Bald ist WM-Zeit. Das Ballfieber steigt. Gleichzeitig stellt sich angesichts der Politik des Putin-Regimes die Frage, ob das Fußballfest in Russland nicht doch noch boykottiert werden soll. Hier die klärende Antwort.

Kein Held ohne Heilung – zum Spannungsaufbau arbeitet die Abteilung Public Relation beim DFB schon seit Fangedenken gerne mit Blessuren und Genesungsgeschichten vor großen Turnieren: Dem von zu vielen Spielen geschundenen Starkörper zwickt und beißt es in Wade, Schulter, Mittelfuß, und wir leiden mit dem Spieler, der sich doch eigentlich nur auf den Wettbewerb „fokussieren“ will, auf den Gegner und die Taktik. Was kann da noch kommen? Im schlimmsten Fall die Verletzung eines Schlüsselspielers in einem Testspiel gegen eine Mannschaft, die die WM verpasst hat und nun am Ende der Saison ein Abfuhrmittel für den aufgestauten Frust auf den Rasen serviert bekommt. Danke!

WIR SCHALTEN UM ZUR POLITIK

Aber das ist nur der – sozusagen – sportliche Aspekt. Eine Fußballweltmeisterschaft ist wie die Olympischen Spiele auch ein Politikum. Unvergessen die Diskussionen vor der WM 1978, die in Argentinien stattfand. Das Land wurde von einer Militärjunta regiert, die zehntausende Menschen auf dem Gewissen hatte und die Mordsidee – was erst 1996 herauskam –, Regimegegner betäubt aus dem Flugzeug über dem Meer abzuwerfen. Die Junta erhoffte sich durch die WM einen Image-Gewinn; und da man Weltmeister wurde, bekam man ihn doppelt. Es war der bajuwarische Rebellendarsteller und WM-Sieger von 1974, Paul Breitner, der die deutschen Spieler in der WDR-Sendung Monitor, nach dem Austragungsort gefragt, aufforderte, das Richtige zu tun und dem argentinischen Diktator Videla gegebenenfalls den offiziellen Handschlag zu verweigern. Bertie Vogts hingegen fragte die Reporter zurück, ob er auch nach seiner Meinung gefragt würde, wenn die WM in der Sowjetunion stattfände. Wie man erwarten konnte, hatte er den Spott der Süddeutschen Zeitung damit sicher. Schon über das alles konnte man ja trefflich streiten. Aber die DFB-Spitze ließ sich nicht lumpen und empfing im WM-Quartier in Argentinien den Nazi-Offizier Hans-Ulrich Rudel, der sich nach dem Krieg nach Südamerika abgesetzt hatte und politischer Berater wurde. Wenn wir also die Nase rümpfen, wenn die heutige DFB-Spitze auch von ihren Spielern die glaubhafte Repräsentation von demokratischen Werten spricht, sollten wir uns daran erinnern, wie vor gerade einmal vierzig Jahren gedacht wurde.

Und wer sich bislang noch nicht daran gewöhnen konnte, dass der Fußball eben auch mit Politik zu tun hat, der kann es jetzt tun. Denn die fulminante WM in Brasilien 2014 – das ist die mit diesem gewissen Tor in der 113. Spielminute des Endspiels, das wegen seiner Schönheit in unserem Erinnerungskino in Endlosschleife läuft, auch wenn die Protagonisten wie gefallene Helden im Abseits stehen – ist wohl vorerst die letzte halbwegs „unkritische“ gewesen. Nun folgen Russland und Katar. Und da die Korruption, die Gier und die Geltungssucht anscheinend die Lebenselixiere der FIFA und vieler ihrer Mitglieder (sic!) sind, wissen wir nicht, was für Austragungsländer – China, Saudi-Arabien, Iran? – noch kommen werden oder ob sich diese Elixiere des Teufels nicht zu einem Mahlstrom verbinden, der das ganze Geschäft letztlich in den Untergang zieht.

DIE WM IN RUSSLAND BOYKOTTIEREN?

Nun steht uns erst einmal das Turnier in Russland ins Haus, und langsam, aber stetig, wie die Spielpläne an die Kühlschranktüren geheftet und Fernseher in den Biergärten platziert werden, kommen angesichts der Verbrechen des Putin-Regimes die Fragen, ob das Turnier in Russland nicht eigentlich doch boykottiert werden müsste. Oder wenigsten ein bisschen mittels präsidentieller Abwesenheit oder durch eine besonders eisige Miene der Kanzlerin – schließlich spricht Putins Politik doch unseren Werten hohn. Ich brauche die russischen Verbrechen hier nicht aufzählen, denn spätestens die schon erwähnte Süddeutsche Zeitung oder Jakob Augstein werden sie aufzählen und relativieren, um sie zurückzuweisen und also mit den falschen Argumenten gegen einen späten Boykott der WM in Russland zu debattieren. Das richtige Argument gegen einen Boykott lautet hingegen: Er bringt nichts. Schlimmer noch (Süddeutsche und Augstein jetzt mal weghören): Er nähme uns die Gelegenheit, einen Monat lang intensiv auf die Kriege des Putin-Regimes hinzuweisen: den Bomben-Krieg gegen die syrische Zivilgesellschaft, den hybriden Krieg gegen den Westen, den Killer-Krieg gegen unliebsame Journalisten und Menschenrechtler, den Stellungskrieg gegen die Ukraine. Und auch die geschmacklose Babtschenko-Finte ändert nicht daran. Natürlich werden diese Berichte wie die B-Seiten alter Singles behandelt: Man hört die A-Seite hundertmal und die Rückseite nur anstandshalber. Egal. Die spektakulären Tore, die schnellen Ballstafetten, die schmerzhaften Verletzungen – sie werden uns maßgeblich beschäftigen. Aber im Hinterkopf spürbar bleibt auch das Brennen der Wahrheit jenseits der Liveschalte aus den Stadien.

 


Geht es beim Fußball wirklich nur um Sport? Oder hat eine WM auch immer eine politische, gesellschaftliche und kulturelle Dimension? Sämtliche Beiträge der Salonkolumnisten zur Fußball-WM in Russland finden sich hier.