Aufstehen: Adieu Gedöns, herzlich willkommen Klassenkampf
Am Mittwoch stellte sich Sahra Wagenknechts Bewegung Aufstehen in einem Gewerkschaftssaal in Bochum der Öffentlichkeit vor. Zu sehen war eine Linke, die die Postmoderne hinter sich gelassen hat. Für Funktionäre der Linkspartei und der SPD könnte Aufstehen zum Problem werden.
Der Saal im Jahrhunderthaus der IG Metall im Bochumer Arbeiterstadtteil Stahlhausen war bis zum Bersten gefüllt. Über 1000 Anmeldungen hatte es für die Auftaktveranstaltung von Aufstehen in Nordrhein-Westfalen gegeben, viel mehr als die gut 600, die am Ende zusammengekommen waren. Es waren Linke unterschiedlichsten Alters, in der Mehrzahl Frauen und wer erwartet hatte, die Blamage von Sahra Wagenknechts Kunstbewegung zu erleben, wurde enttäuscht.
Die Veranstaltung war perfekt organisiert: Nach einer Begrüßung durch die Bochumer Linken-Bundestagsabgeordnete Sevim Dağdelen folgte eine Talkshow mit DGB-NRW-Finanzchef Ralf Köpke, der ehemaligen Putzfrau und Sozialdemokratin Susi Neumann und dem Frankfurter Politikprofessor und Autor Andreas Nölke. Höhepunkt war die Rede von Wagenknecht, an deren Ende es stehenden Applaus gab. Die holländische Band „Bots“ trieb dann nach gut 90 Minuten die Menschen nach draußen in den kühlen Herbstabend.
Viel Linken-Prominenz war gekommen, blieb jedoch im Hintergrund: Der ehemalige Vorsitzende der Partei in NRW Ralf Michalowsky, der 2014 gemeinsam mit Neonazis und Islamisten gegen Israel demonstrierte, der aktuelle Vorsitzende, der unscheinbare Christian Leye, ein treuer Gefolgsmann Dağdelens und natürlich Diether Dehm. Der Querfrontler Dehm hat die Bots vor fast 40 Jahren nach Deutschland gebracht, an diesem Abend präsentierte sie eine neue Version ihres Stückes „Aufstehen“.
Sie alle spielten an diesem Abend keine Rolle, weder persönlich noch inhaltlich. Thematisch erlebten die Besucher eine Linke, wie es sie seit Jahrzehnten nicht zu sehen gab: Es ging nicht um die Förderung feministischer Pornos, nicht um das „checken von Privilegien“ und die Frage, ob und, wenn ja, wie viele unterschiedliche Toiletten eingerichtet werden müssen und wer sie besuchen darf.
Es ging um Sozialpolitik, hohe Mieten, die Verteilung von Reichtum, Vermögenssteuer und Leiharbeit.
Dağdelen prangerte an, dass jeder fünfte Milliardär Europas ein Deutscher ist, die Mieten steigen würden und die Inflation die Lohnerhöhungen wegfrisst: „Die soziale Frage muss wieder Mittelpunkt der deutschen Politik werden“, forderte die stellvertretende Fraktionsvorsitzender der Linkspartei im Bundestag, deren politisches Feld eigentlich die Außenpolitik ist.
Zu weltoffenes Deutschland
In der souverän moderierten Talkshow sagte Andreas Nölke, die Linke habe sich in den vergangenen Jahrzehnten zu stark an den Themen orientiert, an denen die Mittelschicht kein Interesse habe: „Ob Linkspartei oder SPD – viele Mitglieder sind mittlerweile Akademiker.“ Die Linke müsse wieder wirtschaftliche Konzepte vorlegen, sie müsse sich gegen Freihandel und „Exportismus“ stellen: „Die Binnennachfrage muss gestärkt werden. Deutschland ist zu sehr vom Export abhängig.“ Die Linke sei auch zu weltoffen geworden. Multikulturelle Gesellschaft? Nicht Nölkes Sache. Im Saal störte das niemanden.
Es gelte, auch Industrien zu schützen – im eigenen Land und in den Schwellenländern.
