Kliers freundlich-entschiedenem Insistieren auf Genauigkeit und Hinsehen eine Ahnung bekommen von den blinden Flecken des eigenen Weltbildes. Möge auch dies weiterhin Schule machen!

Eine abschließende Frage: Wie wird man eine solche gutgelaunte Menschenfischerin? Vielleicht dadurch, indem das derart missbrauchte Wort von der „Solidarität“ hier ganz konkret und individuell buchstabiert wird und überdies der eigene christliche Glaube Richtschnur ist, jedoch keineswegs als Monstranz vor sich hergetragen wird. Ein letztes Mal: Selbstverständlich ist auch das nicht. Nicht wenige Aktivisten, unter der Ignoranz ihrer Umwelt leidend, wurden oft selbst zu Verhärteten und Verbitterten, zu hilflosen Helfern und Unter-Verdacht-Setzern des guten Lebens, über die einst William Butler Yeats diese Zeilen schrieb: „In zu viel Hingebung manch Herz zum Steine ward…“ Nun, Freya Kliers Herz ist nicht zu Stein geworden, vielleicht auch Dank des italienischen Erbteils und einer sächsischen Gewitztheit, einer temperamentvollen Lebensfreude, die um die Endlichkeit unserer Existenz weiß und es gerade deshalb nicht ertragen kann, wenn große und kleine Despoten zusätzlich Schicksal spielen. Und anstatt anderen, die vielleicht nicht über diese Konstitution zum Sprechen und Widersprechen, zum Schreiben, Filmedrehen, Überzeugen und Handeln verfügen, gar ein schlechtes Gewissen zu machen, besitzt Freya Klier die wunderbare Gabe, einfach durch ihr gutes Beispiel jene anderen ganz unprätentiös anzuspornen, damit sie die Trägheit überwinden und in der Hilfe für ihre Mitmenschen ja dann vielleicht auch selbst zu besseren Menschen werden. In diesem Sinne nochmals herzlichen Glückwunsch!

Marko Martin hielt diese Laudatio zum 70. Geburtstag der Bürgerrechtlerin, Autorin und Regisseurin Freya Klier am Abend des 4.Februar in der Berliner Konrad-Adenauer-Stiftung.