Einwanderung, das ist täglich erkennbar, ist eines der großen Themen der kommenden Jahre. Die neue deutsche Regierung muss sich dieser Herausforderung anders stellen als die alte. Hier einige Vorschläge.

Im Kleinen wird das Große sichtbar. In der Rhetorik und der Kunst wird die Figur des „pars pro toto“ deshalb gerne eingesetzt, um komplizierte Zusammenhänge, große Ideen oder markante Vorgänge leicht zu veranschaulichen. Wir kennen das alle auch in dem Feld, das wir Öffentlichkeit nennen. Beispiel aus jüngster Zeit: die Essener Tafel. Hier wurde deutlich, dass sich das, was wir Integration und interkulturelle Konflikte nennen, vor allem unter armen Menschen abspielt. Dort findet der Kampf um die günstigen Wohnungen, die einfachen Arbeitsplätzen und manchmal auch um das kostenfreie Essen statt. Während sich die Mehrheit der Bevölkerung solchen Zumutungen entziehen kann, begegnet man in den ärmeren Vierteln einander in Fremdheit ohne Mediation und Diversity-Training, und manchmal will sich sogar das Recht des Stärkeren ohne Skrupel durchsetzen.

Für diese Erkenntnis braucht man keine Bertelsmann-Studie in Auftrag zu geben – es genügt vollkommen ein Blick in die Geschichte oder beispielsweise in jene Gegenden des Ruhrgebiets, wo Ehrenamtliche, Polizei und Kommunalpolitiker schon länger versuchen, die Verelendung ganzer Stadtquartiere zu bekämpfen und eine auskömmliche gesellschaftliche Balance zu gewährleisten. Deutschland steht erst am Anfang einer solch schwierigen Arbeit, und es bedarf eines quasi „integrativ-industriellen Komplexes“ für ein wirklich nachhaltiges Gelingen.

Ohne die vielen Engagierten in der Zivilgesellschaft wird das nicht funktionieren. Deshalb verwundert es besonders, dass es aus der Bundesregierung für die Verantwortlichen der Essener Tafel via Interviews und Sharepics (das sind diese schönen Bilder mit Zitaten, die man gerne in den Sozialen Medien nutzt) Belehrungen im Stile eines Lehrer Lämpel gab. Dass dies nicht nur ein Reflex war, dessen sich die Politik hier unüberlegt befleißigte, sondern dass es mittlerweile ein gespanntes Verhältnis zwischen Politik auf der einen Seite und Institutionen bzw. Zivilgesellschaft auf der anderen gibt, zeigt auch der Fall der Spreewald-Schule in Berlin-Schöneberg. Sie hatte sich nach der starken Zunahme von – zum Teil gewalttätigen – Konflikten in der Schule in gemeinsamer Abstimmung zwischen Schulleitung und Elternrat dafür entschieden, einen Wachschutz zu engagieren. Das wurde vom zuständigen Bezirksstadtrat kritisiert. Auch hier verstärkte sich der Eindruck, dass die Situationen vor Ort von den Verantwortlichen und der Politik unterschiedlich wahrgenommen werden. Es scheint, als zöge man nicht mehr an einem Strang, als gäbe es eklatant unterschiedliche Bewertungen über die Lage und die Brennpunkte im Land und die notwendigen Entscheidungen.

Diese Vertrauenskrise, die sich hier manifestiert, ist genau die Lücke, in die Rechtspopulisten wie die AfD stoßen, um das Versagen oder die Widersprüche staatlichen Handelns für eigene Zwecke zu nutzen. Das muss verhindert werden. Doch es kann nicht nur strategische Gründe geben, nach dem richtigen Weg in Sachen Migration und Flucht zu suchen. Neben Digitalisierung, Finanzwirtschaft und Klimawandel ist die Einwanderung die drängendste politische, soziale und kulturelle Herausforderung der kommenden Jahre, da sie geradezu existentiell ist und unsere demokratische Ordnung betrifft. Es ist ein Problem für Deutschland, dass in der Koalitionsvereinbarung der neuen „Großen Koalition“ zu diesen Themen nur wenig Substantielles zu finden ist.