Susi Neumann, die Putzfrau, die fast im Alleingang im Bochumer Krankenhaus Bergmannsheil die Ausgliederung der Reinigungskräfte verhindert hat und bekannt wurde, weil sie bei Anne Will den damaligen SPD-Chef Sigmar Gabriel beim Thema Sozialpolitik blamierte, schwärmte von Aufstehen: „Die Menschen reden wieder miteinander. In der SPD darf man sich doch erst melden, wenn man vier Jahre lang im Wahlkampf die Tische aufgebaut hat.“ Über 100 Ortsgruppen gäbe es mittlerweile. Neumann riet Aufstehen dazu, in einer Kampagne die Befristung von Arbeitsplätzen zu Thema zu machen. „Das hat doch kaum ein Politiker auf dem Schirm. Und die Menschen leiden unter der Befristung, das bewegt sie.“
DGB-Funktionär Köpke berichtete viel von aktuellen Arbeitskämpfen und unterließ dabei die gerade im Ruhrgebiet häufige Kohle- und Stahlarbeiter-Rhetorik. „Die Gewerkschaft hat jetzt bei Ryanair einen Tarifvertrag durchgesetzt. Und ich bin mir sicher: Das schaffen wir auch bei Amazon.“ Es waren die Kämpfe bei den Dienstleitern, die Köpke beschrieb, von der Not von Frauen, die für den Mindestlohn arbeiten und für die Gewerkschaften mehr Sicherheit schaffen und höhere Einkommen durchsetzen.
Dann betrat Wagenknecht die Bühne. Als einer der besten Rednerinnen unter Deutschlands Politikern hatte sie den Saal vom ersten Moment am im Griff. Ihretwegen waren die vielen hundert Besucher gekommen, sie wollten sie sehen und hören.
Wagenknecht erteilte allen Spekulationen, aus Aufstehen eine Partei machen zu wollen, eine Absage. Aufstehen müsse vor allem Einfluss auf die SPD nehmen: „Die Linke alleine ist zu schwach. Die SPD muss verändert werden. Ohne die SPD wird es nie eine linke Mehrheit in Deutschland geben.“
Wagenknecht lobte die Grünen und die SPD dafür, sich gegen Hartz IV auszusprechen. Glaubhaft, sagte sie, sei das nicht: „Da diskutiert die SPD klug auf dem Debattencamp in Berlin und wird dann einen Bundeshaushalt mittragen, in dem der Verteidigungshaushalt um sechs Milliarden Euro steigt. Für einen Bruchteil des Geldes könnte man jedem Schulkind ein kostenloses Mittagessen bezahlen.“
Die Grünen würden sich für Jamaika warmlaufen, sie würden sich nicht wirklich für Arbeitslose interessieren.
Hartz IV führt zur Rohheit
Es sei kalt geworden in Deutschland, aber die AfD sei dafür nicht der Grund, sie sei die Folge dieser Kälte. „Hass, Intoleranz und Kälte kommen aus der Rohheit der Gesellschaft. Wie die Menschen beim Jobcenter und in miesen Jobs behandelt werden, führt zur Rohheit.“
Mittlerweile würde Armut und Deutschland ebenso vererbt wie Reichtum. „Wir leben nicht in einer Leistungsgesellschaft. Die Geschwister Klatten haben BMW geerbt und sind so zu Milliardären geworden. Niemand kann durch Leistung Milliardär werden, Milliardär wird man durch Ausbeutung.“
Wagenknecht forderte eine Vermögenssteuer, kritisierte, dass Millionen Wohnungen privatisiert worden seien und warnte vor einem neuen Krieg. Das Verhältnis zu Russland müsse dringend verbessert werden. Mehr Rüstung sei keine Lösung.
Militäreinsätze und eine ungerechte Wirtschaftsordnung seien auch die Gründe für Flucht. „Wir sind Internationalisten. Wir wollen, dass die Menschen in ihren Ländern bleiben können. Wir müssen die Fluchtursachen bekämpfen.“
Die Demokratie befände sich in einer Krise. In den Stadtteilen der Reichen würden sich 80 Prozent der Menschen an Wahlen beteiligen, in denen der Armen kaum noch 50 Prozent: „Diese Menschen müssen wir erreichen, sie brauchen wieder eine Stimme.“
Stehender Applaus für linken Populismus
Als Wagenknecht ihre Rede mit den Worten „Wir haben noch viel vor!“ beendete, brach tosender Applaus aus. Die Zuhörer sprangen von ihren Stühlen auf und jubelten. Was Linkspopulismus ist und wie er auf die Menschen wirkt, im Jahrhunderthaus in Bochum Stahlhausen konnte man seine Wirkmächtigkeit erleben. Und eine Linke, die nichts mit dem zu tun hat, was sich im Prenzlauer Berg, Hamburg-Altona oder dem Kölner Ehrenfeld als links bezeichnet.
