Ein Offener Brief an Timothy Snyder und das verängstigte Amerika

Sehr geehrter Timothy Snyder,

seit dem 9. November 2016 hat sich ein Schatten ausgebreitet. Wir erleben, wie der Tag buchstäblich zur Nacht wird, wie früher felsenfeste Fundamente eines gesellschaftlichen Zusammenhalts und politischer Glaubwürdigkeit verwittern, womöglich unwiederbringlich, und das in nur wenigen Wochen. Wir erleben gerade schwere Zeiten. Jeder einzelne, der noch an Freiheit, Demokratie, Gleichheit und vor allem an eine rechtsstaatlich fundierte Weltordnung glaubt, der findet sich nun in einer Welt wieder, die über Nacht aufgehört hat, die seine zu sein.

Diese Situation geht an uns allen natürlich nicht spurlos vorüber, und nebenbei bereitet sie auch den Weg für Gedankenexperimente und Ideen, die noch vor weniger als einem Jahr vollkommen wirr und zu hanebüchen gewesen wären, als dass man sie hätte aussprechen wollen. Vor diesem Hintergrund darf ich mich an Sie – und zugleich all anderen Amerikaner, die sich ebenso hilf- und ratlos fühlen – wenden und eine dezidiert deutsche Perspektive darlegen.

Zahlreiche amerikanische (und auch einige britische) Medien haben es sich seit der verhängnisvollen Novembernacht zur Angewohnheit gemacht, Angela Merkel mit dem Ehrentitel „Anführerin der Freien Welt“ zu bedenken, was viele Deutsche eher unpassend und peinlich berührend als schmeichelhaft finden. James Rubin von Politico, Rick Noack von der Washington Post, Jake Tapper von CNN – sie alle sind dabei.

Es muss daher einmal gesagt werden: Wir verstehen vollkommen, warum diese Darstellung so verführerisch ist. Hören Sie bitte trotzdem unbedingt damit auf. Sie tun niemandem einen Gefallen mit diesem Versuch, die internationalen Machtzentren stillschweigend auf die andere Seite des Atlantiks zu schreiben.

Das Ende des German Exceptionalism

Ich möchte das erläutern. Ohne Zweifel war ich nicht der einzige deutschsprachige Leser, der angesichts Ihrer jüngsten Äußerungen im Interview mit dem österreichischen Wochenmagazin profil am Montag verdutzt zurückgeprallt ist. Natürlich würden viele Deutsche Ihren Vergleichen zwischen dem Europa der Dreißiger und Amerika heute beipflichten (ich persönlich würde das in dieser Form nicht, aber ich glaube zu verstehen, worauf Sie hinausmöchten). Aber „Wenn es das deutsche Vorbild nicht mehr gibt, können wir die Demokratie vergessen“? Are you serious?

Dieser Satz ist für den deutschen Leser das moralisch-rhetorische Äquivalent zur Atombombe, die mit chirurgischer Präzision genau über dem mühevoll austarierten Verhältnis der Deutschen zum Rest der Welt gezündet wird. Ihr Bild der deutschen Demokratie – wie auch das Wissen darum, dass so viele Amerikaner dieses Bild teilen – ist natürlich sehr schmeichelhaft; zugleich verlangt es aber von Deutschland implizit, dass das Land etwas tun soll, das nicht zu tun über sieben Jahrzehnte seit Kriegsende mühsamst eingeübt wurde. Der Wunsch, die Deutschen mögen die Vorbildrolle annehmen, ist daher kaum realistisch. Getrieben vom verständlichen Wunsch, nie wieder derart brutal aus der Zivilisationsgemeinschaft auszuscheren, haben die Deutschen seitdem einfach nur dazugehören wollen. Sich einpassen. Ihren Platz finden. Keine Sonderwege, kein Blutvergießen, keine Machtspielchen, nichts, was auch nur im Entferntesten an eine Führungsrolle außerhalb von Diplomatie und Weltwirtschaft erinnern würde. Einfach nur sich einpassen.

Das ist den Deutschen gelungen: Geographisch durch den Verzicht auf die Ostgebiete, kulturell durch eine stillschweigende Selbsteingliederung in die amerikanische Pop-Kultur und natürlich politisch durch die Aussöhnung mit Frankreich und durch die Gründungsmitgliedschaft in einer übernationalen Organisation, die man danach bei jeder sich bietenden Gelegenheit finanziell, politisch und logistisch unterstützt hat und noch immer unterstützt.

