Legitimität und Gewalt in der Autokratie

Der Umgang mit historischen Jahrestagen in Russland ist gelegentlich wenig subtil. Das weiß jeder, der schon einmal die Militärparade zum 9. Mai durchgestanden hat. Zum 80. Jahrestag des Mordanschlags auf Leo Trotzki im mexikanischen Exil, wurde der russische Oppositionsführer Alexei Navalny vergiftet. Will uns damit jemand etwas sagen?

Der post-sowjetische Raum lebt ständig im Spannungsfeld zwischen Gewalt und Zivilität. Die machtvollen Gewaltapparate sind der Trumpf der Staatsmacht, die ostentative Gewaltlosigkeit das moralische Kapital der Opposition. Das zeigt sich gegenwärtig bei den Protesten in der Republik Belarus und bei den Demonstrationen im Chabarovsk, im fernen Osten Russlands. Am Amur laufen die Proteste gegen das Regime schon seit Wochen, in Belarus seit den gefälschten Wahlen am 9. August. In Chabarovsk wie auch in Belarus zeichnet sich dabei mittlerweile ein politisches Patt ab – beide Seiten setzen auf ihre jeweiligen Stärken. Es sind Bilder mit Symbolkraft: Die weiß gekleideten Frauen und ihre Mitstreiter stehen in Belarus gegen die martialisch ausgerüstete OMON. Es handelt sich um einen ungleichen Kampf: die Machtmittel, die den Autokraten zur Verfügung stehen, sind ungleich größer. So lange die Befehlskette nicht reißt und die Sicherheitskräfte loyal bleiben, steht die Opposition auf verlorenem Posten. Ihr bleibt nur ihre Präsenz im öffentlichen Raum.

Neben das Kräftemessen zwischen Gesellschaft und Regime auf den Straßen und Plätzen tritt nun in Belarus zunehmend die geopolitische Dimension des Konflikts. Die Weigerung der Europäischen Union, die Legitimität der Wahlen in Belarus anzuerkennen, war ein richtiger und überfälliger Schritt. Doch diese Entscheidung hievt die Proteste zugleich auf die Ebene der internationalen Politik. Dies ist für die russische Führung gefährlich, weil die Legitimität ihrer Herrschaft ähnlich fragwürdig ist wie die des Machthabers Lukaschenka: Das russische „Referendum“ vom 1. Juli wies ähnliche Fälschungen auf wie die Wahlen in Belarus und nach zwei Jahrzehnten steigt auch in Russland die Zahl derjenigen, die Putin für verzichtbar halten. Die Parallelen zwischen beiden Regimen dürften auch dem Kreml nicht verborgen bleiben. Es geht in Belarus und in Russland um die Zukunft der autokratischen Herrschaft. Die Proteste stellen nichts weniger als die Systemfrage; die mangelnde Attraktivität und fehlende Legitimität der Autokratie zeigt sich zum wiederholten Male. 

Für die russische Außenpolitik bedeuten die Proteste in Belarus ebenfalls nichts Gutes. Sie durchkreuzen das eurasische Projekt, den Versuch einer erneuten Integration des post-sowjetischen Raumes unter russischer Führung. Drei Jahrzehnte nach dem Ende der Sowjetunion setzen sich die Auflösung des Imperiums und die Nationsbildung weiter fort. Die Proteste gegen Lukaschenka fanden ihr Symbol in der verbotenen rot-weißen Nationalflagge – das Regime hingegen hält den sowjetischen Insignien die Treue. Die Protestbewegung ist in Belarus zwar nicht so dezidiert anti-russisch, wie es Teile des Maidans in der Ukraine waren. Aber die Belarussen erwarten auch nichts Gutes aus Moskau. Auch ihnen geht es um ein Ende der Autokratie und damit um eine europäische Perspektive für ihr Land. Das bedeutet, dass sich die Distanz zwischen Moskau und Minsk mittelfristig weiter vergrößern wird. Putins Russland ist kein attraktiver Partner für seine Nachbarn. Über einhundert Jahre nach Woodrow Wilson setzt sich in Osteuropa der langsame, von Rückschlägen begleitete Übergang vom Imperium zum Nationalstaat fort. 

Vorgegaukelte Wahlen

Auf internationaler Ebene zeigen die Spannungen in Belarus und die Proteste in Russland die Bedeutung freier Wahlen als Legitimationsinstrument. Autoritäre Regime haben in den vergangenen Jahrzehnten große Anstrengungen unternommen, um Wahlen vorzugaukeln und ihre Ergebnisse zu kontrollieren. Der schöne Schein dieser virtuellen Demokratie mit allen ihren Finessen ist verblichen. Weder in Belarus, noch in Hong Kong oder Venezuela sind große Teile der Gesellschaft bereit, die Inszenierungen zu akzeptieren, mit denen die Herrschenden ihrer Macht die Illusion konstitutioneller Legitimität verleihen wollen. Der Ruf nach Partizipation verstummt nicht. Besonders in Zeiten wirtschaftlicher Probleme zeigen sich die inhärenten Schwächen der autoritären Regime. Die Stabilität, die sie vermeintlich bieten, ist eine Grabesruhe.

Die Inszenierungen der Propagandaapparate und die Schlacht um die Meinungshoheit in den sozialen Netzwerken werden weitergehen. Doch Protest und ziviler Ungehorsam reißen den Herrschenden die Maske vom Gesicht: letztendlich stützt sich ihre Herrschaft auf Angst und Gewalt. Der Umgang mit Gefangenen in Belarus oder auch die Vergiftung russischer Oppositioneller sprechen eine deutliche Sprache. Doch Gewalt ersetzt keine Legitimität: Auch wenn Alexander Lukaschenka sich an der Macht halten sollte – der „Kolchos-Bonaparte“ (Adam Michnik) würde endgültig zum Despoten, der sich nur auf seine Sicherheitsapparate stützt. 

Für die Europäische Union stellt sich nun die Frage, was sie nach ihrer Positionierung gegen Lukaschenka erreichen will. Die politischen Spielräume in der Region sind eng begrenzt: Eine Finnlandisierung von Belarus wäre bereits ein großer Fortschritt. In Minsk könnte ein runder Tisch einen gewaltfreien Machtübergang und (geo-)politische Kompromisse aushandeln. Die belarussische Opposition wird sich vermutlich damit anfreunden müssen, wie im Polen der 1980er Jahre eine sich „selbst-beschränkende Revolution“ als beste Lösung für ihr Land zu akzeptieren. Doch jenseits der Lage in Belarus wird die latente Instabilität autoritärer Herrschaft von China bis Russland die internationale Politik weiter beschäftigen.