Aufstehen greift die Themen auf, welche die neue Linke vernachlässigt hat, ja für überwunden hielt: Bei Aufstehen geht es um Klassenkampf, darum, denen „da unten“ zu versprechen, dafür zu sorgen, denen „da oben“ wegzunehmen, was ihnen nicht zusteht. Um Umverteilung, um die Anerkennung von Lebensleistungen, um Betriebsräte und Tarifverträge. Umweltschutz, die multikulturelle Gesellschaft, die Bedürfnisse von Minderheiten, sie spielen keine Rolle. Es geht um das, was für Marx der Hauptwiderspruch war: Der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit. Der Rest? Als er noch Bundeskanzler war, nannte Gerhard Schröder (SPD) ihn einmal „Gedöns“.
Wagenknecht weiß, dass mit der Forderung nach offenen Grenzen in den AfD-Hochburgen in Berlin-Marzahn, Essen-Katernberg und Gelsenkirchen kein Blumentopf zu gewinnen ist. Dort werden Flüchtlinge nicht als Bereicherung eines immer bunteren Deutschlands gesehen, sondern als Konkurrenten bei der Wohnungs- und Jobsuche.
Und dass angesichts von Diesel-Fahrverboten und einer sich abzeichnenden Krise der deutschen Autobauer Pendler und Industriearbeiter bald schon andere Sorgen als Umweltpolitik haben werden, nimmt sie klug vorweg.
Bietet Aufstehen Lösungen? So wenig wie alle anderen populistischen Bewegungen. Es geht um Gefühle, nicht um den Verstand. Dass der Etat für Arbeit und Soziales mit 145,3 Milliarden Euro mehr als drei Mal so hoch ist wie der Etat der Bundeswehr, dass mitnichten nur, wie von Wagenknecht behauptet, der Wehretat steigt sondern auch die Ausgaben für Familien und Entwicklungshilfe, das Freihandel in den vergangenen Jahrzehnten dafür gesorgt hat, dass der Wohlstand weltweit gestiegen ist und Milliarden Menschen sich aus der Armut befreien konnten, all das interessiert Aufstehen nicht. „Verkürzte Kapitalismuskritik“ nennen intellektuelle Linke, was Wagenknecht und ihre Anhänger betreiben. Da Aufstehen die Sorgen der in den Dienstleistungsbranchen Beschäftigten zum Thema macht, wirkt die Klassenkampfrhetorik dadurch nicht verstaubt, sondern aktuell. Und könnte in den Arbeiterbezirken die AfD Stimmen kosten, die im kommenden Jahr mit Sozialpolitik zum nächsten Wachstumssprung ansetzen will.
Und eine einfache Weltsicht wird keine Ideen für eine immer komplexere Welt hervorbringen.
Aber nicht trotz, sondern wegen dieser einfachen Weltsicht kann Aufstehen erfolgreich werden. Nicht als Partei, Wagenknecht ist nicht so dumm, sich mit den Irren abgeben zu wollen, die eine Parteineugründung unweigerlich anziehen würde wie ein dampfender Kothaufen Fliegen.
Vom Trotzkismus lernen heißt siegen lernen
Die einstige Stalinistin setzt auf die trotzkistische Taktik des Entrismus: Dabei beeinflussen Bewegungen Parteien, versuchen sie inhaltlich zu prägen, anstatt eigene Organisationen aufzubauen und in jahrelanger Arbeit zum Erfolg zu bringen.
Viele in der SPD und in der Linkspartei werden die Gelegenheit ergreifen, die klassischen Themen der Linken wieder zu vertreten. Adieu Gedöns, herzlich willkommen Klassenkampf.
Und auch den vielen Tausenden, die vor wenigen Jahren bei der Friedensbewegung der Aluhüte und Verschwörungstheoretiker auf die Straße gingen, macht Aufstehen ein Angebot. Warum sich zur Verteidigung westlicher Werte mit Putin anlegen, wenn doch der Westen selbst nichts hervorgebracht hat als Ungerechtigkeit, Elend und die Herrschaft von Oligarchen, wie Dağdelen die Oberschicht nannte?
Und dass Wagenknecht ihnen auch noch die Argumentation gegen Migration liefert, welche über ein Jahrhundert lang die Grundlage der zuwanderungsskeptischen Politik von SPD und Gewerkschaften war, werden viele mit Erleichterung zur Kenntnis nehmen.