Die NATO als Lebensversicherung

Deutschland erbat und erhielt sogar Zutritt zum westlichen Militärbündnis, wovon man sich allerdings nicht blenden lassen darf: Die Mitgliedschaft in der NATO war ein Weg der Parteinahme im Kalten Krieg und nebenbei die Lebensversicherung der jungen westdeutschen Demokratie. Allen Beteiligten war sonnenklar, dass im Falle des Falles keine ernsthafte militärische Beteiligung von den Deutschen erwartet würde oder geleistet werden könnte.

Ironischerweise waren auch die Massenproteste gegen amerikanische Militärpräsenz in den Achtzigern ein Ausdruck des Dazugehören-Wollens – schließlich wollten die Demonstranten ja nichts anderes als ein entmilitarisiertes und darob friedlich koexistierendes Europa. Dieses Ziel war zwar im Angesicht der sowjetischen Aggression von einer haarsträubenden Naivität, aber emotional verständlich und immerhin liebenswert.

Generationen von Deutschen sind in einem geteilten Land aufgewachsen, das hüben wie drüben von echter völkerrechtlicher Souveränität Lichtjahre entfernt war. Und auch als die Wiedervereinigung sich von der vagen Idee zur absehbaren Tatsache verdichtete, unternahmen die Siegermächte – wiederum verständlicherweise – alles in ihrer Macht Stehende, um einen Rückfall der Deutschen in ihre Rolle als Schulhofschläger Europas zu verhindern. Das ist ihnen gelungen: Die heutige Bundesrepublik ist mit Abstand das harmloseste und ungefährlichste Deutschland, das es je gab.

Friedensmacht Deutschland

Das ist vom “Vorbild für die Welt”, das Sie erwähnten, doch schon gar nicht mehr so weit weg, oder? Klingt fast zu gut, um wahr zu sein, nicht wahr? Ich muss Sie weiterhin enttäuschen – ist es auch.

Ein oberflächlicher Blick auf die Leistungsfähigkeit beider Länder genügt. Selbst die beiläufigste Betrachtung lässt keinen Zweifel daran, dass Deutschland den USA auf keinem Gebiet das Wasser reichen kann. Egal ob Technik, Finanzen, Pop-Kultur, Militär (hier ganz besonders) oder selbst in Wirtschaftsfragen – man vergleicht Äpfel mit Birnen.
Dazu kommt noch eine politische Elite in Deutschland, die hard power nur aus sicherer Entfernung kennt und ansonsten von Eltern und Großeltern im Geiste des deutschen Nachkriegscredos „Nie wieder!“ erzogen wurde. Klingt doch auch nett, oder? Ja, allerdings sollte man dabei stets berücksichtigen, dass die Deutschen mit „Nie wieder!“ unausweichlich immer Nie wieder Krieg meinen und eben nicht Nie wieder Völkermord oder auch nur Nie wieder Unterdrückung. Natürlich sind sie strikt gegen Unterdrückung und Völkermord, aber unter gar keinen Umständen würden sie jemals von sich aus ihre eigenen Streitkräfte einsetzen, um bei Menschenrechtsverletzungen dazwischenzugehen, zumindest nicht ohne massiven Druck von außen und höchstens im Rahmen einer multilateralen Mission, am besten mit UN-Sicherheitsratsbeschluss. Die Deutschen sind gründliche Menschen und haben aus den zwei katastrophalen Kriegen der letzten Generationen gründlich und wenig überraschend geschlussfolgert, dass Krieg schlecht ist und um jeden Preis vermieden werden muss.
Diese Position hat auch den Vorteil, dass ihr Inhaber stets den moralischen High Ground für sich beanspruchen kann, was die Deutschen auch gerne und inzwischen durchaus gewohnheitsmäßig tun.

Keine Diskussion über Einsatz der Armee

Es gibt in Deutschland de facto kein positives Narrativ von militärischem Eingreifen jenseits des diesbezüglich komplett historisierten Zweiten Weltkriegs, und das Stigma, mit dem alles Militärische in Deutschland belegt ist, ist unüberwindlich. Wir sind dementsprechend auch erst vor Kurzem in die Diskurse zu internationaler Verantwortung eingestiegen, die in den USA, aber auch in Frankreich und Großbritannien schon mindestens seit den Fünfzigern geführt werden. In Deutschland gab es eine konstruktive Diskussion über einen Einsatz der eigenen Armee aus nicht rein chauvinistisch-nationalistischen Gründen erstmals mit den Kriegen im Kosovo 1999 und in Afghanistan ab 2001.