EXPERIMENT EINWANDERUNGSGESELLSCHAFT

Bleiben wir bei der Einwanderung (zu der hier auch die Asylsuchenden und Flüchtlingen mit einbezogen werden), denn kein Thema erhitzt die Gemüter im Moment mehr. Das rührt vor allem von einem Mangel an transparenten, verbindlichen Regelungen, mit denen Einwanderung gehandhabt werden sollte. Zudem gibt es keinen konzisen und finanziell adäquat ausgestatteten Plan für die notwendigen, umfassenden Integrationsmaßnahmen, die der beständige Zustrom von Flüchtlingen, Asylsuchenden und Migranten erfordert. Das Hauptproblem: Die Überforderung des Staates und der Gesellschaft wird immer deutlicher.

Um nicht missverstanden zu werden: Ich sehe die Bundesrepublik noch nicht in einer solch prekären politischen und sozialen Situation, die der enorme Zustrom an Menschen in den vergangenen drei Jahren in einem anderen Land tatsächlich hätte verursachen können. Aber die Anzeichen lassen sich nicht übersehen, dass unsere Gesellschaft langsam in eine Schieflage gerät, wie es in anderen europäischen Ländern – zum Beispiel im Wohlfahrtswunderland Schweden – schon der Fall ist.

Einwanderung ist ja gerade auch deshalb ein so drängendes und bewegendes Thema, weil es um Menschen geht, nicht um schleichende Entwicklungen, sondern um Menschen, die plötzlich da sind und die Aufnahme, Hilfe, Zuspruch, Förderung, aber auch Erklärungen, Regeln und Ansagen benötigen. Ein guter Anfang wäre gemacht, wenn Staat und Gesellschaft in dem Bewusstsein handelten, dass ein Gemeinwesen nicht nur das Recht hat zu entscheiden, wen, wann, wie viele es in seinen Kreis aufnimmt, sondern auch die Pflicht, Flüchtlingen und Asylsuchenden Schutz zu geben und möglichen Migranten eine klare Auskunft über ihr Bleiberecht. Es geht meines Erachtens kein Weg an einem Drei-Säulen-Modell vorbei, das Punktesystem, Losverfahren und bilaterale Abkommen verbindet (Details dazu finden sich hier). Das wird nicht alles regeln können. Aber die Menschen in Deutschland – und das schließt ausdrücklich Migranten ein – haben das Recht zu erfahren, wie mit der politischen Herausforderung „Einwanderung“ in Zukunft umgegangen werden soll. Bislang hat man von der neuesten GroKo nur vage Andeutungen gehört. Es wäre schon viel gewonnen, wenn sie nicht – wie in der Vorgängerregierung – den Versuch unternähme, das romantisch-postmaterialistische Milieu auf der linken Seite mit seinen Fantasien von „offenen Grenzen“ für jeden und das nationalistisch-reaktionäre Milieu auf der rechten Seite mit seinen fremdenfeindlichen Ideen der Ausgrenzung und Abschottung zu bedienen. Beide machen sich keine echten Vorstellungen von der Strapazierfähigkeit unseres Sozial- und Rechtsstaates; und manchmal scheint es sogar, als nähmen sie aus den unterschiedlichsten ideologischen Gründen die Gefahr eines Niedergangs unseres liberalen Gemeinwesens in Kauf.

Es wird so eine der ersten Aufgaben der neuen Regierung sein, den Entwurf eines Einwanderungs- und Integrationsgesetzes vorzulegen, damit das notwendige Vertrauen in der Bevölkerung zurückgewonnen werden kann. Wir sollten uns alle klar darüber sein, dass die Entwicklung einer multiethnischen Gesellschaft einem großen, schwierigen Experiment gleicht. Ob es gelingt – die Verantwortung dafür liegt vor allem bei den Regierenden.