Und selbst heute, wo die Bundeswehr schon einige Auslandseinsätze hinter sich gebracht hat, beeilen deutsche Politiker – einschließlich der Kanzlerin – sich bei jeder neuen möglichen Entsendung sofort zu betonen, dass Bundeswehrsoldaten nur unterstützen und ausbilden (keinesfalls jedoch kämpfen) sollen, und diese Eilfertigkeit wird nur noch übertroffen von der wütenden Selbstverständlichkeit, mit der große Teile des Wahlvolkes sie einfordern. 2011 hat Deutschland außerdem seine Wehrpflicht „ausgesetzt“, und die Aussetzung der Aussetzung ist angesichts der derzeitigen Mehrheitsverhältnisse auf absehbare Zeit höchstens ein Fiebertraum. Wer dennoch freiwillig zur Armee geht, tritt den Heimaturlaub oft lieber in zivil an, um nicht von „Friedensfreunden“ beschimpft oder angegriffen zu werden.

Bis heute tun viele Deutsche sich auch mit dem Unterschied zwischen “Friedensmacht” und “Ordnungsmacht” unheimlich schwer; insbesondere die Tatsache, dass Letztere ihre politischen Forderungen nur mit einer gewissen militärischen Besicherung, verbunden mit der impliziten Bereitschaft, diese auch einzusetzen, erreichen kann, ist vielen unverständlich oder schlicht unangenehm. Dies gilt für die Bürger wie für Teile der Regierung. Unser neuer Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier etwa hatte es sich während seiner Zeit im Auswärtigen Amt zur Gewohnheit gemacht, in regelmäßigen Abständen auf sämtlichen Friedensgesprächen von Syrien bis zur Ukraine aufzutauchen, unabhängig davon, ob sie erfolgversprechend oder eine reine Farce waren, um dann zu Protokoll zu geben, dass die „Diplomatie eine Chance erhalten“ müsse und „der Gesprächsfaden nicht abreißen“ dürfe. Darauf folgte ernstes Nicken aller Beteiligten, und als Steinmeier fertig war, redeten dann die Erwachsenen. Steinmeiers Phrasen hatten in der echten Welt keinen Tag Bestand, aber was brauchte ihn das schon zu kümmern?

Ms. Merkel geht nicht nach Washington

Was schließlich zeigt: Die Deutschen leben nicht in derselben Welt wie Sie. Die überwältigende Mehrheit von ihnen hat nie einen Krieg erlebt oder kennt auch nur jemanden, der bei einem Auslandseinsatz dabei war, und der Umgang mit bewaffneten Konflikten ist für sie daher schlicht weit jenseits ihrer Vorstellungskraft. Der Gedanke, dass ein Kriegsheld nicht nur für den Dienst an seinem Land gefeiert wird, sondern wie John McCain später sogar noch erfolgreich in die Politik geht, ist im Falle Deutschlands heute absurd bis surreal.

Womit wir schlussendlich zu Ihnen kommen. Ich bezweifle, dass Sie und all die anderen, die Angela Merkel als „Anführerin der freien Welt“ bezeichnen, sie wirklich so sehen. Vielmehr wollen Sie – und ich ja auch, ich gebe es zu – nur, dass es überhaupt einen Anführer gibt, der das anführt, was seit dem 9. November von dieser „freien Welt“ noch übriggeblieben ist. Trotzdem müssen wir am Ende alle derselben Wahrheit ins Gesicht sehen: Flüchtlinge hin oder her, Angela Merkel kann die freie Welt nicht führen, weil Deutschland es nicht kann. Ihm fehlen die Kraft und, solange kein spektakuläres Ereignis Millionen von Deutschen umstimmt, auch der politische Wille, um auch nur seine begrenzte Macht einzusetzen.

Wir werden uns daran gewöhnen müssen, dass die freien und demokratischen Länder einen zersplitterten Block bilden, in dem zahlreiche Staatenlenker miteinander mal zusammenarbeiten und mal im Streit getrennt sind. Wir sind gut beraten, so vereint wie möglich zu bleiben und uns langsam in Richtung einer verteidigungspolitischen Unabhängigkeit zu bewegen; denn inzwischen ist klar, dass wir uns von der Bequemlichkeit des amerikanischen Schutzschirmes viel früher hätten entwöhnen müssen, und da wir diese Gelegenheit verpasst haben, müssen wir dies jetzt unter denkbar ungünstigen Vorzeichen nachholen. Ein wichtiger Schritt auf dem Weg zum Überleben bis zum Ende der Ära Trump ist Realitätssinn – nicht jedoch die ziellose Suche nach Ersatztribunen, wenn der Anführer, der uns und die ganze freie Welt führen sollte, nun einmal nirgendwo anders sitzen kann als im Oval Office. Unsere Aufgabe ist es, die Vakanz seines Stuhls zu überdauern.